Vor dem Nichts: Wie ein Fotograf in der Krise den Livestream entdeckte
Im Lockdown stand der Fotograf Frank Wiedemeier vor dem Nichts. Doch die Krise half ihm, einen ganz neuen Berufszweig für sich zu entdecken.
Innerhalb eines Jahres hat sich mein berufliches Leben komplett verändert. Noch im März 2020 sah alles rosig aus. Der alljährliche Skiurlaub in den Alpen mit guten Freunden begann am Frühstückstisch zwar immer mit einem Blick auf die aktuelle Viruslage, aber schnell waren wir bei den Wetteraussichten für den Tag, parlierten über Temperaturen, Sonnenstunden und Abfahrtsrouten. Doch plötzlich, als hätte jemand den Zeitraffer angestellt, ging es Schlag auf Schlag. Und während auf der österreichischen Seite die Pisten geschlossen wurden, war auf der Schweizer Seite noch die Rede von reduzierten Liftpreisen, weil man ja nun nur in der Hälfte des Skigebiets unterwegs sein könne. Doch der Wunsch nach Schweizer Virus-Neutralität hielt nicht lange. Am 13. März 2020 wurden alle Pisten der Silvretta Arena geschlossen und die Gäste zur geordneten Rückreise aufgefordert. Genossen wir vor drei Tagen noch Pulverschnee und Après-Ski, so wurden wir bei der Einreise nach Deutschland dazu aufgefordert, freiwillig für 14 Tage in Quarantäne zu gehen. Willkommen in der Realität.
Absage folgt auf Absage
Die Folgen für mich als freiberuflicher Fotograf kamen in rasender Geschwindigkeit. Veranstaltungen, die ich dokumentieren sollte, wurden ebenso wie gebuchte Workshops und Seminare abgesagt. Mein noch im Frühjahr 2020 neu eingerichtetes Fotostudio, das ich nach einem erfrischenden Urlaub richtig beleben wollte, konnte ich wieder verschließen. Es hagelte Jobabsage auf Jobabsage. Was also tun, wenn das Geplante überhaupt nicht mehr funktioniert? Wenn die Haushaltsplanung zur Makulatur wird, wenn Kosten weiterlaufen, der nächste Erste schneller da ist, als man schauen kann, wenn angesparte finanzielle Reserven wie Schnee in der Frühjahrssonne dahinschmelzen? Eines war mir schnell sonnenklar: Es galt, das Ruder binnen kürzester Zeit herumzureißen. Aber auf welchen Kurs?
Alles begann mit einer schlichten Bestandsaufnahme. Was kann ich? Was habe ich? Was könnte gebraucht werden? Was kann ich anbieten, um eine neue berufliche Perspektive zu gewinnen? So sonderbar es aus heutiger Sicht auch klingen mag, aber mir schoss damals der Gedanke „Livestreaming“ durch den Kopf. Möglicherweise auch, weil sich unsere Kirchengemeinde mit der Aufgabe konfrontiert sah, eine Möglichkeit zu suchen, um im Lockdown Menschen einen sonntäglichen Gottesdienst bieten zu können. Alles, was ich zum Streaming benötigte, hatte ich bereits in meinem Studio. Licht, Kameras, Stative, Computer, Glasfaseranschluss. So begann der erste Gedanke, konkrete Formen anzunehmen. Wie ein trockener Schwamm sog ich jede Information zum Thema Livestreaming auf, die ich finden konnte.
Langsam wächst das Wissen
YouTube-Videos zu Hard- und Software, unzählige Anwenderberichte füllten meinen Alltag. Kürzel wie RTP, RTSP, WebRTC, SRT, NDI, DVE, LUT, BT.709 oder 12G-SDI zogen in meinem Kopf ein und erschlossen sich mir nach und nach. Doch grau ist alle Theorie. Praxis musste her, und zwar schnell. Bereits im ersten Monat mit meinem neuen Arbeitsgebiet begann ich mit der Übertragung des sonntäglichen Gottesdienstes. Zunächst mit einer Kamera, dann – man will den Zuschauern ja etwas bieten – mit einer zweiten Kamera. Mit jedem dieser Livestreams nahm die Erfahrung zu, wuchs das Verständnis: Ton über XLR ist schneller als das Videosignal über HDMI, die Latenz zwischen der Aufnahme vor Ort und dem Stream auf der Webseite liegt schon mal bei 30 Sekunden, ein Kamerawechsel sollte nicht mitten im Satz erfolgen und, und, und.
Auf diese Weise erprobt und autodidaktisch fortgebildet bin ich auf meine Kunden zugegangen, habe mein neues Angebot vorgestellt und stieß auf offene Türen. Denn auch ihnen war schnell klar geworden, dass diese „neue Zeit“ neue Wege der Kommunikation erfordern würde. Wurden Plattformen wie ZOOM, MS Teams oder GoTo-Meeting zu Beginn des vergangenen Jahres kaum wahrgenommen, so schossen deren Nutzerzahlen ab Frühjahr 2020 in die Höhe. Mehr und mehr wurden Events von analog auf digital umgestellt – und ich wollte dabei sein.
Plötzlich Remote-Stream
Nach und nach nahm das Ganze Fahrt auf. Zu den ersten Streams gehörte beispielsweise der eines Landesministeriums. Minister und alle Hauptabteilungsleiter gingen zu einem definierten Termin pünktlich auf Sendung und erreichten eine große Zuschauerschaft. Ein anderer Stream bildete einen siebenstündigen Event ab. Zwei Bühnen, Referenten vor Ort sowie zugeschaltet über ZOOM. Dazu Einspieler und Chats. Spannend war auch der erste reine Remotestream. Per Tablet-Kamera wurde die Moderatorin aus Gelsenkirchen mit zwei Musikern aus Wuppertal, die ihrerseits mit zwei Smartphones aufgenommen wurden, live im Studio in Jüchen-Wey zusammengeschnitten und von dort aus gestreamt. Dabei erfolgte die Steuerung der zugeschalteten Tablet- und Smartphonekameras direkt aus dem Studio.
70 Streams und gewachsene Ansprüche
Heute, exakt ein Jahr später, kann ich auf über 70 Streams zurückblicken. Mit jedem wächst die Erfahrung, mit jedem weiß ich mehr um die Tücken, die oftmals im Detail liegen. Jeder Stream hat seine völlig eigenen Anforderungen. Um hier die Fehlerquote möglichst gering zu halten, habe ich begonnen, im Team zu arbeiten, mit einem Ton- und einem Kameramann. Auch dies ist eine neue Erfahrung für mich, denn als Fotograf bin ich immer alleine unterwegs. Gemeinsam checken wir jeden Job vorab durch. Navy Streamer eben. Jeder Handgriff muss sitzen, auch bei Dunkelheit.
Mit der Zeit wuchsen aber auch die Erwartungen der Kunden sowie meine eigenen. Welche Kameras wollen wir beim nächsten Mal anders kombinieren? Wie optimieren wir Makros, um Abläufe automatischer zu gestalten? Wie vereinfachen wir die Zuschaltung für externe Referent:innen noch weiter? Wie können wir das gesprochene Wort live als Text einblenden? Aber auch klassische Fragen nach Kostenoptimierung stehen auf dem Programm. Wie optimieren wir Kabelwege? Wie reduzieren wir Rüstzeiten? Wie können wir schneller aufbauen? Was brauchen wir an Technik, um noch besser zu werden? Im Ergebnis sind alte Kameras verkauft und neue erworben worden. Das erste Mischpult wurde bereits durch den dritten Nachfolger ersetzt. Die ersten Lichtquellen, einfache LED-Panels, sind gegen leistungsfähige LED-Strahler getauscht. Die Streaming-Hardware ist ebenfalls in dritter Generation im Einsatz. Papierbahnen mit Sprechertexten, die direkt vor der Kamera aufgehängt wurden, sind durch einen professionellen Teleprompter ersetzt worden. Von Kabeln und Adaptern will ich gar nicht sprechen. Das Studio gleicht einem kleinen Foto- und Videofachgeschäft.
Vom One-Man-Fotografen zum Team-Player-Livestreamer
Nach dem ersten Schock und der bangen Frage nach dem, wie meine berufliche Zukunft aussehen würde, habe ich zeitnah auf Aktion umgestellt. Als Unternehmer muss ich auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren und mein Angebot entsprechend anpassen. Dies konnte aber auch nur gelingen, weil ich Kunden habe, die sich darauf eingelassen und es mir ermöglicht haben, diesen Weg wirtschaftlich zu gehen.
Durch Covid-19 hat sich mir ein neuer Arbeitsbereich eröffnet. Aus einem One-Man-Fotografen wurde ein Team-Player-Livestreamer. Bin ich ein Pandemie-Gewinner? Bin ich Covid-19 gar dankbar? Nein, weder noch. Ich habe nach einem Weg gesucht, um trotz der vielen Einschränkungen wirtschaftlich zu überleben. Den habe ich für mich gefunden. Dankbar bin ich denen, die mir die Chance gegeben haben, diesen Weg zu gehen.
Frank Wiedemeier ist freier Fotograf mit dem Themenschwerpunkt Wirtschaft (streamboxstudio.de).
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