Der Koloss von Prora - Hier wohnten die Zwangsarbeiter. (Foto: 3quarks / iStock / Getty Images Plus)

Leben als Staatsfeind: DDR sperrte Pazifisten als Zwangsarbeiter weg

Wer in der DDR den Wehrdienst verweigerte, musste als Zwangsarbeiter leiden. Schikaniert, angebrüllt, niedergemacht: Thomas Weigel erzählt, wie er diese Hölle überlebte.

Thomas, du bist Autor des Buches „Ausgangssperre – Bausoldat im Koloss von Prora“. Erklär mal jüngeren Lesern: Was ist ein Bausoldat? Was verbirgt sich hinter dem Koloss von Prora?

Der Dienst als Bausoldat war in der DDR die einzige Möglichkeit, den Dienst mit der Waffe in der Armee zu verweigern. Man arbeitete nach einer militärischen Grundausbildung auf Baustellen und in Betrieben. Der Koloss von Prora ist ein riesiges, 4,5 Kilometer langes Gebilde auf der Ostseeinsel Rügen. Es war gedacht als ein Urlaubsareal für 20.000 Menschen in der NS-Zeit. Der Koloss wird jetzt saniert, in Ferien- und Eigentumswohnungen umgewandelt. Zu DDR-Zeiten wurde der Komplex militärisch genutzt.

Du hast den Armeedienst mit der Waffe verweigert und kamst dafür von November 1986 bis April 1988 auf die wunderschöne Ostseeinsel Rügen. Wie viel Urlaub atmete diese Zeit?

Prora war berüchtigt. Bausoldaten, die von dort zurückkamen, haben den Spruch geprägt: „Drei Worte genügen: Nie wieder Rügen!“ Die Kaserne lag nur 100 Meter vom malerischen Strand entfernt. Allerdings war der Strand Grenzgebiet. Den durfte man nicht betreten. Klar gab es Möglichkeiten, die Insel im Sommer hier und dort zu erkunden, aber der hohe psychische Druck ließ kaum Erholung zu.

4:00 Uhr war Arbeitsbeginn

Wie sah der Alltag im Koloss von Prora aus?

Sehr schematisch, sehr gleichförmig, sehr eintönig. Im Sommer wurden wir um 4:00 Uhr geweckt. Um 6:00 Uhr marschierte der ganze Trupp zum LKW und wir wurden zur Baustelle gefahren. Gegen 18:30 Uhr waren wir wieder in der Kaserne. Abendessen. Mit Leuten reden. Um 21:00 Uhr hieß es Bettruhe. Das ging bei manchen von Montag bis Sonntag, bei anderen auch mal zwei Wochen durch. Sehr überschaubar von den Abläufen.

Gearbeitet hast du tagsüber auf der Baustelle Mukran. Was verbarg sich dahinter?

Mukran war damals die größte Baustelle der DDR. Der Hafen nach Klaipeda (damals Sowjetunion, heute Litauen) wurde als Fracht-, aber auch versteckter Militärhafen gebaut. Damit wollte man den Weg über das politisch unsicher gewordene Polen umschiffen.

DDR trennte Väter von ihren Kindern

Das Verhältnis zu den Vorgesetzten muss man sich wie vorstellen?

Ich und viele andere wurden als 26-jährige, bereits berufstätige Familienväter mit zwei, drei Kindern fern der Heimat eingezogen. Die Offiziere, denen wir dann Gehorsam leisten mussten, kamen z.T. aus einfachen Verhältnissen, waren 18, 19 oder 20 Jahre alt. Den Befehlen dieser „Grünschnäbel“ hatten wir Folge zu leisten. Befehlsverweigerung zog strenge Strafen nach sich.

Deinen eindrücklichen Schilderungen spürt man ab: Junge Menschen bekamen dort nichts geschenkt. Im Gegenteil: Sie wurden schikaniert, angebrüllt, niedergemacht, verletzt. Schildere mal eine typische Situation.

Täglich galt es, auf dem 120 Meter langen Gang anzutreten. Beim Raustreten wurde man vor allen beschimpft und angebrüllt. Wenn man in den Ausgang gehen wollte, wurde die Rasur aufs Peinlichste überprüft, und ob die Schuhe geputzt waren. Doch selbst, wenn alles perfekt war, suchten und fanden die Offiziere etwas zu bemängeln. Zudem gaben uns die Vorgesetzten permanent zu verstehen, dass wir Christen zu den Staatsfeinden gehörten.

Offiziere bestraften Einzelne hart

Die Hauptfigur deines Romans, Bernd, kommt selbstbewusst nach Rügen, wird dann aber durch Vorgesetzte gebrochen. Passierte dies tatsächlich?

Es wurden immer wieder Einzelne herausgezogen, die man dann hart bestraft hat. Dies diente als wirkungsvolles Exempel für uns alle.

Unter Bausoldaten gab es verhältnismäßig viele Christen. Schaffte das einen besonderen Zusammenhalt?

Die Gemeinschaft der Christen aus ganz unterschiedlichen Glaubensrichtungen war schon etwas Besonderes. Uns einte der gemeinsame Feind, der christliche Glaube, die Idee von einem Frieden ohne Waffen.

Nur einmal die Woche raus aus der Kaserne

Wurden Gottesdienste und Bibelrunden von den Vorgesetzten gefördert?

(lacht) Sie wurden verhindert. Es wurde ganz klar gesagt: Hier ist hoheitliches Staatsgebiet. Religion hat hier nichts zu suchen. Viele unserer Vorgänger haben für den Ausgang gekämpft. So durften wir einmal (!) die Woche abends und manchmal sonntags raus. Dies nutzten viele, um einen Gottesdienst oder Hauskreis zu besuchen. In der Kaserne waren Glaubenstreffen tabu, trotzdem haben wir uns heimlich zu Gottesdiensten und Bibelstunden verabredet.

Eine Schlüsselszene des Buches ist die, als Bernds Frau mit Tochter überraschend anreist, ihn aber nicht zu Gesicht bekommt, weil dieser von seinem Vorgesetzten absichtlich mit einer Ausgangssperre belegt wird, infolgedessen ausrastet und mit Arrest bestraft wird. Hast du Ähnliches erlebt?

Zum Glück nicht, aber ich hatte Leute in meiner Kompanie, die für Lappalien hart bestraft wurden, einer sogar mit Militärgefängnis. Es gab Fälle, in denen Besuch abgewiesen wurde. Hämisch wurde den Bausoldaten gesagt: Ihr Besuch wird Sie leider heute nicht empfangen.

„Ich habe die Tage runtergezählt“

Was waren Momente, die dir Tränen in die Augen trieben? Wo warst du nahe dran, aufzugeben?

(zögernd) Belastend war für mich die geschilderte Gleichförmigkeit, das Weggesperrt-Sein. Ich habe versucht, mit viel Lesen und dem Kennenlernen der Leute dagegenzuhalten. Doch in den letzten Monaten ging mir die Kraft aus. Ich saß nur noch im Fernsehraum und sah DDR 1 und 2. Ich habe die Tage runtergezählt. Das war etwas, was ich von mir gar nicht kannte. Ich war psychisch auf dem Nullpunkt.

Das Bausoldat-Sein war kein Pfadfinderlager. Was hat dir Kraft gegeben, diese schwere Zeit auszuhalten?

Mein Glaube, die Stille, das Gebet. Der Austausch mit anderen Christen wurde mir zur Kraftquelle.

Keine Wiedergutmachung erfahren

15.000 junge Männer entschieden sich zwischen 1964 und 1990 aus Überzeugung für diesen schweren Weg. Damit entschieden sie sich auch gegen ein Studium und die damit verbundene Karriere. Ist den Bausoldaten nach der Wende Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung widerfahren?

Es gibt keine Rehabilitation in irgendeiner Weise. Da tun sich bei manchen im Rückblick auf den beruflichen Werdegang sicher auch schmerzliche Lücken auf. Trotz allem, die Zeit hat mich stark und fit gemacht fürs Leben. Das Bausoldaten-Sein hat auch Persönlichkeiten wie den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, den mitteldeutschen Bischof Friedrich Kramer oder Ex-Minister Wolfgang Tiefensee hervorgebracht.

Ist von daher alles gut?

Sicher nicht! Ich kenne Bausoldaten, die in der Zeit zerbrochen sind, bis heute psychische Probleme haben.

Kann es sein, dass sich hinter der Zustimmung im Osten für die AfD, Pegida & Co. auch ein gewisser Prozentsatz an Frust verbirgt, nach dem Motto: Wir haben unseren Kopf hingehalten, aber den Reibach haben die Mitläufer oder sogar die gemacht, die damals das Sagen hatten?

Wie heißt es so schön: Fett schwimmt oben! Das ist auch meine Erfahrung. Menschen, die im SED-Staat Karriere gemacht haben, haben diese in die Deutsche Einheit hinübergerettet. Ob das der AfD zugutekommt, kann ich nicht beurteilen.

Dankbar für kleine Freiheiten

Hier und dort wurde den fiesen Vorgesetzten ein Schnippchen geschlagen. Welche Aktion lässt dich heute noch schmunzeln?

(lacht) Ich freue mich heute noch darüber, dass es mir heimlich gelang, Kontakte zur evangelischen Jugend und einem Schachverein auf Rügen zu knüpfen. Dadurch war es mir möglich, Zivilklamotten außerhalb der Kaserne zu platzieren. Wenn ich Ausgang hatte, konnte ich in deren Wohnung die Uniform ausziehen, mich anschließend frei und zivil bewegen. Ich bin dankbar, dass diese „kleine Freiheit“ nie entdeckt wurde, ich nicht wie andere in Polizeikontrollen geriet und anschließend bestraft wurde.

Die Bausoldaten sind seit 31 Jahren nur noch ein Wimpernschlag der Geschichte. Warum ist es wichtig, ihre Geschichte 2021 noch zu erzählen?

Zum einen, weil erzählte Geschichte bildet und dankbar werden lässt. Zum anderen, weil diese Geschichten Mut machen, sich nicht mit Gegebenheiten abzufinden, sondern zum Aufstehen bewegen und dazu, für unsere Demokratie und die Glaubensfreiheit einzutreten. Bausoldaten waren sehr engagiert, als es um die Wende ging. Sie waren wichtig dafür, dass die neuen Länder in der Bundesrepublik ankamen

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Thomas Weigel ist Geschäftsführer vom netzwerk-m. Die Organisation verbindet christliche Jugend-, Sozial- und Missionswerke und Kirchen und begleitet jährlich über 800 junge Menschen in Freiwilligendiensten. Er lebt mit seiner Familie bei Kassel. Weigel ist Autor des Buchs „Ausgangssperre – Bausoldaten im Koloss von Prora“ (Concepcion Seidel).

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.