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Hebamme

Allein unter Frauen: Hebamme, 33, männlich

Kilian Lanig selbst hat keine Kinder, war aber schon bei etlichen Geburten dabei. Er ist Hebamme, eine von nur rund 50 männlichen in ganz Deutschland.

Von Nathanael Ullmann

Mittwochabend gegen 18 Uhr. Im Stützpunkt, dem Hebammen-Dienstraum des Uniklinikums Essen, herrscht Pausenstimmung. Kilian Lanig klönt mit einer Kollegin darüber, wie ihr Job ihnen keine Zeit für feste Hobbys lässt. Plötzlich gellt ein Schrei über den Flur: „Kilian!“ Ohne ein weiteres Wort springt er auf, rennt in Kreißsaal 2. Minuten der Unruhe. Dann drückt irgendwer den roten Knopf in der Mitte des Flures. „Das ist so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann“, raunt eine Kollegin.

Wenige Stunden früher, bei Dienstbeginn um 14 Uhr, weiß Kilian Lanig noch nicht, wie stressig sein Tag heute werden wird. Der 33-Jährige würde in einem Fitnessstudio nicht weiter auffallen. Haar und Bart trägt er kurz. Die fehlenden Zentimeter Körpergröße macht er durch die kräftigen Arme wieder wett. Was ihn zum Medienstar macht, ist sein Beruf: Er ist Hebamme. Und damit ein echtes Unikat. Gerade einmal 0,2 Prozent aller Hebammen in Deutschland sind männlich.

Allein mit sechs Frauen

Gerade sitzt Lanig im Hebammen-Stützpunkt des Kreißsaals im Essener Universitätsklinikum. Der Stützpunkt ist der Dreh- und Angelpunkt der Station. Bildschirme hängen überall an den Wänden, darauf etliche Graphen und Sperrbildschirme. Ein Schiebefenster dient als Rezeption. An der Rückwand hängt eine Plexiglasscheibe. Mit Filzstift haben die Mitarbeitenden hier die Daten der Patientinnen eingetragen: Alter, Schwangerschaftsmonat, verabreichte Medikamente und mehr. Eine glückliche Mutter hat als Dankeschön Muffins fürs Personal auf den Tisch gestellt. Ballende Hitze drückt durch die Fenster.

Mit Lanig sitzen sechs Frauen im Raum. Die Besprechung zum Dienstwechsel steht an. Im Schnelldurchlauf gehen die Anwesenden die werdenden Mütter durch. Für den Laien ist das Kauderwelsch. Von Simslage, RFI und präexistentem Hypertonus ist da die Rede. Der 33-Jährige nickt wissend.

80 Bewerbungen bis zum Ausbildungsplatz

Um seinen Beruf ausüben zu können, war es ein langer Weg. Eigentlich möchte Lanig die Praxis seines Vaters übernehmen. Vier Jahre lang studiert er Humanmedizin in Ungarn und der Slowakei. Zurück in Deutschland wird sein Studium nicht anerkannt. Er absolviert eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Auf der Wochenbettstation merkt er: Das ist seine Berufung. Also bewirbt er sich initiativ an Hebammenschulen. Über 80 Bewerbungen schreibt er, bis er in Bochum einen Platz erhält. Nun ist er seit einem Jahr voll examiniert. Er arbeitet selbstständig – aber fest mit der Uniklinik zusammen.

Der Weg hat sich gelohnt. Hier kann er Familien bei einer der wichtigsten Lebensphasen begleiten: „Da ist genau der Scheidepunkt“, sagt er. Denn nach einer Geburt sei nichts mehr so wie vorher. In seinem Job prägt er Familien für ein Leben.

Von Geburten scheint der heutige Tag allerdings weit entfernt zu sein. Lanigs Aufgaben bestehen erst einmal darin, Kardiotokografien, kurz CTGs, durchzuführen. Bei dem Verfahren misst er den Puls der Frau, den Puls des Kindes und die Wehentätigkeit. Das CTG-Zimmer liegt schräg gegenüber dem Stützpunkt. Der kleine Raum ist mit Ledersesseln und Liege rudimentär eingerichtet. Es riecht – wie überall sonst im Krankenhaus – nach Desinfektionsmittel. Hier versorgt Lanig die ersten Frauen. „Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“, fragt er – und legt mit gezielten Handgriffen die Sensoren auf den Bauch auf. Routine. Auch für die Frauen, die vor der Geburt regelmäßig zu der Untersuchung müssen.

Immer wieder steuert er zwischen den Visiten den Stützpunkt an. Hier dokumentiert er, welche Auffälligkeiten sich bei den Untersuchungen ergeben. Oder er quatscht mit den Kolleginnen. „Für uns ist das kein Unterschied, dass er ein Mann ist“, erzählt eine der Hebammen. Lanigs Geschlecht scheint auch bei den zu behandelnden Frauen keine Rolle zu spielen. Für Lanig ist das ein Erfolg: Er will einfach nur eine Hebamme sein und keinen Sonderstatus als Mann innehaben. Ein paar mehr seiner Art würde er sich in dem Beruf trotzdem wünschen. „Aber viele merken erst bei der Geburt ihres ersten Kindes, dass es diesen Job gibt. Und dann ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Umschulung.“

Zwischen Stress und Langeweile

Der Rhythmus im Kreißsaal ist außergewöhnlich. Immer wieder gibt es Phasen der Ruhe. Dann flirrt plötzlich die Luft. „Hier wird ein Arzt gebraucht“, heißt es dann im Flur. Wenige Minuten später ein erleichtertes: „Das Kind ist da!“ Mal hallen in den Fluren die Schreie der Mütter in Wehen wider. Mal ist es still. Geburten lassen sich eben nicht planen.

Kilian Lanig kennt auch andere Tage. Ganze Schichten hat er schon damit verbracht, bei einer Geburt zu unterstützen. Als Hebamme muss er darauf achten, dass sich Mutter und Kind so wohl wie möglich fühlen. Doppelte Verantwortung also. Auch zu den Vätern hat er oft einen besonderen Draht – ein Vorteil männlicher Hebammen. Er hat ein Auge darauf, dass das Kind weder zu langsam noch zu schnell den Weg nach draußen findet. Und er hat den Blick auf die Nachgeburt und die Nachblutungen. Wenn Schmerz sich in Euphorie wandelt und das Kind da ist, ist das immer ein erhebender Moment: „Das sind Situationen, die mich zu Tränen rühren.“

Aber die Hebamme begleitet auch die Eltern, bei denen die Geburt nicht so fröhlich verläuft. Sternenkinder sind immer noch ein Tabuthema – zu Unrecht, wie Lanig findet. Das große Unglück hat er schon gesehen. Kinder, die noch leben, wenn sie aus dem Mutterleib kommen, aber nur zehn oder 20 Minuten auf dieser Welt haben. Oder ein kleiner Spatz, kaum größer als seine Hand, der vergeblich nach Luft ringt. „Dann heule ich selbst mit“, sagt er. Weihwasser für Bedarfstaufen steht im Kreißsaal bereit. Auch die Kontaktdaten ehrenamtlicher Sternenkindfotografen haben die Hebammen. Nach solchen Fällen geht der Katholik in eine Kirche – und zündet eine Kerze für die Verstorbenen an.

Mittlerweile ist es Abend und nichts deutet darauf hin, dass solche Schicksalsschläge heute der Fall sein könnten. Lanig hat mehrere CTGs bei den Müttern durchgeführt, ein paar Medikamente verabreicht, ein Bett neu bezogen. Die eigentlichen Kreißsäle – drei an der Zahl entlang eines langen Flurs – sind besetzt. In einem wird gerade eine Mutter per CTG überwacht, in einem anderen wartet eine Frau verzweifelt darauf, dass sich ihr Muttermund weiter öffnet. Wer vorbeigeht, sieht die Damen durch einen Spalt in der Tür. Mal sitzen sie auf ihren Sesseln, mal liegen sie auf dem voluminösen Stuhl, der dem eines Gynäkologen gleicht.

Die Hebamme sitzt wieder im Stützpunkt und wartet auf den Sushi-Lieferanten. Eigentlich würde heute nichts Aufregendes mehr passieren, sagt er gerade noch. Wie falsch er liegt. Denn wenige Momente später ist die Luft urplötzlich eine andere. Sobald der Schrei „Kilian“ ertönt, schlägt die Atmosphäre um. Menschen in Kitteln laufen hektisch über die Flure. In Kreißsaal 2 werfen sich Expertinnen und Experten schnelle Anweisungen zu. „Aus dem Weg!“, raunt eine Ärztin. Vier Minuten der Anspannung. Dann hallt es: „Drück den Knopf!“ Und noch einmal: „Positiv!“

Plötzlich Notkaiserschnitt

Vor einigen Stunden hat Lanig noch erklärt, was der rote Buzzer in der Flurmitte zu bedeuten hat, über dem „Notfall – Missbrauch strafbar“ steht. Wenn er gedrückt wird, heißt das: Notsectio – Kaiserschnitt. Binnen 180 Sekunden sei das Kind dann aus dem Leib der Mutter geholt, lobt die Hebamme. Sie hat nicht gelogen.

Sobald der rote Knopf gedrückt ist, beginnen die Telefone im Stützpunkt wie wild zu läuten. Wenige Sekunden später wird die Mutter auf einer Liege durch den Flur geschoben. Um sie herum laufen mehrere Menschen – unter anderem Kilian Lanig. Das Team verschwindet im OP-Saal. Hier hat nur das Klinikpersonal Zutritt. Wenige Minuten der höchsten Anspannung. Dann taucht die Hebamme wieder im Stützpunkt auf. Die Erschöpfung steht Lanig ins Gesicht geschrieben. „Dem Kind geht es gut“, sagt er. Im Hintergrund ist Babygeschrei zu hören. Der neue Erdenbürger ist jetzt bei seinem Vater in Kreißsaal 2. Jetzt erfolgt die detaillierte Erklärung: Der Herzschlag des Kleinen war plötzlich stark verringert – und das vier Minuten lang. Laut Protokoll heißt das: Kaiserschnitt. Für die Anwesenden ist das kein glücklicher Moment. Denn die Mutter erlebt das wichtige Ereignis nur unter Vollnarkose. Aber hier ging es um Lebensgefahr für das Kind.

Trotz solcher Momente will Kilian Lanig unbedingt selbst noch Vater werden. Vier Kinder, das ist sein Traum. „Kinder sind das Schönste auf der Welt“, sagt er. Und „auf alle Fälle ein Schöpfungswunder“. Mit seiner Partnerin habe er den Kinderwunsch auch direkt beim ersten Date geklärt. Nur, ob er die Geburten selbst durchführen will, weiß er noch nicht so recht. Können täte er es zumindest.

Nathanael Ullmann (32) ist Referent für Medien und Öffentlichkeitsarbeit im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland und ausgebildeter Theaterpädagoge.

Stress lass nach! Symbolbild: Getty Images / filadendron / Getty Images E+

Stress lass nach! So gelingt ein gesunder Umgang mit Stress

„Ich bin im Stress!“, antworten wir manchmal voreilig auf die Frage, wie es uns geht. Aber was ist Stress eigentlich? Und vor allem: Was hilft wirksam gegen Stress?

STRESS IST NICHT NUR EIN WORT

Ständige Beschleunigung und eine wachsende Unsicherheit über den Erfolg der Arbeit sind die beiden hervorstechenden Merkmale der modernen Arbeitswelt. Die klare Vorstellung eines „Tagwerkes“ stand in der vorindustriellen Gesellschaft noch für ein Zeitmaß und gesundes Tagesziel, nämlich für die Ackerfläche, die ein Mensch an einem Tag bearbeiten konnte. Heute ist unsere Arbeitswelt von Unsicherheit geprägt, Ziele sind häufig vage und widersprüchlich, die wirtschaftlichen und technischen Zusammenhänge und die Zusammenarbeit im Team immer öfter komplex.

Diese vier Phänomene, Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität, sind die Säulen einer Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftwelt, die deswegen auch VUKA-Welt heißt. Jeder dieser Faktoren aber steigert die Unsicherheit für erfolgreiches Handeln, die Möglichkeit eines Scheiterns oder Versagens und das macht Angst. Aber Angst ist nicht nur Gift für effektives Arbeiten, Angst ist auch Gift für unseren Körper und das liegt genau an der biologisch uralten Stress-Reaktion, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben.

WAS IST STRESS?

Stress hatten schon die Neandertaler und unsere Vorfahren die Ur-Menschen, nur der Begriff dafür ist modern. Dieser kam so richtig erst Anfang des 20. Jahrhunderts auf, wurde dann aber immer populärer bis er dann in den neunzehnachtziger Jahren „viral ging“. Zu dieser Zeit unterstrichen manche ihre eigene Wichtigkeit und Geschäftigkeit mit dem Spruch „Ich bin im Stress“.

Mit „Stress“, einem Begriff aus der Werkstoffkunde, bezeichnete der Mediziner Hans Selye in den 1930er Jahren die unwillkürlichen Reaktionen des menschlichen Körpers auf Bedrohungen und Belastungen. Diese Reaktion hatte zuvor der Biologe Walter Cannon nach ihrem Zweck als Kampf-oder-Flucht-Reaktion beschrieben.

Wenn wir im Alltag von Stress reden, meinen wir aber selten die Lawine von Stoffwechselveränderungen, die unser Gehirn in der Folge von Bedrohungsreizen durch unser autonomes Nervensystem und eine Flut von Hormonen in Gang setzt.

ALARMSIGNALE ALS STRESS-AUSLÖSER: STRESSOREN

Wir meinen eher die auslösenden Reize, die sog. „Stressoren“ oder Stress-Faktoren. Dies sind 21. Jahrhundert nicht mehr der Anblick eines Säbelzahntigers, wie bei den Urmenschen, und auch seltener reale Bedrohungen. Heute spielen äußere und innere mentale Bedrohungsszenarien eine größere, aber nicht weniger schädliche Rolle.

Die Psychiater Holmes und Rahe stellten schon 1967 eine Liste von 43 Faktoren zusammen. Darunter stellt nur einer, nämlich eine Verletzung oder Krankheit, eine reale Bedrohung dar. Den größten, fast doppelt so großen, Stress verursacht dagegen der Tod des Lebenspartners. Selbst erfreuliche Ereignisse wie Familienzuwachs oder ein großer persönlicher Erfolg und die damit verbunden Veränderungen können Stress auslösen.

Dabei ist die Stressreaktion nicht immer ein negativer „Disstress“, wie es Selye nannte. In einer realen Bedrohung ist die Stressreaktion angemessen und ermöglicht Flucht oder Kampf. In der richtigen Dosis verhilft sie als „Eustress“ bei Herausforderungen wie einem sportlichen Wettkampf, auf einer Bühne oder in einer Prüfungssituation sogar zu Höchstleistungen. Mehr noch, wenn wir große Herausforderungen als bewältigbar und uns selbst als handlungsfähig empfinden, erleben wir in optimalen Fall sogar ein positives „Aufgehen im Tun“. „Flow“ nennt der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi diesen Zustand und das damit verbundene nachfolgenden Glücksgefühl.

Unserem Gehirn und unserem Körper aber sind die Feinheiten dieser Stressoren jedoch ziemlich egal: Reiz-Verarbeitung und die Reiz-Reaktion laufen im Wesentlichen immer gleich ab. Egal, ob es sich um eine unmittelbare Gefahr, eine mittelbare Bedrohung, eine Angst oder eine Herausforderung handelt.

DIE STRESS-REAKTION: UNSER BIOLOGISCHES ERBE

An Anfang der Stress-Reaktion steht die Überraschung. Unser Körper und unsere Psyche sind biologisch auf möglichst gleichförmige Rahmenbedingungen ausgelegt: Solange in unserer Umgebung scheinbar alles gleich abläuft, bleiben Körper und Geist in Ruhe. Sobald aber markante Veränderung auftreten, etwa laute Geräusche, grelle Lichtblitze oder plötzliche Stöße, bewertet unser Nervensystem diese Reize, bevor wir die Situation überhaupt bewusst erfassen.

Verantwortlich dafür ist im Gehirn die Amygdala, der Mandelkern. Sie überprüft blitzschnell alle Reize auf die Frage „Will mich hier etwas fressen oder gibt es hier etwas zu fressen?“ Hat die Amygdala eine scheinbare Gefahr erkannt (wobei sie hier aus Überlebensgründen pessimistisch vorgeht) stößt sie über das autonome Nervensystem und Hormone wie das Adrenalin und Cortisol die körperliche Stress-Kaskade an:

  • der Herzschlag beschleunigt sich
  • der Blutdruck steigt
  • die Muskeln werden stärker durchblutet
  • Blutzucker wird freigesetzt
  • die Verdauung wird gehemmt

Der Körper macht mobil für eine physische Höchstleistung. Ist er in einer realen Gefahr, dann hat er danach alle Ressourcen parat, um zu fliehen oder ihr entgegenzutreten: Maximale Energie und Fokus.

Doch reale Gefahren sind heute viel seltener. Unsere häufigsten Stressoren sind andere.

STRESS-REAKTION IM 21. JAHRHUNDERTS

Die Anzahl der Konfrontationen mit Säbelzahntigern beträgt heutzutage null, nicht aber die mit Terminen, Problemen oder Mitmenschen. Natürlich gibt es auch heute noch grundlegende äußere und innere Stressoren. Umweltfaktoren wie extreme Temperaturen, schwierige Arbeitsbedingungen, zwischenmenschliche Probleme, finanzielle Sorgen oder dramatische Lebensereignisse oder körperliche und seelische Beschwerden und Krankheiten.

Dagegen ist das Spektrum der externen und internen Stressoren breiter geworden: Straßenlärm, Luftverschmutzung, Anonymisierung von Leben- und Arbeitswelt, zwischenmenschliche Konflikte oder Arbeitsplatzunsicherheit, besonders aber alle Formen von Arbeitsverdichtung, Vertriebsdruck oder erfolgsunsicherer Entwicklungsarbeit usw.

Diese „neuen“ Stressoren haben so zugenommen, dass sich laut einer deutschen Studie aus 2016 etwa 82% der Menschen zwischen 30 und 39 regelmäßig gestresst fühlten. Die häufigsten Ursachen dabei waren:

  • die Arbeit
  • hohe Ansprüche an sich selbst
  • Termine und Verpflichtungen in der Freizeit
  • Straßenverkehr
  • Ständige Erreichbarkeit

Mobilität, Vernetzung und die Vielfalt einer multi-kulturellen, multi-optionalen Welt verursachen immer häufiger soziale Konflikte. In der Arbeit wachsen Unsicherheit, Zeitdruck und Verantwortung. Familiäre Bindungen werden überdehnt. Hinzu kommen immer höhere eigene und fremde Ansprüche, Perfektionismus und die immer anspruchsvolleren Ziele einer global vernetzen Gesellschaft, die Sorgen, Selbstzweifel und negative Gedankenmuster befeuern können.

WAS BEWIRKT DAUER-STRESS?

Mit Stress in Maßen kommen unser Körper und unsere Psyche eigentlich ganz gut klar: Die Stress-Reaktion soll ja ein Überleben in Notsituationen überhaupt erst ermöglichen. Doch auch hier liegt der Unterschied zwischen Medizin und Gift in der Dosis.

Die Notfallmaßnahmen, die unser Körper einleitet, um eine körperliche Maximalleistung zu ermöglichen, sind nicht geeignet für die Anforderungen einer sitzenden Tätigkeit. Ein Blutzuckerspiegel, Atemrhythmus und Herzschlag, der uns zu einem Hochleistungsprint befähigen würde, und eine Tunnelwahrnehmung, bei der unser Denken weitgehend ausgeschaltet sind, sind für eine Büro- oder Kreativtätigkeit kontraproduktiv und dauerhaft schädlich.

Unserem Körper ist das aber egal. Er durchläuft bei anhaltenden Stressoren immer wieder die unmittelbare Alarmreaktion und geht nach einiger Zeit in eine Widerstandsphase über, um sich an den chronischen Stress anzupassen, bis schließlich eine Erschöpfungsphase erreicht wird, in der das Immunsystem und die Psyche angegriffen werden. Die Folgen sind ein Spiegel der fortwährenden Notfallmaßnahmen:

  • Angstzustände bis hin zu Depression und Burn-out
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Verspannungen und Kopfschmerzen
  • Atemnot / Asthma
  • Krankheiten der Verdauungsorgane

ERSTE HILFE GEGEN STRESS

Was aber hilft uns gegen dieses biologisch-festgelegte düstere Horror-Szenario?

Eines vorweg: Hinter individuellem Stress-Erleben können auch medizinische und soziale Gründe stehen, die professionelle Hilfe erfordern: Wenn einer dauerhaften Überforderung eine reale Depression zugrunde liegt, objektiv überfordernde Arbeitsbedingungen einen Burn-out befördern, eine toxische Beziehung Dauerstress auslöst oder im Arbeitsumfeld Mobbing durch ein Team oder eine Führungskraft auftritt. Im Verdachtsfall ist daher das Gespräch mit medizinischen, psychologischen oder arbeitsrechtlichen Fachkräften unersetzlich.

Sonst hilft uns das Wissen und das Verständnis über diesen biologischen Vorgang. Unsere moderne Arbeitswelt ist gerade einmal hundert, vielleicht 200 Jahre alt. Unser Körper aber ist für Lebensumstände optimiert, die über viele tausend Jahre grundlegend die gleichen waren. Entsprechend helfen folgende Sofort-Maßnahmen.

  • Stress ausagieren. Die Aktivierung, der Blutzucker und das Adrenalin wollen genutzt und verbraucht werden. Bitten Sie die Menschen im Umfeld um einen „timeout“ und verschaffen Sie sich Bewegung. Dazu gehört auch jede Form von „Ausgleichssport“ nach der unmittelbaren Stress-Situation. Dadurch kann sich der Körper wieder regulieren und entspannen.
  • Stress wegatmen. Klingt komisch, funktioniert aber, denn durch bewusstes Atmen können wir den Para-Sympatikus aktivieren, einen wichtigen Teil des autonomen Nervensystems, der die Stress-Reaktion wird „einfängt“.
    US-Marines, die häufig realen Bedrohungen ausgesetzt sind, haben dazu das „Box-Breathing“ entwickelt: Im Abstand von jeweils vier Sekunden atmen Sie dazu ein, halten die Luft an, atmen aus, halten wieder die Luft an und beginnen dann von vorn. Das ruhige regelmäßige Atmen dient dabei als Botschaft an unser Hirn, dass doch alles in Ordnung ist und wir nicht hechelnd vor einer Bedrohung flüchten müssen.
    Noch einfacher geht es mit der Methode des Stanford-Psychologen Andrew Huberman: Zweimal unmittelbar nacheinander durch die Nase einatmen und dann durch den Mund „seufzend“ ausatmen bis die Lungen ganz geleert sind. Dieses Atemmuster tritt beim Schlafen auch spontan auf und heißt daher „Physiologisches Seufzen“ („physiological sigh“). Es versorgt den Körper wieder mit Sauerstoff und beruhigt buchstäblich die Nerven des autonomen Nervensystems.
  • Stressoren wahrnehmen. Wir reagieren individuell unterschiedlich auf Stressoren. Mentale Stabilität ist zum Teil auch ein Persönlichkeitszug, zum Teil können wir unsere Stress-Resistenz oder Resilienz auch trainieren. Grundlage ist dazu, die persönlichen Trigger zu erkennen. Dann können wir uns selbst und unser Umfeld besser steuern, Prioritäten und Grenzen so setzen, dass die Stress-Reaktion gar nicht erst einsetzt.
  • Stress-Situationen kommunizieren. Heutzutage entsteht Stress in besonders hohem Maße in sozialen Situationen. Daher hilft es mit den Menschen in unserem Umfeld zu sprechen, wie wir akute Stressoren reduzieren, regulieren oder ausschalten können.

Der beste Stress aber ist der, den wir gar nicht erst haben. Darum ist die beste Mittel gegen Stress das aktive Gestalten des eigenen Lebensstiles.

VOM OPFER ZUM SCHÖPFER

Dazu helfen Bewegung und Entspannung, um uns körperlich in die Lage zu versetzen, mit Stress-Situationen besser umzugehen. Letzteres hat den zusätzlichen Vorteil, dass auch die schädlichen Auswirkungen unseres häufig sitzenden Lebensstils entgegengewirkt wird (s. „Sitzen ist das neue Rauchen“). Gesunde Ernährung statt Junk Food, Zuckerzeug oder Alkohol vermeidet „oxidativem Stress“ im Körper, der auch die Psyche belastet.

Entspannungstechniken oder Achtsamkeitsübungen können die Bereitschaft des Körpers zur Stress-Reaktion weiter reduzieren.

Positive Beziehung und Mitgefühl helfen stark Stress abzubauen und in Schach zu halten. Teilen Sie Emotionen, Sorgen und Ängste mit ihren Mitmenschen. Klagen sie ruhig! Doch auch das dosiert: Lassen Sie zügig den Druck ab und formulieren Sie dann lösungsorientiert ihre Probleme.

Auch die Techniken der Positive Psychologie sind hilfreich, zum Beispiel ein Dankbarkeitstagebuch oder das Schreiben von Selbst-Empathie-Briefen und positiven Zukunftsbilder (s. Happiness-Workout). Sie helfen positive Gefühlszustände zu aktivieren, die eigene Selbst-Wirksamkeit zu erkennen und die persönlichen Stärken, Optimismus und Zuversicht zu stärken. Auf dieser Basis können wir durch positives Zeit- und Selbstmanagement Ziele, Prioritäten und Grenzen so setzen, dass wir immer öfter in unsere Flow-Zone als unserer Stress-Zone agieren.

Die Psychologie Barbara Fredrickson hat herausgefunden, dass durch häufigere positive Unterbrechungen eine Gegenbewegung zu Stress, Überlastung und Burn-out in Gang kommt. Nach dieser Broaden-and-Build-Theorie kommt es sogar zu einer Erweiterung unserer Wahrnehmung für unsere eigenen Ressourcen, Gestaltungsmöglichkeiten und wirkt so nachhaltig gegen Stress.

Und wer unmittelbar nach einem Stressor süße Tierbilder ansieht oder herzlich über einen Witz des persönlichen Lieblingscomedians lacht, der kann sogar einen „Undo-Effekt“ erleben, bei dem das positive Gefühl das Stress-Erleben „überschreibt“.

POSITIVE LEADERSHIP

Zum Schluss: Stress ist keine Privatsache. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht darin das Zeitphänomen einer Gesellschaft, die versucht „möglichst viele Optionen zu realisieren aus jener unendlichen Palette der Möglichkeiten, die die Welt uns eröffnet“.

Auch in der Arbeitswelt sind Arbeitsverdichtung, anspruchsvolle Ziele, Rationalisierung, Automation und beständiger Wandel kein Naturgesetz wie die Schwerkraft. Sie sind das Resultat unternehmerischer Entscheidungen.

Führungskräfte und Mitarbeitende können durch Positive Leadership und Feelgood Management gemeinsam ein angstfreies menschenfreundliches Arbeitsumfeld gestalten – durch positive Kommunikation und Beziehungen, positives Klima und Sinnerleben im Unternehmen. Vertrauen, Offenheit, Feedback und Fehlertoleranz, Rollen- und Zielklarheit, gegenseitige Unterstützung schaffen dabei psychologische Sicherheit.

Je positiver und angstfreier das Arbeitsumfeld gestaltet ist, umso weniger Boden hat der Stress zu gedeihen, und wo der nicht überhandnimmt, können Menschen auch produktiv, glücklich und gesund arbeiten. So profitieren alle, die Einzelnen und das Unternehmen, von einem gesunden Umgang mit Stress.

Michael Stief (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Michael Blume (Foto: SCM Bundes-Verlag / MOVO / Rüdiger Jope)

„Jedes Leben zählt!“: Der Mann, der 1.000 Menschen rettete

Michael Blume hat 1.000 jesidischen Frauen und Kindern geholfen, aus dem Nordirak zu fliehen. Wie kam es dazu?

Herr Blume, am 23. Dezember 2014 bekamen Sie aus dem Auswärtigen Amt und dem Innenministerium in Berlin „gelbes Licht“ für welche Aktion?

Michael Blume: Das Land Baden-Württemberg dürfe 1.000 jesidische Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufnehmen, die sich auf der Flucht vor dem IS befanden. Allerdings war es nur „gelbes Licht“, weil die sagten: „Wir spielen doch nicht den Buhmann und verbieten eine humanitäre Aktion. Macht es, aber bitte auf eigene Verantwortung und auf eigenes Risiko!“

Welche Frage stellte Ihnen Ministerpräsident Winfried Kretschmann daraufhin?

Blume: Er fragte mich: „Würden Sie es denn machen, Herr Blume?“

Sie kamen sich vor wie im Film „Schindlers Liste“. Sie besprachen diesen wahnsinnigen Auftrag mit Ihrer Frau. Sie schaut Ihnen in die Augen und sagt?

Blume: Meine Frau ist Muslimin. Sie schämte sich sehr, was der IS im Namen ihres Glaubens da im Irak anrichtet. Sie brach in Tränen aus, sagte dann aber: „Wir glauben beide, dass Gott uns einmal fragen wird, was wir mit den Elenden vor unserer Tür gemacht haben. Michael, mach es! Jedes Leben zählt!“ Wir hatten drei kleine Kinder. Sie hat die 14 Dienstreisen über 13 Monate in den gefährlichen Irak mitgetragen.

Waren Sie schon immer so ein tapferer und cooler Mann?

Blume: (schmunzelt) Nein! (lacht) Ich war für Mädels nicht cool, nicht chic, nicht so richtig vorzeigbar. Meine Familie stammt aus der ehemaligen DDR. Mein Vater hat Stasihaft und Folter erlitten. Ich bin daher mit einer tiefen Dankbarkeit gegenüber unserem Rechtsstaat und den Menschenrechten aufgewachsen. Dazu kam, dass ich als Jugendlicher einen Sinn im christlichen Glauben gefunden habe. Die glückliche Beziehung mit meiner Frau hat mich zum Mann reifen lassen.

„Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können“

Was hat Ihnen geholfen, Ihr Potenzial zu entfalten?

Blume: (spontan) Unbedingt geliebt, ein Kind Gottes zu sein, aber eben auch das Wissen und die Erfahrung: Ich bin nicht unfehlbar, ich darf auch scheitern. Der Rückhalt meiner Frau, die mir in dieser schwierigen Entscheidung vermittelt hat: Es lohnt sich, sein Bestes zu geben. Sie hatte verstanden: Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können.

Sie retteten mit einem kleinen Team über 1.000 Jesidinnen das Leben. Sie setzen sich ein für Geschundene, Geflüchtete … Ist dies in Ihrer DNA angelegt, weil Ihr Vater in der DDR im Knast saß, Ihre Eltern aus der DDR flüchten mussten?

Blume: Unbedingt. Als Jugendlicher habe ich eine große Politikverdrossenheit um mich herum erlebt. Dies hat mich unglaublich geärgert. Wir Menschen, die wir im Wohlstand und in Freiheit aufwachsen, tendieren leicht dazu, dies zu verachten, nicht mehr wertzuschätzen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir in einer Demokratie leben, dass wir Menschenrechte haben, dass Mädchen die Schule besuchen dürfen und Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Dafür sollten wir kämpfen! Mein Vater hat Folter ertragen, weil er wollte, dass seine Kinder einmal in Freiheit aufwachsen. Wer bin ich, der ich dieses Geschenk der Freiheit wegwerfen würde oder anderen vorenthalte?

Nadia Murad, eine der Jesidinnen, die Sie gerettet haben, erhielt im Dezember 2018 den Friedensnobelpreis. Welches Gefühl löste dies in Ihnen aus?

Blume: Ich war mit Ministerpräsident Kretschmann bei der Verleihung in Oslo dabei. Das war sehr bewegend. Nadia selber war zuerst gar nicht so glücklich darüber, weil ihr damit klar war: Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückziehen, jetzt muss ich ein Leben lang eine öffentliche Rolle einnehmen. Sie, diese tapfere Frau, hat dieses Geschenk, aber eben auch diese Herausforderung dann angenommen und der freien Welt signalisiert: Frauenrechte sind nicht selbstverständlich und gerade wir Männer sollten dafür einstehen.

Beinahe-Antisemitismus-Skandal: „Das wird eine heftige Geschichte“

Sie brechen als junger Mann ein Volkswirtschaftsstudium ab, um Religionswissenschaften zu studieren. Mit einem Aufsatz über Ihre Biografie als „Wossi“ gewinnen Sie einen Preis. Die Stuttgarter Zeitung veröffentlicht einen Artikel über Sie. Diesen Beitrag liest …?

Blume: (lacht) … Staatsminister Christoph Palmer. Ich hatte damals einen Beitrag zum Thema „Heimat und Identität“ eingereicht. Damit gewann ich einen Preis als einziger Deutscher ohne Migrationshintergrund, wenn wir die DDR nicht mitzählen. Palmer hat mich dann von der Universität direkt ins Staatsministerium geholt.

Am 11. April 2007 sagte der damalige württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger in Freiburg auf der Beerdigung von Hans Filbinger, einem seiner Vorgänger, den Satz: „Filbinger war kein Nationalsozialist. Es gibt kein Urteil von ihm [Anm.d.Red.: Er war NS-Marinerichter], durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte.“ Warum wurde Ihnen da mulmig?

Blume: An der Rede war ich nicht beteiligt. Als ich sie hinterher hörte – heute würde sie ja sofort im Internet stehen –, war klar: Das wird eine heftige Geschichte. Diese Aussage könnte ihn sein Amt kosten. Man soll ja über Verstorbene nichts Böses sagen, aber hier war eine Grenze überschritten worden, eine Umdeutung passiert. Unbestrittene Tatsache ist: Filbinger hat noch in den letzten Kriegstagen Menschen zum Tode verurteilt.

Wie haben Sie die politische Kuh vom sprichwörtlichen Eis bekommen?

Blume: Ich habe Günther Oettinger geraten, den Vorwärtsgang einzulegen, nicht darauf zu warten, dass die medialen Rücktrittsforderungen abebben. Wir sind zur jüdischen Gemeinde Stuttgart gefahren, haben mit dem Zentralrat der Juden direkt gesprochen. Die jüdischen Gemeinden wussten, dass Oettinger ein feiner Kerl und kein Antisemit ist, aber die mediale Dynamik hätte alle zermalmen können. Der Ministerpräsident bedauerte den Fehler, die jüdische Gemeinde zog die Rücktrittsforderung zurück.

Und Sie bekamen ein Dankeschön der Kanzlerin?

Blume: (lacht) Sie haben sich aber gut informiert! Ja. Angela Merkel rief Günther Oettinger über mein Handy an. Ich konnte meinen Teil tun.

Sie sind Mitglied der CDU. Was bedeutet Ihnen das C? Und wie kam es dazu, dass Sie für eine Landesregierung arbeiten, in der die Grünen am Ruder sind?

Blume: Das Christliche ist mir zentral wichtig. Auch als Entlastung von Politik, weil sie nicht versuchen sollte, ein Paradies auf Erden zu schaffen. Ministerpräsident Kretschmann hat ein Faible für das C. Das verbindet uns. Als er gewählt und sein Vorgänger Stefan Mappus abgewählt war, fragte er mich, ob ich trotzdem bleiben würde. Ich sagte ihm zu, wenn er die zwei Mitarbeiterinnen mit übernehmen würde, die für mich bis dahin gearbeitet haben. Er hat seinen Teil eingehalten und ich den meinen. Wir arbeiten bis heute sehr vertrauensvoll zusammen. Ich stelle immer wieder fest: Viele Grüne schätzen es, wenn sie mit einem Christdemokraten zu tun haben, der sein Parteibuch nicht taktisch versteckt, wenn es der Karriere schädlich sein könnte, sondern zu seinen Werten steht.

„Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer“

Sie sind heute Antisemitismusbeauftragter. Wie würden Sie einem Kind diesen Beruf erklären?

Blume: Das Judentum war die erste Religion, die mit dem Alphabet geschrieben hat. Deshalb denken viele Menschen, dass die Juden besonders schlau seien und die Welt kontrollieren. Ich würde dem Kind dann sagen: Niemand kontrolliert die Welt außer Gott. Ich gewinne Menschen dafür, sich zu bilden und zu lernen und keinen Hass auf eine Gruppe oder Religion zu haben.

Was ist Antisemitismus?

Blume: Antisemitismus ist eine Form von Menschenfeindlichkeit, die immer mit Verschwörungsmythen verbunden ist. Im Antisemitismus wird behauptet, Juden seien besonders schlau, reich und mächtig. Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer. Sie sind deshalb auch zur Radikalisierung und Gewalt bereit.

Warum trifft es durch die Jahrhunderte und viele Kulturen hindurch immer wieder die Juden?

Blume: Weil sie die erste Religion der Schrift waren. Im ersten Buch Mose heißt es: Der Mensch sei im Bilde Gottes geschaffen. Daraus entsteht der Begriff der Bildung, der unsere europäische Kultur entscheidend geprägt hat. Die Idee, dass wir einmal in einer Welt leben, in der jedes Mädchen, jeder Junge lesen und schreiben kann, entstammt dem Judentum. Deshalb konnte der zwölfjährige Handwerkersohn Jesus drei Tage im Tempel mit den Schriftgelehrten diskutieren.

„Bekämpft Antisemitismus für eure eigene Zukunft!“

Ist Antisemitismus mehr als Hass auf Juden?

Blume: Rabbiner Lord Jonathan Sacks formulierte es so: „Dieser Hass beginnt immer bei den Juden, endet aber nie bei ihnen.“ Er setzte sich im Dritten Reich bei den Sinti und Roma oder den Homosexuellen fort. Im Islamischen Staat setzte sich dieser Hass gegen Jesiden, Wissenschaftler und Journalisten fort. Ich sage daher: Bitte bekämpft den Antisemitismus nicht nur den jüdischen Menschen zuliebe, sondern für eure eigene Zukunft! Wer glaubt, dass die Gesellschaft von der Verschwörung gesteuert wird, ist zur Demokratie nicht mehr in der Lage.

Es heißt, der Antisemitismus in Deutschland nehme wieder zu. Ist dies auch Ihre Feststellung?

Blume: Jein. Nach allen Daten, die uns vorliegen, nimmt die Zahl der Antisemiten weiter ab. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Die Menschen, die antisemitisch agieren, haben aber das Internet, und damit nimmt ihre Radikalisierung und Gewaltbereitschaft zu.

Was können wir gegen Antisemitismus tun?

Blume: Wir sind gefragt, zuzugeben, dass wir nicht alles wissen. Verschwörungsmythen geben eine scheinbar einfache Erklärung. Wenn ich sage, diese Verschwörer sind schuld, habe ich eine vermeintliche Erklärung für COVID-19, die Klimakrise, den Krieg in der Ukraine. Stattdessen zu sagen: Ich weiß, dass wir Männer die Wahrheit nicht mehr besitzen, sondern Unsicherheiten aushalten müssen – diese Stärke wünsche ich mir von uns Männern. Lebenslange Bildung macht uns stark gegen Antisemitismus.

Wann haben Sie als Beauftragter einen guten Job gemacht?

Blume: Wenn ich eingeladen werde, Menschen an diesem Thema Interesse zeigen, ich dafür sorgen kann, dass Menschen gar nicht erst zu Antisemiten werden. Jede Seele zählt.

„Die vernünftige Mitte bricht zusammen“

Sie differenzieren zwischen Verschwörungsmythen und Verschwörungstheorien. Warum?

Blume: Theorie ist ein Begriff aus der Wissenschaft. Verschwörungsmythen wollen nur Schuldige benennen. Das waren im Mittelalter die Hexen, heute werden die Zugewanderten als Invasoren betrachtet oder man wirft Frauen vor, dass sie für niedrige Geburtenraten sorgen. Wir müssen ertragen, dass sich die Welt nicht in gute und böse Gruppen spalten lässt, dass wir herausgefordert sind, das Böse in uns zu bekämpfen.

Warum haben Verschwörungsmythen und Fake News derzeit so Hochkonjunktur?

Blume: Immer dann, wenn neue Medien auftreten, haben wir eine Explosion von Verschwörungsmythen. Der Hexenwahn war nicht im vermeintlich finsteren Mittelalter, sondern fand vom 15. bis zum 18. Jahrhundert statt. Heute werden in 44 Ländern der Erde Frauen als Hexen verfolgt. Immer dann, wenn neue Medien wie Buchdruck oder elektronische Medien an Bedeutung gewinnen, ergeben sich unendliche neue Chancen für Bildung, aber es tauchen eben auch wieder alte Vorwürfe auf. Das erleben wir gerade mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit.

Sehen Sie einen Zusammenhang von zurückgehenden Kirchenmitgliedszahlen, einem schwindenden Glauben in der Gesellschaft und einer Zunahme von Mythen?

Blume: Ja. Unbedingt. Wir erleben leider in allen Religionen das Phänomen, dass die vernünftige Mitte zusammenbricht. Es wird die Religionslosigkeit propagiert. Es gibt immer mehr säkulare Menschen. Diese stehen den religiösen Dualisten gegenüber, die sich gegen den sogenannten Mainstream mit Verschwörungsmythen abgrenzen. Die vernünftige Mitte zerbröselt. Das ist der Teil, der mir am meisten Sorgen macht.

Blume geht gerichtlich gegen Hassnachrichten vor

Sind Männer anfälliger für Verschwörungsmythen als Frauen?

Blume: Ja! Bei Männern sehen wir öfter ein kämpferisches Weltbild. Da herrscht die Stimmung vor: Ich zerschlage jetzt die Verschwörer, wenn es sein muss auch mit Gewalt. Dies kickt vor allem jüngere Männer. Darin lassen sie sich dann gerne von älteren Männern bestätigen. Von daher sage ich, auch als ehemaliger Soldat: Liebe Mitmänner, die eigentlichen Helden stellen sich erst einmal ehrlich den Abgründen der eigenen Seele.

KI in Form von ChatGPT & Co. bringt nochmals eine ganz neue Herausforderung in puncto Fake News mit. Was wird in Zukunft wichtig(er) werden? Wie können wir Mythen oder Fake News entzaubern?

Blume: ChatGPT ist ein Werkzeug, welches unsere gesamte Welt verändern wird. Wir werden zukünftig mehrere KIs nutzen. Ob wir es wollen oder nicht, KI wird ein Teil unserer Mitwelt. Sie wird uns selbst verändern, wie uns auch das Smartphone verändert hat. Mein Ratschlag lautet: Mitmachen, aber auch nachdenken, was wir da eigentlich tun!

Hassnachrichten gehören zu Ihrem Tagesgeschäft. Wie gehen Sie damit um?

Blume: Am Anfang habe ich sie einfach ignoriert. Doch dann richteten sie sich gegen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und vor allem gegen meine Familie. Seitdem wehre ich mich auch gerichtlich.

Sie klagen gegen Twitter. Warum?

Blume: Viele Bürger haben gar nicht die Möglichkeit, gegen diesen Giganten vorzugehen. Das ist unglaublich teuer. Stellvertretend für die Menschen streite ich daher gemeinsam mit HateAid. Ich will nicht den Hass im Internet bejammern, sondern mich auch hinstellen und den Hetzern und Trollen die Stirn bieten! Es hat mich Überwindung gekostet, im Regierungskabinett solch eine an mich adressierte Hassnachricht vorzulesen.

Was ist der aktuelle Stand der Klage?

Blume: Twitter vertritt die Auffassung, dass die gesendete Hassnachricht gelöscht werden kann, doch die Kläger sollen jede einzelne Hassnachricht neu melden. Wir halten dagegen und haben vom Landgericht Frankfurt/Main Recht gesprochen bekommen, dass Twitter kerngleiche Inhalte selbst löschen muss. Wenn also gegen eine Person eine Kampagne läuft, ist Twitter gefordert, löschend einzuschreiten. Twitter kann sich nicht zurücklehnen nach dem Motto: Meldet es und wir schauen dann mal. Twitter wehrt sich sehr dagegen …

„Jede Religion kann man liebevoll oder auch feindselig leben“

Was ängstigt Sie? Was macht Ihnen Hoffnung?

Blume: Mich treibt die Sorge um, dass die Klimakrise zur Wasserkrise wird. Ich habe im Irak gesehen, wie ein Staat zerfällt, wenn es nicht mehr genügend Wasser für alle gibt. Wasser ist ein mächtigeres Element als Öl. Es ist übrigens auch das erste Element, welches in der Bibel genannt wird, noch vor dem Licht! Es werden immer weniger Teile der Erde bewohnbar sein. Ich bin überzeugt: Wir werden die Krise meistern, aber die vor uns liegenden Jahre werden hart. Es geht ums Überleben in unserer Mitwelt. Dafür braucht es Frauen und Männer, die über sich hinauswachsen.

Sie sind atheistisch aufgewachsen, haben dann zum christlichen Glauben gefunden. Was hat Sie überzeugt?

Blume: Ich war politisch sehr aktiv. Im Angesicht der Hungerkatastrophe in Somalia stellte ich als junger Mensch fest: Es gelingt uns trotz allem Engagement nicht, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Das brachte mich in eine Sinnkrise. Und in dieser frustrierenden Situation hat Gott mich aufgefangen und angesprochen in dem Sinne: Michael, wenn du tust, was du kannst, ist das genug. Du bist unendlich geliebt! Das hat mich unglaublich entlastet und bewahrt mich davor, mich selbst zu überfordern.

Sie und Ihre Frau entstammen einer Arbeiterfamilie. Sie sind ein glückliches Paar. Was sagen Sie Menschen, die Christen vor allem als Kreuzritter und Kolonisatoren und Muslime als Machos und Terroristen sehen?

Blume: Jede Religion kann man liebevoll oder auch dualistisch, feindselig, extremistisch leben. Das gilt fürs Christentum, den Islam und jede andere Glaubensrichtung. Zehra und ich haben jetzt unsere silberne Hochzeit gefeiert. Wir sind sehr glücklich miteinander. Wir haben drei gemeinsame Kinder, die sich in der evangelischen Kirche engagieren. Meiner Auffassung nach sollte sich Religion niemals gegen die Liebe stellen, sondern sie immer unterstützen.

Infolge der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie, des Krieges in der Ukraine erleben wir eine starke Polarisierung der Gesellschaft. Wie geht es weiter? Was ist Ihre Prognose?

Blume: Wir alle stehen vor der Charakterfrage. Gerade auch wir Männer. Große Teile der Welt werden unbewohnbar werden. Es wird sogenannte Archeregionen geben, in denen Menschen überleben können. Wir alle stehen da vor der Herausforderung, die Menschen zu beschützen, die uns anvertraut sind, aber eben auch ein großes Herz gegenüber denen an den Tag zu legen, die bei uns Schutz suchen. Dies wird die Herausforderung des 21. Jahrhunderts werden. Sind wir Männer fähig, echte Partner zu sein, zu lieben statt zu hassen? Das wird die Aufgabe von uns Männern sein!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Heißer Lesetipp für den Sommer:

„Eine Blume für Zehra – Liebe bis zu den Pforten der Hölle“ (bene!) Andreas Malessa erzählt eindrücklich die Liebes- und Familiengeschichte von Blumes. Ein packendes Stück deutscher Geschichte im Kleinformat.

Symbolbild: pixelfit / E+ / Getty Images

Brainstorming wird 80 – Warum der gefeierte Jubilar in den Ruhestand gehört

Unternehmensexperte Rainer Wälde hält Brainstorming für überschätzt. Er empfiehlt eine bessere Methode, um innovative Lösungen zu finden.

Brainstorming feiert in diesem Jahr bereits den 80. Geburtstag. 1942 veröffentlichte Alex F. Osborn sein Buch „How to Think Up“ und ermutigte dazu, das Gehirn zu stürmen, um neue Ideen zu generieren. Seitdem wird diese Methode in zahlreichen Firmen und Teams eingesetzt. Auch ich habe in meiner beruflichen Laufbahn an vielen Brainstorming-Sessions teilgenommen. Doch bereits seit 30 Jahren ist klar, dass Brainstorming nicht wirklich effektiv ist. 1991 haben Mullen, Johnson und Salas dazu eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht: Productivity Loss in Brainstorming Groups. Woran liegt es, dass es dennoch immer noch so beliebt ist?

Brainstorming: Einer redet

Ich persönlich glaube, dass dies an der Einfachheit liegt: Ein Moderator stellt eine Frage, alle Teilnehmer denken laut, niemand darf kritisieren. Das Gesagte wird protokolliert. Doch in der Praxis habe ich häufig beobachtet, dass bei mir und anderen Teilnehmern mehr Ideen sprudeln, als gesagt werden können. Häufig reden nur die Extrovertierten, die Gedanken der eher Stillen finden wenig Raum.

Etliche Jahre war ich auch als Firmenbeirat in verschiedenen Unternehmen eingeladen. Ich erinnere mich sehr gut an die Brainstorming-Runden in einem Verlagshaus. In dieser Runde entstanden sehr viele Ideen für neue Bücher und neue Autoren. Doch in den folgenden Monaten hatte ich nicht den Eindruck, dass diese zumindest teilweise auch umgesetzt wurden. Zu viel kreatives Potenzial ging verloren. Das hat mich als Teilnehmer frustriert. Kürzlich habe ich einen sehr interessanten Beitrag im „Magazin für Neue Arbeit“ gefunden. Die Neue Narrative #14 zitiert den Sozialpsychologen Stefan Schulz-Hardt: „Menschen genießen die soziale Situation, die beim Brainstorming entsteht, überschätzen dabei aber das Ergebnis und den Anteil ihrer eigenen Ideen.”

Brainwriting: Alle sprudeln vor Ideen

Als Alternative stellen die Autoren das Brainwriting vor. Statt zu reden, schreibt jeder in der Stille seine Ideen auf. Diese Post-its werden dann an ein Board geklebt und in der zweiten Phase können die anderen Teilnehmer diese Ideen weiterspinnen.

Nun muss ich zugeben, dass meine Frau und ich diese Methode schon seit 21 Jahren regelmäßig praktizieren, allerdings kannten wir damals den Begriff „Brainwriting” noch nicht. Seit der gemeinsamen Gründung unserer Akademie 2001 schreibt jeder für sich seine Ideen zuerst alleine auf Pin-Kärtchen, dann clustern wir diese Ideen und entwickeln daraus unsere private und berufliche Strategie.

Auch bei meinen Büchern arbeite ich seit zwei Jahren mit dieser Methode. Ob Roman oder Ratgeber – ich notiere alle Ideen zuerst auf Haftnotizen. Dann entwickle ich an der Wand in meinem Büro die gesamte Gliederung des Buches. Mit dieser Methode des Brainwritings gelingt es mir, innerhalb von acht Wochen die Rohfassung eines neuen Romans zu schreiben. Anschließend diskutiere ich mit drei Testlesern den Entwurf – auch das gehört zu diesem Gruppenprozess. Ihr Feedback hilft mir dann, die finale Fassung zu erstellen.

Ich bin überzeugt, dass eine gute Mischung aus Einzelarbeit in der Stille und co-kreativer Zusammenarbeit im Team zu guten Ergebnissen führt. Nehmen Sie sich die Zeit, um alleine über die eigentliche Frage nachzudenken, für die Sie eine Lösung suchen. Was ist der Kern des Problems? Notieren Sie Ihre Gedanken auf bunten Haftzetteln und sortieren Sie diese anschließend auf einem Board, an einem Fenster oder einer Zimmertür. Beteiligen Sie Kollegen aus Ihrem Team oder externe Berater und diskutieren Sie Ihre ersten Ideen und Lösungsansätze. Ich bin mir sicher, dass Sie in dieser Mischung erstaunlich innovative Ideen und Lösungen finden.

Rainer Wälde leitet mit seiner Frau die Gutshof Akademie bei Kassel. Als Autor hat er 30 Bücher veröffentlicht. Zuletzt die erfolgreiche Krimi-Reihe um Kommissar Timo von Sternberg. www.nordhessenkrimi.de

Nelson Müller (Foto: Nina Stiller Photography)

Starkoch Nelson Müller ließ sich mit 34 Jahren adoptieren

Der Schwabe Nelson Müller ist bekannt als Gastronom, Sterne- und TV-Koch. Ein Gespräch über seine Leidenschaft für gutes Essen, seine Frikadelle für die Queen und seine Familiengeschichte.

Her Müller, was mögen Sie lieber: Maultaschen und Kartoffelsalat oder Linsen mit Spätzle und Saitenwürstchen?

Nelson Müller: (lacht) Schwierige Frage. Beides ist so lecker. Ich möchte auf beides nicht verzichten.

Welches Essen haben Sie als Kind gar nicht gemocht?

Müller: Erbsen und Möhren. Damals gab es dieses Gemüse allerdings auch nur aus der Dose und hatte nichts mit dem frisch gekochten Gemüse zu tun. Auch um Zucchini habe ich zum Leidwesen meiner Mutter einen großen Bogen gemacht.

Wurde Ihnen die Leidenschaft für gute Gerichte schon in die Wiege gelegt?

Müller: Kulinarik war Teil meiner Lebenskultur. Wir haben als Familie immer zusammen gegessen. Am Mittagstisch, beim Abendessen war gutes Essen immer ein Thema.

Das kocht Nelson Müller am liebsten

Wann war Ihnen klar: Ich werde Koch?

Müller: Mit sechs, sieben Jahren war der Wunsch eigentlich schon da.

Welche Gerichte kochen Sie am liebsten und warum?

Müller: Die klassische Küche steht bei mir ganz oben an. Hausmannskost ein bisschen upgegradet, ein bisschen schicker, finde ich spannend und lecker.

Was kocht sich Nelson Müller privat? Oder bleibt die Küche abseits des Berufes kalt?

Müller: (lacht) In der Tat bleibt der Herd zu Hause meist aus, da ich in der Küche mit meinem Team, meinen Gastgeberinnen und Gastgebern esse. Das macht Spaß. Wir kochen immer frisch.

„Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen“

Wann sind Sie als Koch glücklich?

Müller: Wenn es ein guter Abend war mit guten Gästen, wir gut als Mannschaft performt haben. Es beflügelt mich, wenn Energie in der Luft liegt, der Laden brummt, richtig was aus der Küche rausgeht, flotte Sprüche zwischen den Teams hin- und herfliegen.

Geht die Gleichung „lecker gleich aufwendig und kompliziert“ Ihrer Überzeugung nach auf? Verraten Sie uns mal Ihre Kochphilosophie.

Müller: Die Mischung macht’s. Es darf auch mal etwas Aufwendiges sein, dann aber auch wieder etwas überraschend Einfaches. Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen. Es gibt einfach Gerichte, die sind so, wie sie sind, lecker, da muss man sich eher in der Kunst des Weglassens üben.

Warum muss es Ihrer Überzeugung nach auch bei Männern nicht immer nur Fleisch, Fleisch, Fleisch geben?

Müller: Wir tun gut daran, wenn wir etwas für unsere Gesundheit tun. Wir essen zu viel Fleisch. Mit reduziertem Fleischkonsum können wir etwas zum Klima- und Umweltschutz beitragen. Mein Credo lautet: lieber weniger, dafür Qualität. Auch hier heißt es für mich: Abwechslung in die Mahlzeiten bringen. Ich bin so aufgewachsen, da gab es nicht jeden Tag Fleisch. Da kamen auch Pfannkuchen, Nudelgerichte, Suppen, Grünkohlbratlinge auf den Teller.

Die Queen zu Gast

Sie haben für Ihr Kochen einen Michelin-Stern erhalten. Wie fühlte es sich an, als Sie davon erfuhren?

Müller: Das war ein überwältigendes Gefühl! Ich habe lange Zeit in der Sternegastronomie gearbeitet und deshalb war es natürlich auch immer mein Ziel, das auch selbst zu erreichen. Ich hatte es gar nicht für möglich gehalten.

Ist es schwieriger, Sternekoch zu werden oder es zu bleiben?

Müller: Ich glaube, es ist schwieriger, es zu werden. Man muss ja erst mal die Tester überzeugen.

Sie haben auch schon für die jetzt verstorbene Queen gekocht. Wie war das?

Müller: Die Queen hatte sich für einen Besuch in Düsseldorf angekündigt. Klar, das riesige Buffet für solch einen hochkarätigen Gast musste mehr als perfekt sein. Wir haben uns eine Woche lang vorbereitet. Ich war unter anderem für die Frikadellen zuständig. Eine dieser Köttbullar hat die Königin gegessen. Ob es ihr geschmeckt hat, weiß ich nicht. Der Rummel um dieses Essen war jedenfalls gigantisch und aufregend.

Vater Müller als Vorbild

Als Sie auf Sylt die Ausbildung in einem Restaurant begannen, hat man Sie am ersten Tag an die Spüle geschickt, weil man Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe für einen Küchenhelfer hielt. Wie gehen Sie mit dieser Art Rassismus um?

Müller: Inzwischen rede ich nicht mehr über das Thema. Das schwebt bei mir nicht oben drüber. Wir sind eine bunte Gesellschaft. Das ist normal. Punkt. Ich spreche lieber über die Küche, gute Kochbücher, mein Unternehmersein.

Mit vier Jahren kamen Sie in eine deutsche Pflegefamilie. Wie haben Sie Ihren Pflegevater erlebt? Stand dieser auch am Herd?

Müller: Natürlich. Er stand am Herd und am Grill. Meine Eltern waren sehr aufgeklärt und modern. Dies wurde uns auch vorgelebt. Da lernte ich schon, dass Männer im Haushalt helfen, Staub saugen, Küche putzen, Müll rausbringen.

Was sind Eigenschaften, die Sie in erster Linie mit Ihrem Vater verbinden, Werte, die er Ihnen vermittelt hat?

Müller: Mein Vater ist ein sehr zurückhaltender Mensch. Er atmet das Credo: Wer etwas zu sagen hat, muss nicht laut sein. Er konnte sich auch in die zweite Reihe stellen und da etwas bewirken. Er ist Jahrgang 1935 und hat dadurch eine ganz andere Beziehung zu Lebensmitteln und dem Alltagsleben. Jedes Brot wurde gesegnet, vor jedem Essen wurde gebetet. Sauberkeit war für ihn ein wichtiges Thema. Er war als Junge in einem katholischen Knaben-Gymnasium und hatte deshalb schon eine genaue Vorstellung, wie ich mich benehmen sollte. Vater hat als Ingenieur viel Wert auf meine Bildung, mein Allgemeinwissen, meine Sprache gelegt. Das waren wichtige Gesprächsthemen am Essenstisch.

Konflikthemen zwischen Vater und Sohn

Gab es spezielle Sachen, die Sie nur mit Ihrem Vater gemacht haben?

Müller: Wir hatten einen Gemüsegarten. In dem haben wir viel zusammen gearbeitet. Das war für ihn ein Ausgleich zum Alltag. Sonntags sind wir gemeinsam in die Kirche gegangen. Und wir haben viel miteinander musiziert.

Vermutlich gab es in Ihrer Vater-Kind-Beziehung auch Konflikte. Woran haben Sie sich gerieben?

Müller: Ich bin mit der Hip-Hop-Kultur groß geworden. Das war meinem Vater manchmal zu modern. Ich bin zudem von meinem Naturell her Künstler und Musiker. Mein Vater hingegen der klassische Mathematiker. Das sorgte schon für Reibungsenergie, aber heute rettet mich sein Training. Gerade als Unternehmer benötige ich Struktur und kaufmännisches Wissen. Das zahlt dann auf das ein, was er gut findet. (lacht)

Und heute?

Müller: Ist er mir auch als 87-Jähriger ein wertvolles Gegenüber auf Augenhöhe. Er steht hinter mir, stärkt mir den Rücken. Ist stolz auf mich und sagt mir: Nelson, gut gemacht!

„Schwabe mit ghanaischen Wurzeln“

Mit 34 Jahren haben Sie sich von Ihren Eltern adoptieren lassen. Wieso war Ihnen das zu dem Zeitpunkt wichtig?

Müller: Ich habe mich immer von Herzen als ein Müller gefühlt. Wir haben es 30 Jahre gelebt, aber nicht auf dem Papier vollzogen. Mir war es wichtig, das jetzt auch in Form zu gießen und zu signalisieren: Ich gehöre ganz zur Familie.

Müller ist ja sozusagen der deutscheste aller deutschen Namen. Gibt es Eigenschaften, die Sie an sich erkennen, die Sie als typisch deutsch oder gar schwäbisch einschätzen – und umgekehrt Eigenschaften, die so gar nicht dem Klischee des Deutschen oder Schwaben entsprechen?

Müller: Ich bin Schwabe mit ghanaischen Wurzeln. Viele, die mich kennen, sagen: Du bist sehr deutsch. Aber auch die afrikanischen Wurzeln kommen mir zugute: Lockerheit. Sich mit anderen freuen, ihnen etwas gönnen. Dankbarkeit. Ich muss nicht alles so ganz genau nehmen.

Könnte aber beim Kochen schiefgehen …

Müller: (Lachen, gespielt energisch) Da halte ich mich natürlich ganz genau ans vorgegebene Rezept. Im Ernst: Beim Kochen kann ich es auch genau nehmen. Ich kann aber auch mal fünf gerade sein lassen.

„Ich bin Christ“

In der RTL-Aufführung „DIE PASSION“ haben Sie Fladenbrot und Currywurst fürs letzte Abendmahl verkauft. Spielt der christliche Glaube auch in Ihrem wirklichen Leben eine Rolle?

Müller: Ich bin Christ. Ich beschäftige mich damit. Es geht darum, dass wir gute Spuren hinterlassen. Ehrfürchtig sind, verantwortungsvoll vor Gott leben im Sinne von: Was wir von anderen erwarten, ihnen auch zu tun. (Anm. d. Red.: die Goldene Regel aus Matthäus 7,12)

Home-Office. 13:02 Uhr. In einer halben Stunde stehen die hungrigen Kinder vor der Tür. Was würde Nelson Müller auf den Tisch zaubern? Wobei könnte mir Ihr neues Kochbuch helfen?

Müller: (lacht) Verblüffen Sie Ihre Kinder mit Deutschem Döner. Döner einmal anders. Das schmeckt mega!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Nelson Müller hat sich schon einmal von der Nordsee bis zu den Alpen durch deutsche Restaurants gekocht. Seine aktuelle Heimat hat der Sternekoch in Essen gefunden. Dort führt er zwei Restaurants, macht nebenbei Musik und tritt in TV-Sendungen auf. Aufgewachsen ist der fröhliche Koch mit ghanaischen Wurzeln in Stuttgart und somit tief verwurzelt in schwäbischer Hausmannskost. nelson-mueller.de Sein aktuelles Kochbuch ist erschienen mit dem Titel „Gutes Essen – Nachhaltig, saisonal, bewusst“ (DK Verlag).

DEUTSCHER DÖNER

Döner Kebab, das »sich drehende Grillfleisch«, ist seit den 70er-Jahren auch in Deutschland ein beliebter Imbiss. Der Drehspieß mit gewürzten Fleischscheiben – ursprünglich Lamm, aber inzwischen oft auch Rind, Schwein oder Geflügelfleisch – ist ein fester Bestandteil der Fastfood-Szene geworden. Die Leberkäse-Variante ist ein Running Gag bei mir im Lokal – wenn’s schnell gehen soll, bestelle ich mir einen »Deutschen Döner« auf die Faust.

ZUBEREITUNG:

1. Für den Weißkohlsalat den Weißkohl in dünne Streifen schneiden und mit Salz, Pfeffer und Zucker würzen.
2. Essig und Öl zugeben und gut durchkneten. Eine halbe Stunde ziehen lassen.
3. Für die Mayonnaise den Sojadrink mit dem Senf und den Gewürzen in ein hohes Gefäß geben.
4. Mit dem Stabmixer gut durchmischen, nach und nach das Rapsöl untermixen.
5. Mit dem Bieressig abschmecken.
6. Für den Döner die Gurke fein hobeln, den Eisbergsalat in grobe Streifen schneiden, die rote Zwiebel schälen und in feine Streifen schneiden, die Tomate in Scheiben schneiden.
7. Den Leberkäse in Öl anbraten.
8. Die Laugenbrötchen halbieren, die untere Hälfte mit dem Eisbergsalat belegen und mit der Senf-Bier-Mayonnaise beträufeln.
9. Den Leberkäse auflegen, mit Weißkohlsalat, Tomate, Gurke und Zwiebelscheiben belegen und den Deckel auflegen.

WEISSKOHLSALAT

  • 120 g Weißkohl
  • 10 ml Bieressig
  • 30 ml Rapsöl
  • Salz, Pfeffer, Zucker

SENF-BIER-MAYONNAISE

  • 100 ml ungesüßter Sojadrink, zimmerwarm
  • 2 EL süßer Senf
  • 1 TL Senfpulver
  • Salz, Pfeffer
  • 1 Msp. gemahlener Kümmel
  • 1 Msp. Chilipulver
  • 3 Msp. Chiliflocken
  • 160 ml Rapsöl
  • 3 EL Bieressig

DÖNER

  • Salatgurke
  • 4 Blätter Eisbergsalat
  • 1 rote Zwiebel
  • 1 Tomate
  • 4 große Scheiben Leberkäse
  • 10 ml Rapsöl
  • 4 Laugenbrötchen
Symbolbild: krakenimages / Unsplash

Warum das 80:20-Prinzip ein Update braucht

Die 80:20-Regel führt nicht automatisch zum Erfolg. Dazu braucht es das 40-20-40-Prinzip als Ergänzung. Wie das Ihre Effektivität maximiert, verrät Coach Michael Stief.

Das 80:20-Prinzip meint die Beobachtung, dass in einer großen Anzahl von Fällen 80 Prozent einer Leistung schon mit 20 Prozent des Aufwandes erreicht werden. Dieses Prinzip ist zu der Faustregel schlechthin für zeitökonomisches Handeln geworden. Die 80:20-Regel hat aber noch eine eher unbekannte Schwester, die 40-20-40-Regel, die die Effizienz durch Effektivität komplettiert.

Von der ungleichen Landverteilung zur Faustregel für Effizienz

Beschrieben hat den 80:20-Effekt der Italiener Vilfriedo Pareto (1848–1923). Daher ist dieser Zusammenhang auch als Pareto-Prinzip bekannt. Pareto war Ökonom und stellte fest, dass im Italien seiner Zeit 80 Prozent der privaten Landfläche im Besitz von 20 Prozent der Bevölkerung waren.

Leider verbreitete sich durch Paretos Entdeckung des 80:20-Prinzips nicht die Frage nach der gerechten Verteilung von Gütern. Stattdessen war es die teils richtige, teils unsinnige Idee, dass sich in allen wirtschaftlichen Zusammenhängen und Prozessen diese magische Formel anwenden ließe.

Einfach machen, statt Perfektion anzustreben

Praktisch gesehen lässt sich das 80:20-Prinzip sinnvoll nutzen, wenn es darum geht, mit begrenzten Mitteln ein Ziel zu erreichen. Beispielsweise beim Erstellen einer Präsentation, die sich in kurzer Zeit in brauchbarer Qualität erstellen lässt. Oder auch beim Schreiben, wo der „shitty first draft“, der „schlechte erste Entwurf“ auch schnell auf dem Papier oder in der Maschine ist. Selbst beim wöchentlichen Hausputz lässt sich eine akzeptable Ordnung und Sauberkeit in 20 Prozent der Zeit herstellen, die für einen kompletten und gründlichen Frühjahrsputz notwendig wäre.

Aber genau da steckt der Teufel im Detail, nämlich genau in den Details, die für ein gutes oder gar „perfektes“ Ergebnis (wenn es denn annähernd so etwas geben kann) nötig sind. Das Pareto-Prinzip prophezeit nämlich gerade, dass für ein ganz bestimmtes Ergebnis eben auch viermal so viel Zeit notwendig ist wie für den ersten Entwurf. Oder auch, dass bei einer Prüfung bei 20 Prozent Zeiteinsatz eben auch nur die Note befriedigend erwartet werden kann. (Was natürlich in dieser Unmittelbarkeit Unsinn ist, aber Sie verstehen die Idee.)

Zusammengenommen ist das Pareto-Prinzip im besten Fall eine Daumenregel, um sich vor Perfektionismus zu hüten und mit wirtschaftlichem Aufwand zu einer brauchbaren Lösung zu gelangen. Im schlechtesten Fall führt es zu Pfusch oder zu einer ungesunden Arbeitsverdichtung in der Annahme, die Zeit jenseits der magischen 20-Prozent-Grenze ließe sich irgendwie einsparen.

Die richtigen Dinge tun

Das Pareto-Prinzip beantwortet die Frage, welchen Aufwand und Zeiteinsatz wir sinnvollerweise in eine Aufgabe stecken sollten. Dabei bleibt offen, was in dieser Zeit zu tun ist. Beim Software-Engineering wird das mit einer einprägsamen Merkformel gesteuert. Hier gibt es die 40-20-40-Formel, die, anders als das Pareto-Prinzip, außerhalb der Industrie leider kaum bekannt ist.

Einfach gesprochen empfiehlt dieses Vorgehen 40 Prozent des Aufwandes in die Zieldefinition zu stecken, 20 Prozent in die Umsetzung und 40 Prozent in den Test, ob die Software fehlerfrei funktioniert. Während also das Pareto-Prinzip die Effizienz steigert, fördert das 40-20-40-Prinzip die Effektivität. Nicht Schnelligkeit oder Begrenzung des Aufwandes stehen im Vordergrund, sondern ein möglichst genaues Verständnis der Lage, des Ziels und der Genauigkeit der Zielerreichung.

Auf andere Bereiche übertragen

Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass bei ungenauer Problemanalyse oder unzulänglicher Ergebniskontrolle erhebliche Fehler auftreten können. Diese können bei entsprechend kritischen Computeranwendungen in medizinischen Geräten etwa fatale Folgen haben. Es lässt sich leicht ahnen, dass sich diese Vorgehensweise ebenfalls sinnvoll auf andere Felder übertragen lässt.

Zum Beispiel auf die Charakterentwicklung: So lässt sich dieses Prinzip etwa in der Beichtpraxis der katholischen Kirche wiederfinden. Die Zehn Gebote definieren konkrete Ziele für eine gesunde menschliche Entwicklung. Zum Beispiel die Wahrheit zu sagen, die eigenen und fremden Grenzen zu achten und so weiter. Im Alltag werden diese Prinzipien umgesetzt – oder auch nicht. In der Beichte erfolgt dann die Fehlerprüfung, das „debugging“, mit dem Vorsatz diese Fehler in Zukunft zu beseitigen. Auch bei mir im Führungskräfte-Coaching hat sich dieses dreigliedrige Struktur in Form von Standortbestimmung/Zielbildung, Umsetzung und Feedback bewährt.

Zweimal messen, einmal schneiden

Die treffendste Beschreibung dieser Effektivitäts-Regel habe ich einmal von einem Schreiner gehört: Zweimal messen, einmal schneiden! Der meinte zwar mit „zweimal Messen“ eher das genaue Maßnehmen, aber beim 40-20-40-Prinzip geht es genau darum:

  • Einmal messen, das heißt: Genau analysieren, was wir erreichen wollen. Wie genau ist die Lage? Wer ist betroffen und wie? Was ist der Kern des Problems?
  • Dann die passenden Maßnahmen durchführen. Hier investieren wir 20 Prozent Ihrer Ressourcen (Zeit/Geld).
  • Zuletzt wieder messen, das heißt: Überprüfen, ob das gewünschte Ergebnis erreicht wurde, was nicht funktioniert hat und warum. Außerdem mögliche nächste Schritte einleiten, um das gewünschte Ergebnis doch noch zielgenau zu erreichen.

Verbinden wir das 80:20 Prinzip für „gesunde Selbstbeschränkung“ und das 40-20-40-Regel für die Zielgenauigkeit und die Effektivität einer Problemlösung, erreichen wir das optimale Ergebnis. Dann werden wir künftig nicht nur die Dinge richtig tun, sondern auch öfter die richtigen Dinge.

Michael Stief  (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Symbolbild: Deagreez / iStock / Getty Images Plus

Das hilft gegen Schlaflosigkeit

In Zeiten der Selbstoptimierung wird selbst der Schlaf zum Leistungssport. Doch das ist genau der falsche Weg.

Haben Sie gut geschlafen, Herr Bednarz?

Dieter Bednarz: Nein. (lacht) Ich habe gestern Abend noch einen großen Eisbecher gegessen und zudem bauen wir ein kleines Haus um. In meinem Kopf fuhren die Gedanken noch Achterbahn. So ist das, wenn man nachts nicht loslassen kann.

Sie sind Autor der Lektüre „Augen zu und schlaf!“. Was war der Auslöser, um dieses Buch zu schreiben?

Bednarz: Ich war eingeladen zu einer Lesereise auf einem Kreuzfahrtschiff. Trotz dieser paradiesischen Umgebung schwitzte und wälzte ich mich mal wieder durch die Nacht. In der Kabine nebenan schlief Katja, eine Yogalehrerin. Am nächsten Morgen erzählte sie mir von ihrer himmlischen Nacht. Und da dachte ich mir: „Jetzt reicht’s! Jetzt mache ich mich auf und versuche herauszufinden: Was ist Schlaf eigentlich? Was kann ich gegen die Schlaflosigkeit und für guten Schlaf tun?“

Warum ist guter Schlaf wichtig?

Bednarz: Schlaf ist ungeheuer wichtig fürs Gehirn, fürs Lernen, fürs Gedächtnis. Er ist entscheidend fürs Verarbeiten und Einsortieren. Der Schlaf ist ein Spiegel unserer Seele und der Gesellschaft. In einer Zeit, in der alles optimiert wird, sind wir hier allerdings in der Gefahr, den Schlaf zu überhöhen, aus ihm einen Leistungssport zu machen – aber genau das sollte er nicht sein.

„Schlaf ist keine quantitative, sondern eine qualitative Frage“

Sie machen sich auf den Weg mit Ihren Durchschlafstörungen. In der Begegnung mit Medizinern, Forschern, im Schlaflabor stellen Sie fest …

Bednarz: Ich bin eine Lerche, ein Frühaufsteher, wie ich bei Professor Roenneberg gelernt habe. Ich kann einfach nicht mit meinen Girls bis kurz vor Mitternacht schauen, wer Deutschlands nächstes Flop-Model wird; die Mädels schlafen danach nämlich bis in die Puppen oder der Wecker reißt sie um sieben Uhr aus dem Tiefschlaf. Mich jedoch weckt meine innere Uhr unerbittlich zwischen vier und fünf. Will ich als Frühaufsteher halbwegs ausgeschlafen in den Tag starten, muss ich spätestens um halb zehn ins Bett. Wichtig ist, dass man zu seinem Schlaftyp und zu seinem ganz eigenen Schlafrhythmus findet.

Brauchen wir keine acht Stunden Schlaf?

Bednarz: Schlaf ist keine quantitative, sondern eine qualitative Frage. Es geht schlicht darum: Wie wache ich am nächsten Morgen auf? Ich kann um 5:15 Uhr aufwachen und erfrischt sein – wenn ich mir den Schlaf früh genug vor Mitternacht hole.

Sie notieren: „Wer wirklich seine Nachtruhe finden will, der muss sich aufmachen auf einen langen Weg zur Kenntnis und auch Erkenntnis.“ Was sind Ihre fundamentalen Wegeinsichten?

Bednarz: Statt Pillen zu schlucken, müssen wir Bettflüchtigen lernen, unsere eigene Schlaftablette zu werden. Ich bin kein Superschläfer geworden. Meine Vorstellung, auch ich könnte auf Kommando ins kleine Koma fallen, war Wunschdenken und Selbsttäuschung. Inzwischen habe ich kapiert: Schlaf ist eine grandiose Projektionsfläche unserer Seele, unserer Wünsche und Ängste. Wie ich bin, so schlafe ich: sehnsüchtig, ehrgeizig, ängstlich, mich verzehrend; oder zufrieden, zuversichtlich, mit mir im Reinen. Der bekannte Hamburger Medizinhistoriker Prof. Osten hat mir mit auf den Weg gegeben: Im Schlaf spiegelt sich unsere seelische Verfassung.

Das klingt nicht so neu …

Bednarz: Richtig. Doch ich musste lernen: Es reicht nicht, eine solche Botschaft zu bekommen. Um wirklich zu begreifen, wie sehr der Schlaf unser Innerstes reflektiert, bedarf es der nachdrücklichen Auseinandersetzung mit uns selbst. Deshalb ist es so wichtig, darüber nicht nur zwei Zeilen zu lesen, sondern sich in einem Buch damit auseinanderzusetzen. Die Einsicht, dass ich eine verzagte, von Ansprüchen an mich und das Leben zernagte Seele mit ins Bett nehme, ist mir sehr schwergefallen.

Wer erkennt im Spiegel schon gern einen unzufriedenen Mann? Wer gesteht sich ein, dass er sich ein eigentlich gutes Leben mit einer wunderbaren Frau und drei tollen Töchtern durch törichte Vergleiche und unerreichbare Vorgaben unnötig schwermacht? Der schlechte Schlaf hat mir den Weg zur Selbsterkenntnis gewiesen. Wenn ich jetzt in der Frühe erwache, bin ich dankbar für eine halbwegs gute Nacht, mache deutlich zufriedener und zuversichtlicher unsere Betten und gehe gestärkter in einen Tag, an dem ich versuche, loszulassen und mich abends mit einem „Lass gut sein, Junge!“ wieder in die Daunen zu kuscheln.

Keine Angst vor dem Schlaflabor

Ab wann ist der Mann mit seinem Schlafproblem ein Fall für den Arzt?

Bednarz: Wenn er permanent gerädert aufwacht. Ich empfehle da den Gang zu einem Facharzt, den Besuch eines Schlaflabors. Davor muss man keine Angst haben. Ich habe dort inmitten der Schläuche prima geschlafen. Der Dieter, der dachte, das machst du für das Buch, musste erkennen: Mann, meine liebe Frau Esther hat recht. Ich schnarche doch ganz schön heftig, gehöre daher ab und zu auf die Couch im Wohnzimmer. Womit ich nicht gerechnet hatte: Auch ich habe eine mittlere Schlafapnoe.

Eine Schlafapnoe entsteht, wenn die Muskulatur in den oberen Atemwegen erschlafft. Warum schnarchen Männer? Sind Schlafmasken der Retter?

Bednarz: Ja, Frauen atmen laut, sie haben ein besseres Gewebe im Hals. Männer schnarchen biologisch bedingt eher. Häufige Ursache dafür ist bei Männern Übergewicht oder Alkohol. Dagegen kann man etwas tun. Der Schlafapnoe kommt man nur mit dem Besuch beim Facharzt auf die Schliche. Und ja, Schlafmasken können dann sehr hilfreich sein.

Wenn ich jetzt doch mal schlecht schlafe?

Bednarz: Machen Sie sich nicht verrückt, setzen Sie sich nicht unter Leistungsdruck in Sachen Schlafzeit. Aber wichtig ist, dass wir medizinische Gründe für schlechten Schlaf ausschließen. Wenden Sie sich an die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung. Scheuen Sie nicht den Gang ins Schlaflabor. Achten Sie auf die Lebensführung.

Guter Schlaf ist für Sie heute …?

Bednarz: Ich musste lernen, es gut sein zu lassen, mir sagen: Ich habe heute genug gemacht. Ich muss jetzt nicht noch im Schlaf etwas leisten. Der Schlaf möchte nicht in irgendein Korsett gestanzt, sondern respektiert und umarmt werden. Der Schlaf ist ein Partner und wie in jeder guten Partnerschaft erwartet er Rücksichtnahme. Wenn wir ihn nicht respektvoll und achtsam behandeln, bekommen wir dafür die Quittung. Nochmals: Der Schlaf ist oft der Spiegel unserer Gesellschaft und der Spiegel unserer Seele.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Hilfe finden:

Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung: dgsm.de

Weiterlesen:

„Augen zu und schlaf! Handbuch eines Bettflüchtigen für eine gute Nacht“ (Berlin Verlag) von Dieter Bednarz. Der Journalist, Autor und Referent schläft heute versöhnter. 30 Jahre berichtete er als Korrespondent für den Spiegel aus der arabischen Welt. Er steht u.a. zu Vorträgen zum Thema Schlaf zur Verfügung: dieterbednarz.de

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7 Einschlaftipps, damit Sie keine Schafe zählen müssen

Fast jeder hat das schon einmal erlebt: Das Gedankenkarussell kreist und an Schlaf ist nicht zu denken. Diese sieben Tipps helfen beim Einschlafen.

1. Ruhephase vor dem Einschlafen

Schnell noch mal das Gespräch für morgen vorbereiten und einmal noch den E-Mail-Posteingang kontrollieren. Der Trend zur Telearbeit hat dazu geführt, dass noch mehr Menschen am späten Abend arbeiten. Wenn die Kinder im Bett sind, bleibt oft noch etwas Zeit für liegen gebliebene Aufgaben. Doch fürs Einschlafen sind solche späten Schichten schlecht. Probleme aus der Arbeit hindern dich daran, zur Ruhe zu kommen. Auch anstrengender Sport macht erst einmal wach, selbst wenn das Fitnessstudio um 23 Uhr so verlockend leer ist. Besser ist eine Ruhephase. Das bedeutet nicht zwangsläufig, sich auf das Sofa zu legen. Ein Spaziergang oder ein Gespräch können ebenso zur Ruhephase gehören wie das Lesen eines Buches.

2. Blaues Licht vermeiden

Beim Lesen solltest du aber eher nicht zum Tablet oder Smartphone greifen. Denn das blaue Licht der Bildschirme signalisiert deinem Körper, dass jetzt Tag ist. Besser ist ein klassisches Buch oder eine Zeitschrift. Auch E-Reader wie der Tolino oder der Kindle sind eine Alternative, denn sie verwenden eine „elektronische Tinte“ und keinen klassischen Bildschirm. Dabei werden Bildpunkte, die auf einer Seite schwarz und auf einer weiß sind, so gedreht, dass sich das Schriftbild ergibt. Die Technik kommt nicht nur ohne blaue Hintergrundbeleuchtung aus, sondern auch ohne Flimmern. Muss es das Smartphone oder das Tablet sein, lässt sich mit dem Blaulichtfilter oft der Anteil des blauen Lichts reduzieren.

3. Einschlafrituale

Das Lesen sollte Teil eines Einschlafrituals sein, das jeden Abend gleich abläuft. Das kann so aussehen, dass du zuerst einen kleinen Spaziergang machst, nach Zähneputzen und Körperpflege noch etwas liest und schließlich den Tag mit einem Abendgebet oder Ähnlichem beendest. Dass dieser Ablauf jeden Tag gleich ist, scheint zunächst langweilig und irgendwie altbacken. Doch genau in dieser immer gleichen Abfolge liegt der Sinn des Rituals. Der Körper weiß dann intuitiv, dass es jetzt Zeit ist, zur Ruhe zu kommen. Das Abendgebet oder eine anderweitige Reflexion kann noch einen weiteren positiven Effekt haben. Es hilft dir, den Tag abzuschließen und sich auf den neuen vorzubereiten. Beispielsweise kannst du dir überlegen, wofür du dankbar bist. Dann schläfst du garantiert schneller und besser, als wenn du im Bett über die Ärgernisse des Tages nachdenkst.

4. Fester Schlafrhythmus

In eine ähnliche Richtung geht auch der Tipp, möglichst jeden Tag zu einer ähnlichen Schlafenszeit ins Bett zu gehen. Apps fürs Smartphone oder die Smartwatch erinnern dich auf Wunsch daran, dass die Schlafenszeit bevorsteht. Wer Schicht arbeitet, ob als Pflegekraft oder in der Fabrik, kann diesen Ratschlag natürlich nicht umsetzen. Eine Untersuchung aus den USA zeigt, dass es in diesem Fall am besten ist, vor und nach der Nachtschicht besonders lang zu schlafen. Die Studie bezog zwar nur Frauen ein, einiges spricht aber dafür, dass die Ergebnisse für Männer ähnlich ausfallen. Natürlich kann im Einzelfall eine andere Strategie die bessere sein. Bei einer Untersuchung von Studentinnen der Evangelischen Hochschule in Nürnberg fühlten sich vor allem jene Pflegekräfte in der Nachtschicht besonders konzentriert, die am Nachmittag zuvor einige Stunden geschlafen hatten.

5. Kein Alkohol vor dem Schlafen

Von einem Schlafritual ist abzuraten, nämlich vom Schlummertrunk. Wer Alkohol getrunken hat, schläft zwar oft schneller ein, dafür aber schlechter. Im schlimmsten Fall wachst du nach einer Stunde wieder auf und liegst die halbe Nacht wach. Besser sind warme Getränke, etwa ein Kräutertee oder eine warme Milch mit Honig – die Wärme macht nämlich müde. Natürlich darf der Tee nicht aufputschend sein, also besser keinen schwarzen Tee trinken. Wer eine schwache Blase hat, sollte es mit dem Trinken vor dem Schlafen nicht übertreiben.

6. Atemübungen

Wenn es mit dem Einschlafen – trotz Ruhepause und Einschlafritual – nicht funktioniert, können Atemübungen eine weitere Möglichkeit sein. Die müssen gar nicht kompliziert sein. Einfach tief einatmen und dabei auf den Körper achten. Dazu kann es sinnvoll sein, eine Hand auf den Bauch zu legen und zu beobachten, wie sich die Bauchdecke beim Einatmen hebt. Dann langsam wieder ausatmen und wahrnehmen, wie sich der Bauch jetzt wieder senkt. Es reicht, diesen Vorgang ein oder zwei Minuten lang zu wiederholen.

7. Schlafzimmer richtig ausstatten: belüftet, kühl und bequem

Rechtzeitig vor dem Schlafen sollte das Zimmer gut durchgelüftet werden. Außerdem sollte der Raum ausreichend dunkel sein, also am besten über einen Rollladen verfügen oder zumindest dicke Vorhänge haben. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, wie wichtig eine gute Matratze ist. Gute Exemplare gibt es schon zu bezahlbaren Preisen. Auch wenn das Internet oft die günstigste Möglichkeit ist, spricht einiges für den Weg ins Fachgeschäft. Denn erst beim Probeliegen zeigt sich, wie gut die Matratze zum Körper und den eigenen Ansprüchen passt.

Diese Tipps helfen dir beim Einschlafen. Ganz normal ist es, wenn du hin und wieder trotzdem schlecht einschläfst, etwa wegen Sorgen oder Ängsten. Klappt es dagegen trotz dieser Ratschläge fast täglich mit dem Schlafen nicht so recht, sollte der Weg zum Arzt kein Tabu sein. Möglicherweise können pflanzliche Arzneimittel, etwa auf Basis von Baldrian, helfen. Aber auch andere Schlafmittel oder die Gabe des „Schlafhormons“ Melatonin sollten nicht zwangsläufig abgelehnt werden. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Untersuchung durch einen Arzt oder eine Ärztin.

Tilman Weigel ist Dozent für empirische Sozialforschung und freier Autor.

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Welcher Job passt zu mir?

Der Beruf ist nicht alles, aber er macht einen großen Teil des Lebens aus. Vier Fragen helfen bei der Suche nach dem Traumjob.

Von Michael Stief

„Seien Sie nett zu Ihren Nachbarn, vermeiden Sie fettes Essen, lesen Sie ein paar gute Bücher, machen Sie Spaziergänge und versuchen Sie, in Frieden und Harmonie mit Menschen jeden Glaubens und jeder Nation zu leben.“ So umreißt die englische Comedy Gruppe Monty Python den Sinn des Lebens in ihrem gleichnamigen Episodenfilm.

Diese launige Antwort ist für sich genommen schon ein attraktives Lebensprogramm; ob wir persönlich bewusst nach einem Sinn des Lebens streben oder nicht. Abgesehen davon, dass ich der festen Überzeugung bin, dass sich jedes Gericht mit Sahne verbessern lässt und man es deswegen mit dem fetten Essen nicht so eng sehen sollte.

5.000 Jahre auf der Suche nach dem Sinn

Die britischen Comedians greifen mit dieser Bestimmung des Sinns des Lebens ein Problem auf, das die Menschheit seit gut und gerne vier oder fünf Jahrtausenden umtreibt. Anders als die Tiere haben wir kaum Instinkte, die unser ganzes Leben von der Wiege bis zur Bahre bestimmen würden. Stattdessen sind wir – bei allen Beschränkungen – mit Freiheit begabt und geschlagen.

Wir müssen unseren Weg im Leben wählen: Ob wir nun aktiv eine Richtung einschlagen und uns Ziele setzen, oder uns treiben lassen. Je mutiger wir uns der Frage nach dem „Ziel des Lebens“ stellen, umso besser sind wir für kleinere oder größere Sinnkrise gewappnet.

Mehr Antworten als uns lieb sein kann

Schon die großen Philosophen von Sokrates über Aristoteles bis Kant haben sich an dieser Frage die Hirnwindungen wundgerieben. Auch die großen Religionsstifter Moses, Jesus oder Mohammed im Nahen Osten oder Buddha in Asien haben sich dieser Frage zumindest mittelbar gestellt.

Buddha etwa verortete das Ziel des menschlichen Lebens grob darin, Leiden und Leidenschaften zu überwinden und dadurch die Erleuchtung zu erlangen. Belesene Buddhisten mögen mir diese kühne Verkürzung verzeihen. Das Liebesgebot, das gleichlautend in der jüdischen Bibel wie dem christlichen Lukas-Evangelium auftaucht, lässt sich ebenfalls als eine solche Sinnbestimmung lesen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Lukas 10,26-27)

Warum?

Weniger religiös veranlagte Menschen finden in Geschichte und Gegenwart vielfältige Antworten in Philosophie und Wissenschaft: Beispielsweise als die Suche nach dem Wahren, dem Schönen und dem Guten bei Sokrates und Platon oder nach dem wahren Glück bei Aristoteles. Der wortgewaltige Friedrich Nietzsche schließlich behauptet knapp: „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie?“ („Götzen-Dämmerung: Sprüche und Pfeile“, § 12., 1888).

Dieses „Warum“ wählte der Psychiater Viktor Frankl zu seinem Lebensmotto und Kern der Sinn- oder Logotherapie. Der TED-Speaker Simon Sinek machte es zum zentralen Begriff seines Ratgebers „Start with Why“. Auch die Positive Psychologie sieht im Sinnerleben eine Säule für ein glückliches und gelingendes Leben – neben positiven Gefühlen, Flow, guten Beziehungen und Erfolgserlebnissen.

Wie finden wir dieses „Warum“?

Wenn wir die hohe Luft der Philosophen hinter uns lassen und uns in die „Niederungen“ des Arbeitsalltages begeben, dann begegnet uns in den sozialen und klassischen Medien immer öfter der Begriff „Purpose“. Eigentlich nur der englische Begriff für „Zweck“ oder „Ziel“ steht er für die Sinnhaftigkeit der Arbeit bzw. für sinnstiftende Arbeit.

In Unternehmen, die stark auf Gewinnmaximierung fokussiert sind, wird der eigentliche Unternehmenszweck oft durch die Jagd nach den Quartalszahlen verdeckt. Dementsprechend wird es zur Aufgabe für die Einzelnen und noch mehr für die Führungskräfte, diesen Unternehmenszweck und damit die Sinnhaftigkeit der Arbeit wieder sichtbar und erlebbar zu machen.

Es gibt auch Geschäftsmodelle, die für viele Menschen mehr oder weniger sinnfrei erscheinen. Entsprechend wächst bei manchen das Bedürfnis nach einer sinnvollen Betätigung, die Gutes für die Menschen und die Menschheit tut. Leider nicht so stark, dass sich die Menschen in Massen für eine Karriere als Kinder-, Kranken- oder Altenpflegekräfte entscheiden würden.

Die japanische Antwort

Jeder muss für sich entscheiden, was eine sinnstiftende Arbeit ist. Die Japaner haben als Hilfe Ikigai entwickelt. Ikigai bezeichnet grob auf Japanisch eben genau den „Sinn des Lebens“, wobei der zweite Wortteil „gai“ sehr pragmatisch auf Begriffe wie Effekt, Resultat, Frucht, Wert, Nutzen verweist.

Der Begriff existierte schon lange in der japanischen Kultur in unterschiedlichen Nuancen. Erst in den sechziger Jahren wurde er von der japanischen Psychologin Mieko Kamiya neu popularisiert. Schließlich fand er seinen Weg in den Westen, unter anderem durch die Erwähnung in einem TED-Talk von Dan Buettner über Langlebigkeit. Aber vor allem durch ein virales Kreisdiagramm, das der Blogger Marc Winn 2014 entwarf. Darin setzte er die Begriffe „Purpose“ und „Ikigai“ gleich.

Das Schöne an diesem Ansatz ist es, dass er bei uns selbst und den Menschen in unserem Umfeld ansetzt: Wir sind in dieses Leben gestellt und entdecken unser Umfeld, eigene Begabungen und Neigungen. Währenddessen stellt uns das Leben vor Herausforderungen, an denen wir wachsen oder zerbrechen können.

In vier Fragen zum Traumjob

Dementsprechend geht es bei der Suche nach dem eigenen Ikigai um vier Fragen im Zusammenhang mit dem, was wir im Leben tun:

  • Du liebst es? – Macht dir diese Tätigkeit Freude?
  • Du bist großartig darin? – Bist du wirklich begabt auf diesem Gebiet?
  • Du wirst dafür bezahlt? – Gibt es für diese Tätigkeit einen Markt?
  • Die Welt braucht es? – Braucht die Welt jemanden, der genau das tut?

Können wir alle vier Fragen bei einer konkreten Tätigkeit oder Aufgabe mit „Ja“ beantworten, hätten wir die zu uns passende sinnstiftende Arbeit gefunden. Klingt vielleicht trivial, ist es aber nicht. Unsere Fähigkeiten und die Angebote unserer Umwelt sind vielfältig. Nicht überall, wo wir hineinpassen würden, gehören wir auch hin.

Jeder Bereich zählt

Mehr noch: Auch wenn eine Tätigkeit oder eine Aufgabe kein solcher Volltreffer ist, kann sie zum Gefühl von Ikigai beitragen:

  • Wenn wir mit Geschick und Hingabe einer Sache nachgehen, leben wir eine Passion.
  • Wenn wir kompetent einer bezahlten Arbeit nachgehen, haben wir den passenden Beruf (Profession).
  • Wenn wir gegen Geld etwas tun, das die Welt braucht, gehen wir einer Berufung nach.
  • Wenn wir mit Hingabe etwas tun, das die Welt braucht, erfüllen wir eine Mission.

Eventuelle Unzufriedenheiten können wir leichter zuordnen, wenn wir erkennen, dass einer der vier Faktoren fehlt. Das ermöglicht, sich neu auszurichten und die fehlende Komponente auch noch zu integrieren. Der australische Coach Nicholas Kemp kritisiert die dargestellte Verkürzung von Ikigai auf den Arbeitskontext. Praktisch ist sie trotzdem. Zumindest, um die Sinnerfüllung in der Arbeit zu steigern.

Jenseits der Arbeitswelt

Bei allem Nutzen von Ikigai für den Beruf sollte nicht übersehen werden, dass jeder einzelne Bereich – Liebe, Geschick, Bedarf und Entlohnung – auf das Gefühl einzahlen kann, dass das Leben sich lohnt. Darin gleicht das Ikigai-Konzept dem PERMA-Modell der Positiven Psychologie. Demzufolge nimmt das Glück und das subjektive Wohlbefinden zu, wenn positive Gefühle, Flow, guten Beziehungen, Erfolgserlebnisse und eben auch Sinnerfahrungen häufig erlebt werden.

Ich zum Beispiel übe beharrlich mit einer Freizeitsport-Gruppe Judo. Mit wenig Geschick, aber viel Freude, Demut und dem Ziel, dies noch mit achtzig Jahren tun zu können. Auch wenn es dafür kein Geld gibt und ich niemanden in Not verteidigen könnte, das regelmäßige Üben in der Gemeinschaft macht das Leben immer wieder lebenswert.

Es muss also nicht immer die hohe Luft des Sinns des Lebens sein, die uns weckt, stärkt und für jeden neuen Tag belebt. Es dürfen auch die Freude und Gemeinschaft sein, die wir miteinander teilen. Und manchmal macht dies das Leben schon lebenswert genug.

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

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So klappts mit dem Schlaf trotz Sorgen

Guter Schlaf gilt als entscheidender Faktor für körperliche und mentale Gesundheit. Diese Ansätze und mentalen Strategien helfen, damit Probleme nicht die Nacht zum Tag machen.

Von Michael Stief

Mit Grauen schaue ich auf meinen Kalender, sehe die Masse von anstehenden Terminen. Wie soll ich das alles schaffen? Ich seufze verzweifelt auf, da verblasst das Bild plötzlich. Ich spüre das weiche Kopfkissen und die warme Decke über mir. Wieder einmal haben sich Arbeitssorgen in meine Träume gedrängt und mich aus dem Schlaf gerissen. Es war eine neue Arbeitsstelle, die mir derart heftig zeigte, wie schnell die Arbeit den Schlaf rauben kann. Die Herausforderung einer neuen Branche und eines viel größeren Unternehmens als je zuvor, verbunden mit großen Hoffnungen für die Zukunft, waren zu viel, um es im Wachen zu verarbeiten. So ging es mit mir im Schlaf um, bis es mich weckte und wach hielt.

Natürlich können Termindruck, Auftragsfülle uns schon um den Schlaf bringen, wenn wir bis in die Puppen arbeiten und einfach vor lauter Tun nicht ins Bett kommen. Gerade in der Rushhour des Lebens, wenn Familiengründung und erste Führungsaufgaben womöglich mit einem Hausbau zusammentreffen. Dann beginnen die Tage früher als sonst. Vielfältige Störungen und Unterbrechungen unter Tage lassen keinen rechten Arbeitsfluss aufkommen, bis nach Dienstschluss noch ein oder mehrere Stunden bleiben, um die liegengebliebene Arbeit wegzuschaffen. Dann hetzen wir zu einer längst wartenden Familie zurück. Verbringen ein bisschen Zeit zusammen, um dann vielleicht noch am Küchentisch weiterzuarbeiten. Viel zu spät gehen wir ins Bett, liegen vor lauter Überanstrengung wach oder fallen nach ein paar Folgen Netflix auf der Couch in einen traumlosen Schlaf. In der Nacht schrecken wir dann auf und stellen fest: Unser Hirn arbeitet längst schon wieder.

Epidemie der Schlaflosigkeit breitet sich aus

Kurzer Nachtschlaf wurde manchen als besonders tugendhaft und männlich gepriesen. Napoleon etwa erklärte „Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau, sechs ein Idiot“, soll aber dafür öfter auf dem Pferd eingeschlafen sein. Doch Schlaf ist nicht nur etwas für Weicheier, sondern neben Ernährung, Bewegung und geistiger Hygiene ein entscheidender Faktor für körperliche und mentale Gesundheit. Das beschreibt der Schlafforscher Matthew Walker eindrucksvoll in seinem TED-Talk „Sleep is your superpower“.

Doch in unserer modernen Gesellschaft scheint sich eine Epidemie der Schlaflosigkeit auszubreiten. Sie hat wegen unregelmäßigerer Lebensführung und Bewegungsmangel als „Coronasomnia“ in der Pandemie sogar an Fahrt aufgenommen. Schon Shakespeare hat bereits in Macbeth die Ursachen der Schlaflosigkeit verewigt, diesen „Seelenbalsam, der Hauptgang der Natur, / im Lebensmahl ein Hauptfest …“ (Akt 2, Szene 2, Vers 38-39). Dort waren es ein Mord und das schlechte Gewissen, die Macbeth um den Schlaf brachten. Im heutigen Alltag sind es eher elektrisches Licht, speziell das blaue der Computerbildschirme, die ständige Erreichbarkeit am Handy als Folge globaler Zusammenarbeit über Zeitzonen hinweg oder aus schlechter Gewohnheit.

Jüngst titelte die New York Times, dass Melatonin, ein schlafförderndes Hormon, in den USA zwischenzeitlich so häufig gegen Schlafprobleme eingenommen wird, dass nun einige davon psychisch abhängig seien. Aber ist Medikation wirklich die Lösung? Sicher nicht, dafür gibt es bessere Wege. Vorab eine wichtige Warnung: Schlaflosigkeit kann die Folge einer ernsthaften körperlichen oder psychischen Erkrankung sein. Sofern sie eine längere Zeit fortbesteht, sollte anstelle einer Selbstmedikation oder alternativer Methoden unbedingt ein Besuch beim Mediziner erfolgen.

Warum Sie nicht schlafen können

Wir Menschen verfügen über einen komplexen 24-Stunden-Zyklus, der Wachen und Schlafen durch ein komplexes Zusammenspiel von eigener Aktivität, Sinnesreizen, Gehirn, Nerven und Hormonen regelt. Dieser ist in der vormodernen Zeit entstanden und anfällig für die „unnatürlichen“ Reize in unserem gegenwärtigen Leben, wie künstliches Licht und bis in die Abendstunden hineinreichende Aktivität oder gar konzentrierte Arbeit. Verbunden mit der selbstauferlegten ständigen Erreichbarkeit im Privaten wie im Beruflichen durch Mobiltelefone und Messenger oder auch regelmäßige Teamarbeit über Zeitzonen hinweg gerät dieser Zyklus, der uns eigentlich nach Einbruch der Dunkelheit langsam in den Schlaf schaukeln sollte, ins Holpern.

Speziell das schon erwähnte Melatonin, das natürliche Schlafmittel unseres Gehirns, wird durch helles Licht direkt unterdrückt. Zusätzlich lösen Termindruck, dem Arbeitstag nachlaufende Sorgen, negative Stimmungen oder Ängste ebenfalls eine biologisch verankerte Stressreaktion aus, die sich negativ auf den Schlaf auswirkt. Ganz zu schweigen von dem Gedankenkarussell, auf dem wir manchmal wie festgebunden scheinen.

Was aber hilft gegen berufsbedingte Schlaflosigkeit? Zunächst ein maßvoller Lebensstil mit ausreichenden Auszeiten, gesunder Ernährung und Bewegung. Denn unser Körper ist kein Formel-1-Wagen, der sich nach Belieben zu höchsten Drehzahlen antreiben und augenblicklich wieder abbremsen lässt. Wo dies nicht immer gelingt, helfen gute Gewohnheiten.

Gute Gewohnheiten sind der halbe Schlaf

Zum Beispiel ein bewusstes Zeitmanagement. Das muss nicht perfekt sein, sodass wir zu jedem Zeitpunkt Druck oder Versagensängste ausschließen könnten. Wichtig ist lediglich eine klare Orientierung, was es zu tun gibt, was wir geschafft haben und was noch zu tun oder was liegengeblieben ist. Daher empfehlen Zeitmanagement-Experten wie Lothar Seiwert, den zurückliegenden Tag abzuschließen und den folgenden zu planen. Und zwar am Abend, nicht erst am folgenden Morgen. Denn das gibt uns noch vor dem Schlafengehen eine gute Orientierung für den nächsten Tag und kann so helfen, loszulassen.

Auch ein kurzes Workout unterstützt dabei, die vom Tagesstress bedingte körperliche und nervliche Aktivierung auszuagieren und zurückzufahren. Dazu braucht es keinen Weg ins Fitnessstudio. Ein einfaches Bodyweight-Training oder eine kurze Laufrunde bauen die körperlichen Folgen eines stressigen Arbeitstages ab. Zusätzlich lässt sich mit Yoga-Übungen das Entspannungssystem des Körpers aktivieren: Der Parasympathikus-Nerv, der einmal aktiv ein Anti-Stress-Programm aktiviert. Auch ein Abendspaziergang im Dunkeln fördert Entspannung und Schlafbereitschaft: Im Dunkeln springt die Melatonin-Produktion an und das Gehen agiert den Stress aus.

Notfallmaßnahme für den Fall der Fälle

Christen können zusätzlich die Praxis des Abendgebetes kultivieren: Ob in Form eines freien Gebetes oder als „Komplet“, als abendliches Stundengebet, wie es etwa die Benediktiner praktizieren (und auch ins Internet übertragen; https://erzabtei.de/live). Dabei schließen wir den Tag vor uns selbst und vor Gott ab und bitten um Schutz und Geborgenheit. Ähnlich hilft regelmäßiges Journaling, den Geist von den Alltagssorgen zu entlasten. Regelmäßiges Niederschreiben der Tagesereignisse, getrennt nach Dingen, die gut gelaufen sind, die belasten oder Hoffnungen wecken, stärken nachweislich das mentale Wohlbefinden und bereiten damit einem gesunden Schlaf die Basis.

Für die Fälle, in denen alle guten Gewohnheiten zusammenbrechen, die beruflichen Sorgen überhandnehmen und uns aus dem Schlaf reißen, hilft folgende Notfallmaßnahme. Die Wirksamkeit ist durch die Forschungen der Psychologen Pennebaker (Expressives Schreiben) und Neff (Selbst-Empathie) nachgewiesen und auch mir hat sie in solchen nächtlichen Gedankenstürmen Ruhe verschafft: Wenn du nicht in den Schlaf findest, steh – sozialverträglich – auf (laut Matthew Walker spätestens nach 25 Minuten). Finde einen ruhigen Platz, Papier und einen angenehmen Stift. Schreib dann fünfzehn Minuten lang alles auf, was dir durch den Kopf geht, ohne groß zu formulieren oder zu korrigieren.

Nächtliches Sorgen löst selten Probleme

Wenn dir die Worte fehlen, schreib einfach auch das auf. Ist die Gedankenfülle groß, schreib einfach weiter, bis du das Gefühl hast, jetzt sei alles aufgeschrieben. Dann lege Stift und Papier weg und geh direkt (allenfalls mit einem Umweg zu Toilette und Wasserhahn) ins Bett. Am nächsten Tag kannst du dann dein Geschriebenes noch ruhen lassen oder gleich reflektieren und so aus deinen Nachtgedanken noch einen Nutzen ziehen. So habe ich es damals gemacht, als mir Sorgen und Arbeitsdruck den Schlaf raubten. Es brauchte eine Dreiviertelstunde, um mir alles von der Seele zu schreiben. Dann aber war es gut, ich konnte noch drei Stunden ruhig schlafen und war am Morgen handlungsfähig.

Zu guter Letzt dürfen wir uns auch sagen: Die Arbeit ist nicht das Entscheidende im Leben und nächtliches Sorgen löst selten Probleme. Eher hilft die heilsame Erkenntnis des Psalmisten: „Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne.“ (Psalm 4,9) In diesem Sinne: angenehme Ruhe!

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).