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Martin Kielbassa ist Kriminalkommissar in Essen. Bild: Rüdiger Jope

Kriminalkommissar: „Ich will Menschen davon abhalten, Straftaten zu begehen“

Martin Kielbassa jagt seit mehr als 40 Jahren Verbrecher. Doch er möchte auch verhindern, dass junge Leute überhaupt straffällig werden. Er berichtet, was ihn bewegt, was sich verändert hat und welcher Fall ihn nicht loslässt.

Es ist 7:28 Uhr in Essen-Steele. Ich drücke die Klingel an einem in die Jahre gekommenen Klinkerbau. „Polizeipräsidium Essen.“ Es surrt. Auf den gesprenkelten Terrazzoplatten tritt mir Essens 1. Kriminalhauptkommissar Martin Kielbassa (62) entgegen. Jeanshose und blauer Pulli statt Uniform und Waffe. Er wirkt locker. Seine Augen strahlen. Schon im ersten Moment spüre ich: Hier brennt einer für seinen Beruf und die Menschen.

Zwei Stockwerke höher. Wir sitzen vor zwei Bildschirmen. Martin überfliegt die Meldungen, die in der Nacht reingekommen sind. Ihm ist es wichtig, „vor die Welle zu kommen“. Er liest sich in zwei Wohnungseinbrüche, ein Drogendelikt, einen Raubüberfall und einen Erpressungsversuch ein. Das Telefon klingelt. „Ja, habe ich gelesen, spreche ich nachher in der großen Dienststellenrunde an. Nein, beim Spiel von Rot-Weiss Essen verlief diesmal alles normal. Glück auf!“ Dampf steigt auf aus zwei Kaffeetassen mit der Aufschrift „Grün ins Grau“.

Feuerwerkskörper, Rollerdiebstahl und Führungsbunker

7:57 Uhr. Stimmengewirr. Zehn Männer und drei Frauen haben sich zur donnerstäglichen Dienstbesprechung ins Zimmer ihres Chefs gequetscht. Auf dem Tisch ein grüner Adventskranz. „Hat jemand Streichhölzer für die Kerzen?“ „Wie war das mit ‚kein offenes Feuer in Diensträumen‘?!“ Gelächter. „Vanessa, ich wollte dir vorhin helfen, dein Auto von der Kreuzung zu schieben, doch gerade da rief der Staatsschutz an …“, sagt jemand. Ein anderer witzelt: „Deinen Smart schiebt man doch mit einer Hand.“ Lachen. Lebkuchen werden rumgereicht. Martin moderiert, hört aufmerksam zu, schreibt mit. „Bitte gebt noch eure Urlaubsanträge für 2024 ab. Und nochmals ein dickes Dankeschön an die zwei, die sich für den Bereitschaftsdienst an Silvester gemeldet haben. Zwei von uns sind übrigens in der nächsten Woche in die Mordkommission abgeordnet.“

Dann gibt er die Runde frei und berichtet, was sich in der letzten Woche in Essen und Mülheim an der Ruhr getan hat. „Bei Amazon wurden von einer Person explosive Stoffe in größerer Menge bestellt. Die Kollegen haben eins und eins zusammengezählt und bei einer Hausdurchsuchung eine größere Menge Feuerwerkskörper sichergestellt. Derzeit prüfen wir, ob ein Straftatbestand vorliegt …“ „Im Fall der Rollerdiebstähle haben wir vier Jugendliche festgenommen. Erste Ermittlungsergebnisse erwarte ich Mitte nächster Woche.“ „Vom Raubüberfall auf die zwei Supermärkte liegen jetzt gute Bilder im Fahndungsportal. Die Typen waren sehr auffällig, die werden mit Sicherheit bald gefasst.“ „Nach unserer Observation ist das SEK bei dem alten Mann rein. Der hat sich im Keller einen kleinen Führungsbunker eingerichtet. Es wurden Waffen sichergestellt. Bei ihm liegt wohl eher eine Erkrankung als eine Gefährdung vor. Er wurde in die Klinik eingewiesen.“ „Ein Arzt in der Uni-Klinik wurde mit einer Glasflasche angegriffen. Wir haben das Ganze als versuchten Tötungsdelikt eingestuft.“ „Eine aufmerksame Nachbarin hat uns auf den Drogenhandel in ihrer Nachbarschaft aufmerksam gemacht. Wir konnten den Tatverdächtigen festnehmen. In der Hand hatte er eine Plastiktüte mit allem, was das Herz begehrt …“

Vom Hauptschüler zum Hauptkommissar

8:55 Uhr. Wir sind unterwegs im Auto. Martin begleitet heute zwei Jugendkontaktbeamte in Essener Schulen. Ich lerne: „Prävention ist der beste Opferschutz.“ Erst mal stehen wir im Stau. Das Handy schweigt. Gelegenheit zum Nachfragen. „Wolltest du schon immer Polizist werden?“ Martin lacht und schüttelt den Kopf. „Mein Vater war Schlosser. Er meinte, dass die Hauptschule für mich langt, um schlau zu werden. Zu viel Intellekt verhindere zudem nur den christlichen Glauben.“ So tut Martin nicht mehr, als er muss, erlernt nach der 9. Klasse den Beruf des Kfz-Mechanikers. Bei der Bundeswehr verschlägt es ihn zu den Feldjägern. Diese arbeiten mit der Polizei zusammen. Dabei entdeckt er: Das ist „ein toller Job, der macht mir Spaß“. Er holt das Fachabitur nach, geht als Polizist auf Streife, schreibt sich zum Studium an der Polizeihochschule ein, wird Kriminalbeamter, leitet Brand-, Umweltdelikt-, Einbruchs-, Automatensprengungs- und Mordermittlungen und die Ermittlungsgruppe Jugend. Die Ampel springt auf grün. Es läuft, bei ihm und im Verkehr.

9:28 Uhr. Gesamtschule Essen Nord. Grau statt grün. Große Löcher klaffen in der Decke. Ein Riss zieht sich über die Wand. Eine alte Tafel, der Geruch eines feuchten Schwammes wabert durch den Raum. An der Pinnwand prangt ein vergilbter ZEIT-Artikel „Auf nach Mekka“. Die Jugendkontaktbeamtin Vanessa begrüßt die 8c. Die Jugendlichen wirken schüchtern. „Seid ihr immer so ruhig?“ Bei den Stichworten „Videos“ und „Mobbing“ brodelt es. „Darf ich den schlagen, der meine Mutter beleidigt hat? War doch nur ein Klatscher!“ Vanessa hört zu, fühlt sich ein, fragt nach, aber eiert auch nicht rum. Mit der Pistole im Halfter steht sie hier auch für einen sprachfähigen und wehrhaften Staat. Vier Halbwüchsige drängeln sich in den Vordergrund. „Jugendarrest ist doch wie Probewohnen im Knast“, entfährt es dem Einen belustigt. „Den Vater des Wortführers und seine Brüder kenne ich. Wenn die schon im Knast sitzen, ist es schwierig, aus der Vita der Familie auszusteigen“, merkt Martin nachdenklich auf dem Weg nach draußen an. Präventionsarbeit ist Sisyphusarbeit, aber „sie lohnt sich, denn jeden Euro, den wir hier investieren, müssen wir hinterher nicht in die Aufklärung und den Strafvollzug stecken“.

Tatorte und ein offener Fall

11:17 Uhr. Dank des grünen Pfeils dürfen wir rechts abbiegen. Die Straßen und Plätze auf dem Weg zur nächsten Schule erzählen Kriminalgeschichten. „Dort in der Einfahrt habe ich mal einen Autodieb festgenommen.“ „Hier an der Ecke haben wir einen Erpresser observiert.“ „Da drüben wurde ein Geldautomat gesprengt.“ „In das geöffnete Fenster im ersten Stock warf ein Schüler im Übermut eine Wunderkerze. Beim anschließenden Wohnungsbrand starb eine Frau.“ „Gibt es einen Fall, der dir noch nachhängt?“, frage ich. „Ja, für die Aufklärung dieser Geschichte würde ich sogar aus dem Ruhestand zurückkommen“, entfährt es dem 61-Jährigen spontan. Ein Mann meldet seine Frau als vermisst. Im Verhör verstrickt er sich. „Doch trotz intensiver Ermittlungsarbeiten hatte ich nur Indizien in der Hand. Die Leiche wurde bis heute nicht gefunden. Der Staatsanwalt signalisierte mir: ‚Martin, das langt nicht‘, obwohl ich zu 100 Prozent sicher bin, dass er der Täter ist.“ Ich spüre: Das nagt an ihm, auch Jahre nach Einstellung der Ermittlungen noch.

12:29 Uhr. „Glückauf“-Hauptschule in Essen. Auch dieser Schule mangelt es an Grün. 10. Klasse. Elf Jungs und drei Mädels sind anwesend, zwölf machen heute blau. Jürgen, der Jugendkontaktbeamte, referiert zum Thema „Online-Sicherheit“. Er füllt den Raum mit gelebter Präsenz, einem gesunden Selbstbewusstsein, enormem Hintergrundwissen und Schlagfertigkeit. Der ehemalige IT-Experte hat hier seine Berufung gefunden. Dem Polizisten gelingt es, den Schülerinnen und Schülern trotz deren permanenten Toilettengängen und Zwischenrufen Aufmerksamkeit abzuringen und sie für einen vorsichtigeren Umgang mit dem Internet zu sensibilisieren.

13:45 Uhr. Martins Magen knurrt. Doch zwischen Wettstuben und Shisha-Bars lässt sich kein Bäcker mehr finden. Knapp 40 Jahre ist er jetzt in Essen als Polizist unterwegs. „Was hat sich geändert in den Jahren?“, frage ich. „Der Respekt gegenüber der Polizei hat abgenommen. Wir haben es mehr mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu tun. Die Clan-Kriminalität ist hinzugekommen und früher gab es keine Prävention. Da wurde nur ermittelt und weggesperrt. Heute will ich Menschen davon abhalten, Straftaten zu begehen. Mein Ziel ist es, vor die Welle zu kommen. Dafür brenne ich“, sagt’s und winkt eine Frau mit Kinderwagen über den Fußgängerüberweg. Während er wieder Gas gibt, bohre ich nach. „Was wäre aus deiner Sicht wünschenswert?“ Martin überlegt nicht lange. „Ich wünsche mir wieder Eltern, die ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen und frühzeitig Grenzen setzen. Wenn Mama und Papa keine Vorbilder sind, was soll dann aus den Kids werden?“ Martins Worte fließen jetzt wie der Verkehr vor uns: „Wir haben als Polizei einen pädagogischen Auftrag. Mich und mein Team spornt es an, Jugendlichen Hilfe anzubieten, damit sie nicht (mehr) straffällig werden.“

Vor Gott sind alle Menschen gleich

14:05 Uhr. Wieder im Präsidium. Martin hat einen Apfelstrudel aufgetrieben. Er schenkt mir Kaffee ein. Ich spüre: Der 61-Jährige hat noch Freude an seinem Job. Neugierig hake ich nach: „Wie hast du dir diese Frische behalten? Wie bleibst du positiv in all dem Bösen?“ „Mein christlicher Glaube gibt mir jeden Tag Halt, Kraft und Zuversicht. Ich glaube an einen Gott, der mich geschaffen hat, der auch mich reparieren will und kann. Und dieser Gott differenziert nicht – du bist schuldig, egal, ob du jemanden getötet oder jemanden angelogen hast. Weil es ein Gott der zweiten Chance ist, will ich diese auch anderen geben.“ Martin geht mit seinem Christsein offen um. Da frotzelt schon auch mal jemand. „Du als Christ machst das so?“ Oder er wird mit dem Namen „Der barmherzige Martin“ betitelt. Das Telefon klingelt. „Martin, kannst du am Wochenende kurzfristig die Leitung der Gefangenensammelstelle beim Fußballspiel von Rot-Weiss Essen übernehmen?“

15:18 Uhr. Zeit für Verwaltungskram. Martin stöhnt. Führungskraft ist er jedoch gern. Sein Bestreben ist es, Mitarbeitende an der richtigen Stelle zur Entfaltung zu bringen. „Ich will den Menschen in meinem Team den Rücken freihalten. Sie sollen hier befreit aufspielen. Wenn sie glücklich sind, bringen sie auch Leistung“, spricht’s und zitiert im nächsten Atemzug seinen Lieblingsbibelvers. „Wer unter euch der Größte sein will, sei euer Diener“ (Matthäus 23,11). Er macht sich auf in die Küche, um den Stoß dreckiger Kaffeetassen abzuspülen.

18:35 Uhr. Martin sitzt hinter Gittern in der JVA Bochum. Um ihn in der Kapelle im Stuhlkreis herum 13 Inhaftierte. Er hört den Gefangenen zu, ermutigt sie, erzählt von seinem Glauben als Christ und feiert mit denen, die er und seine KollegInnen morgens hinter Schloss und Riegel brachten, einen Gottesdienst. Fröhlich greift er in die Saiten seiner Gitarre und schmettert mit ihnen adventlich im Chor „Macht hoch die Tür“.

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. Seit Januar 2024 geht er im Ehrenamt der Aufgabe eines Jugendschöffen am Amtsgericht Hagen nach.

General: „Soldaten stehen im Dienst an der Gesellschaft“

Seit dem Krieg in der Ukraine steht die Bundeswehr besonders im Fokus. General Jürgen-Joachim von Sandrart ist Soldat in zehnter Generation und erklärt, wie Soldaten der Gesellschaft dienen und selbst Gefahren auf sich nehmen.

Eigentlich wollte er Land- und Forstwirt werden, um dann, wie sein Großvater nach dem Ersten Weltkrieg, in Argentinien eine Farm aufzubauen. Aber dann kam alles anders. Jürgen-Joachim von Sandrart wurde Soldat und führte damit eine noch ältere Familientradition in der zehnten Generation fort. Er absolvierte die damals übliche Wehrpflicht, verpflichtete sich anschließend für zwei Jahre und schlug die Laufbahn zum Reserveoffizier ein. Als Zeitsoldat studierte er an der Universität der Bundeswehr in Hamburg Wirtschafts- und Organisationswissenschaften. Mit einem Schmunzeln denkt er an diese Zeit zurück: „Ich bin sicherlich kein Vorzeigestudent gewesen. Ich habe das Studium gemacht, weil es ein Auftrag war, eher schlecht als recht. Für mich stand immer im Vordergrund, Soldat zu sein – mit Menschen im Team zu arbeiten, zu gestalten und ein Team zu führen –, nicht Wirtschaftsakademiker.“ Da lag es nahe, dass er nach dem Studium schließlich Berufssoldat wurde. Auch seine zukünftige Frau Harriet fand ein Ja dazu. 1991 heirateten die beiden.

GEFÄHRDETE BEZIEHUNG

Er arbeitete sich hoch vom Leutnant bis zum Oberst. Dazu gehörte auch der häufige Wechsel der Standorte Hamburg – Lüneburg – Strasburg – Rosengarten – Wöhrden bei Stade – und damit verbunden viele Umzüge für die Familie von Sandrart. 2008 entschied sich das Ehepaar für eine Fernbeziehung zugunsten einer kontinuierlichen Schulbildung und einem stabilen Umfeld für die Kinder. Mutter Harriet zog mit den drei Söhnen und der Tochter nach Stade. Vater Jürgen-Joachim kam an den Wochenenden von seinem jeweiligen Standort angereist. Eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Sie sind dankbar, dass sie das als Familie und Paar so gut gemeistert haben. Das ist nicht selbstverständlich, denn die Scheidungsrate bei der Bundeswehr liegt deutlich im höheren zweistelligen Bereich.

Herausfordernd waren auch die Auslandseinsätze, an denen Jürgen-Joachim von Sandrart teilgenommen hat. Dreimal war er für jeweils mehrere Monate im Einsatz, dazu zählten Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan. Hier überlebte er 2011 nur knapp einen Anschlag, bei dem elf Menschen getötet und neun weitere schwer verletzt wurden. Bis heute redet er in der Öffentlichkeit „sehr ungern“ über dieses Ereignis. Er befürchtet, dass viele nur eine Abenteuergeschichte hören wollen und darüber vergessen, wie traurig und auch traumatisch alles war. Und wenn er doch etwas erzählt, dann spiegelt seine Mimik und Gestik wider, wie nah ihm das alles geht, auch heute noch, mehr als zwölf Jahre später. „Ich bin dankbar, dort unversehrt herausgekommen zu sein. Wir haben Kameraden verloren, die ich beide auch sehr gut kannte. Ich bin dankbar für eine herausragend gute Ausbildung, die mir erlaubt hat, zu überleben und richtig zu reagieren. Und ich danke dem lieben Gott.“ Den „lieben Gott“ kennt er von Kindesbeinen an. Der christliche Glaube wurde in seinem Elternhaus ganz natürlich gelebt und prägt bis heute seinen Alltag. „Das Ungewisse ist eine wesentliche Herausforderung des soldatischen Lebens. Wenn Sie im Einsatz führen, wissen Sie letztendlich nie zu hundert Prozent, was auf einen zukommt; wir bezeichnen dies als Handeln und Führen ins Ungewisse. Es gibt keine hundertprozentige Gewissheit, wie sich Dinge entwickeln werden, welche Herausforderungen vor einem liegen, welche Entscheidungen man treffen muss für die einem Anvertrauten und für sich selbst. Sie müssen sich in jeder Situation fragen: Was ist jetzt zielführend? Was ist richtig? Was ist auszuschließen? Was ist zweckmäßig?“

GEFÄHRDETES LEBEN

Vielleicht konnte er deshalb nach dem Anschlag in Afghanistan schneller wieder zur Tagesordnung übergehen. „Weitermachen! Wir wissen, dass das zum Soldatenberuf dazugehört“, war und ist seine Devise. Spätestens jetzt wird deutlich, dass „Soldat“ kein Beruf ist wie jeder andere. In kaum einem anderen Beruf legt man einen Eid ab, in dem man gelobt, „… der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe“. In letzter Konsequenz kann das bedeuten, dass „der Beruf auch hinter das irdische Leben führen kann“, so umschreibt es Jürgen-Joachim von Sandrart.

Trotzdem legt er an den Soldatenberuf letztlich die gleiche Messlatte an wie an jeden anderen Beruf. „Jeder soll sich authentisch, aufrecht und mit aller ihm zur Verfügung stehenden Energie seinem Berufsfeld widmen. Als Soldat stellt man sich in den Dienst einer Gesellschaft. Das tun viele Berufsfelder: Pfleger, Lehrer, Blaulichtorganisationen, Politiker, Pastoren und viele mehr. Der Unterschied zum Soldatenberuf liegt in der Tatsache begründet, dass sich der Soldat verpflichtet, notfalls mit seinem höchsten Gut – seinem Leben – für die Gesellschaft einzustehen.“ Diese Sicht findet sich auch im Selbstverständnis der Bundeswehr, das in diesen drei Worten zusammengefasst ist: „Wir.Dienen.Deutschland.“ 2020 hat von Sandrart als Kommandeur der 1. Panzerdivision Oldenburg anhand dieser drei Worte das Alleinstellungsmerkmal des Soldatenberufes und sein persönliches Führungsverständnis als Soldat und Kamerad in einem Kommandeur-Brief entfaltet. 20.000 Soldatinnen und Soldaten, für deren Ausbildung und Führung er als Generalmajor zuständig war, lasen seine Ausführungen. Darin, wie auch in Ansprachen an die jungen Feldwebel und Offiziere, zitiert er die Bibel. Zum Beispiel Worte aus dem Epheserbrief: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ „Für mich war der christliche Glaube immer das hilfreichste Koordinatenkreuz“, erklärt er. Missionieren will er auf keinen Fall. Er ist davon überzeugt, dass man auch in anderen Glaubensrichtungen und Werteverständnissen die gleichen fundamentalen Prinzipien des menschlichen Miteinanders findet wie im Christentum.

GEFÄHRDETER FRIEDEN

2021 nahm Jürgen-Joachim von Sandrart die nächste Karrierestufe. Er übernahm sein jetziges Kommando und wurde zum Generalleutnant ernannt. Als kommandierender General des Multinationalen Korps Nordost in Stettin ist er der höchste taktische militärische Führer für Landoperationen an der NATO Nordostflanke. Der Verantwortungsbereich des Multinationalen Korps Nordost umfasst die Länder Estland, Lettland, Litauen und Polen, die sämtlich eine gemeinsame Landgrenze mit Russland und Belarus teilen. Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 hat sein Korps, das aus vierundzwanzig Nationen besteht, eine ganz neue Bedeutung bekommen. Jürgen-Joachim von Sandrart trägt damit auch eine große Verantwortung. „Das Risiko, dass sich dieser Krieg ausweitet über das derzeitige Kriegsgeschehen in Russland und der Ukraine hinaus, ist grundsätzlich gegeben. Daraus sollte keine Untergangsstimmung entstehen, sondern daraus muss der Ansporn entstehen: Es ist wert, sich dafür einzusetzen, dass wir es gemeinsam hinbekommen, die Ausweitung des Krieges zu verhindern und gleichzeitig der Ukraine helfen, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Und ich bin auch sicher, dass wir das schaffen! Aber dafür müssen wir noch konsequenter sein. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass es keine schnelle Lösung zum Besseren geben wird.“

Bis Ende 2024 steht Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart noch dem Multinationalen Korps Nordost vor, das als „Schlüsselelement der Abschreckung und Verteidigung an der Nordostflanke der NATO in Europa“ fungiert, wie auf der Homepage der Bundeswehr zu lesen ist.* Wie es danach für den Generalleutnant weitergeht, ist noch nicht entschieden. Obwohl die Bundeswehr für ihn nur ein Plan B gewesen ist, hat ihn „der Zauber guter Führung und früher Verantwortungsübertragung bis heute aus inniger Überzeugung an den Soldatenberuf gefesselt“. Mit einem zufriedenen Lächeln kommentiert er das so: „Heute bin ich Hobby-Landwirt. Aber im Wesentlichen: Ehemann, Vater und Soldat! Und das sehr gerne. Ich bereue keine Minute meine Entscheidung! Mein unendlicher Dank gilt meiner Frau und den Kindern, die die Last der Wochenendehe, der Einsätze und der vielfältigen dienstlich begründeten Wechselspiele so großmütig und verständnisvoll getragen haben.“

Sabine Langenbach ist Journalistin, Moderatorin und Autorin. Mit einer Mischung aus Feingefühl und Hartnäckigkeit hat sie schon so manchem Interviewpartner vor Mikrofon, Kamera und Publikum Unerwartetes entlocken können. Als „Die Dankbarkeitsbotschafterin“ veröffentlicht sie regelmäßig den Montagsimpuls auf ihrem YouTube-Kanal. sabine-langenbach.de

General Jürgen-Joachim von Sandrart (61), verheiratet, vier erwachsene Kinder. Seit November 2021 ist er Kommandierender General des Multinationalen Korps Nordost in Stettin. Als taktischer Führer ist er verantwortlich für alle Landoperationen an der NATO-Nordostflanke, die an Russland und Belarus grenzen: also Estland, Lettland, Litauen, Polen. Der Korpsstab besteht aus vierundzwanzig Nationen und führt derzeit unter anderem mehrere Divisionen und Brigaden. *bundeswehr.de/de/organisation/heer/organisation/multinationales-korps-nordost

Michael Blume (Foto: SCM Bundes-Verlag / MOVO / Rüdiger Jope)

„Jedes Leben zählt!“: Der Mann, der 1.000 Menschen rettete

Michael Blume hat 1.000 jesidischen Frauen und Kindern geholfen, aus dem Nordirak zu fliehen. Wie kam es dazu?

Herr Blume, am 23. Dezember 2014 bekamen Sie aus dem Auswärtigen Amt und dem Innenministerium in Berlin „gelbes Licht“ für welche Aktion?

Michael Blume: Das Land Baden-Württemberg dürfe 1.000 jesidische Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufnehmen, die sich auf der Flucht vor dem IS befanden. Allerdings war es nur „gelbes Licht“, weil die sagten: „Wir spielen doch nicht den Buhmann und verbieten eine humanitäre Aktion. Macht es, aber bitte auf eigene Verantwortung und auf eigenes Risiko!“

Welche Frage stellte Ihnen Ministerpräsident Winfried Kretschmann daraufhin?

Blume: Er fragte mich: „Würden Sie es denn machen, Herr Blume?“

Sie kamen sich vor wie im Film „Schindlers Liste“. Sie besprachen diesen wahnsinnigen Auftrag mit Ihrer Frau. Sie schaut Ihnen in die Augen und sagt?

Blume: Meine Frau ist Muslimin. Sie schämte sich sehr, was der IS im Namen ihres Glaubens da im Irak anrichtet. Sie brach in Tränen aus, sagte dann aber: „Wir glauben beide, dass Gott uns einmal fragen wird, was wir mit den Elenden vor unserer Tür gemacht haben. Michael, mach es! Jedes Leben zählt!“ Wir hatten drei kleine Kinder. Sie hat die 14 Dienstreisen über 13 Monate in den gefährlichen Irak mitgetragen.

Waren Sie schon immer so ein tapferer und cooler Mann?

Blume: (schmunzelt) Nein! (lacht) Ich war für Mädels nicht cool, nicht chic, nicht so richtig vorzeigbar. Meine Familie stammt aus der ehemaligen DDR. Mein Vater hat Stasihaft und Folter erlitten. Ich bin daher mit einer tiefen Dankbarkeit gegenüber unserem Rechtsstaat und den Menschenrechten aufgewachsen. Dazu kam, dass ich als Jugendlicher einen Sinn im christlichen Glauben gefunden habe. Die glückliche Beziehung mit meiner Frau hat mich zum Mann reifen lassen.

„Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können“

Was hat Ihnen geholfen, Ihr Potenzial zu entfalten?

Blume: (spontan) Unbedingt geliebt, ein Kind Gottes zu sein, aber eben auch das Wissen und die Erfahrung: Ich bin nicht unfehlbar, ich darf auch scheitern. Der Rückhalt meiner Frau, die mir in dieser schwierigen Entscheidung vermittelt hat: Es lohnt sich, sein Bestes zu geben. Sie hatte verstanden: Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können.

Sie retteten mit einem kleinen Team über 1.000 Jesidinnen das Leben. Sie setzen sich ein für Geschundene, Geflüchtete … Ist dies in Ihrer DNA angelegt, weil Ihr Vater in der DDR im Knast saß, Ihre Eltern aus der DDR flüchten mussten?

Blume: Unbedingt. Als Jugendlicher habe ich eine große Politikverdrossenheit um mich herum erlebt. Dies hat mich unglaublich geärgert. Wir Menschen, die wir im Wohlstand und in Freiheit aufwachsen, tendieren leicht dazu, dies zu verachten, nicht mehr wertzuschätzen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir in einer Demokratie leben, dass wir Menschenrechte haben, dass Mädchen die Schule besuchen dürfen und Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Dafür sollten wir kämpfen! Mein Vater hat Folter ertragen, weil er wollte, dass seine Kinder einmal in Freiheit aufwachsen. Wer bin ich, der ich dieses Geschenk der Freiheit wegwerfen würde oder anderen vorenthalte?

Nadia Murad, eine der Jesidinnen, die Sie gerettet haben, erhielt im Dezember 2018 den Friedensnobelpreis. Welches Gefühl löste dies in Ihnen aus?

Blume: Ich war mit Ministerpräsident Kretschmann bei der Verleihung in Oslo dabei. Das war sehr bewegend. Nadia selber war zuerst gar nicht so glücklich darüber, weil ihr damit klar war: Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückziehen, jetzt muss ich ein Leben lang eine öffentliche Rolle einnehmen. Sie, diese tapfere Frau, hat dieses Geschenk, aber eben auch diese Herausforderung dann angenommen und der freien Welt signalisiert: Frauenrechte sind nicht selbstverständlich und gerade wir Männer sollten dafür einstehen.

Beinahe-Antisemitismus-Skandal: „Das wird eine heftige Geschichte“

Sie brechen als junger Mann ein Volkswirtschaftsstudium ab, um Religionswissenschaften zu studieren. Mit einem Aufsatz über Ihre Biografie als „Wossi“ gewinnen Sie einen Preis. Die Stuttgarter Zeitung veröffentlicht einen Artikel über Sie. Diesen Beitrag liest …?

Blume: (lacht) … Staatsminister Christoph Palmer. Ich hatte damals einen Beitrag zum Thema „Heimat und Identität“ eingereicht. Damit gewann ich einen Preis als einziger Deutscher ohne Migrationshintergrund, wenn wir die DDR nicht mitzählen. Palmer hat mich dann von der Universität direkt ins Staatsministerium geholt.

Am 11. April 2007 sagte der damalige württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger in Freiburg auf der Beerdigung von Hans Filbinger, einem seiner Vorgänger, den Satz: „Filbinger war kein Nationalsozialist. Es gibt kein Urteil von ihm [Anm.d.Red.: Er war NS-Marinerichter], durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte.“ Warum wurde Ihnen da mulmig?

Blume: An der Rede war ich nicht beteiligt. Als ich sie hinterher hörte – heute würde sie ja sofort im Internet stehen –, war klar: Das wird eine heftige Geschichte. Diese Aussage könnte ihn sein Amt kosten. Man soll ja über Verstorbene nichts Böses sagen, aber hier war eine Grenze überschritten worden, eine Umdeutung passiert. Unbestrittene Tatsache ist: Filbinger hat noch in den letzten Kriegstagen Menschen zum Tode verurteilt.

Wie haben Sie die politische Kuh vom sprichwörtlichen Eis bekommen?

Blume: Ich habe Günther Oettinger geraten, den Vorwärtsgang einzulegen, nicht darauf zu warten, dass die medialen Rücktrittsforderungen abebben. Wir sind zur jüdischen Gemeinde Stuttgart gefahren, haben mit dem Zentralrat der Juden direkt gesprochen. Die jüdischen Gemeinden wussten, dass Oettinger ein feiner Kerl und kein Antisemit ist, aber die mediale Dynamik hätte alle zermalmen können. Der Ministerpräsident bedauerte den Fehler, die jüdische Gemeinde zog die Rücktrittsforderung zurück.

Und Sie bekamen ein Dankeschön der Kanzlerin?

Blume: (lacht) Sie haben sich aber gut informiert! Ja. Angela Merkel rief Günther Oettinger über mein Handy an. Ich konnte meinen Teil tun.

Sie sind Mitglied der CDU. Was bedeutet Ihnen das C? Und wie kam es dazu, dass Sie für eine Landesregierung arbeiten, in der die Grünen am Ruder sind?

Blume: Das Christliche ist mir zentral wichtig. Auch als Entlastung von Politik, weil sie nicht versuchen sollte, ein Paradies auf Erden zu schaffen. Ministerpräsident Kretschmann hat ein Faible für das C. Das verbindet uns. Als er gewählt und sein Vorgänger Stefan Mappus abgewählt war, fragte er mich, ob ich trotzdem bleiben würde. Ich sagte ihm zu, wenn er die zwei Mitarbeiterinnen mit übernehmen würde, die für mich bis dahin gearbeitet haben. Er hat seinen Teil eingehalten und ich den meinen. Wir arbeiten bis heute sehr vertrauensvoll zusammen. Ich stelle immer wieder fest: Viele Grüne schätzen es, wenn sie mit einem Christdemokraten zu tun haben, der sein Parteibuch nicht taktisch versteckt, wenn es der Karriere schädlich sein könnte, sondern zu seinen Werten steht.

„Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer“

Sie sind heute Antisemitismusbeauftragter. Wie würden Sie einem Kind diesen Beruf erklären?

Blume: Das Judentum war die erste Religion, die mit dem Alphabet geschrieben hat. Deshalb denken viele Menschen, dass die Juden besonders schlau seien und die Welt kontrollieren. Ich würde dem Kind dann sagen: Niemand kontrolliert die Welt außer Gott. Ich gewinne Menschen dafür, sich zu bilden und zu lernen und keinen Hass auf eine Gruppe oder Religion zu haben.

Was ist Antisemitismus?

Blume: Antisemitismus ist eine Form von Menschenfeindlichkeit, die immer mit Verschwörungsmythen verbunden ist. Im Antisemitismus wird behauptet, Juden seien besonders schlau, reich und mächtig. Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer. Sie sind deshalb auch zur Radikalisierung und Gewalt bereit.

Warum trifft es durch die Jahrhunderte und viele Kulturen hindurch immer wieder die Juden?

Blume: Weil sie die erste Religion der Schrift waren. Im ersten Buch Mose heißt es: Der Mensch sei im Bilde Gottes geschaffen. Daraus entsteht der Begriff der Bildung, der unsere europäische Kultur entscheidend geprägt hat. Die Idee, dass wir einmal in einer Welt leben, in der jedes Mädchen, jeder Junge lesen und schreiben kann, entstammt dem Judentum. Deshalb konnte der zwölfjährige Handwerkersohn Jesus drei Tage im Tempel mit den Schriftgelehrten diskutieren.

„Bekämpft Antisemitismus für eure eigene Zukunft!“

Ist Antisemitismus mehr als Hass auf Juden?

Blume: Rabbiner Lord Jonathan Sacks formulierte es so: „Dieser Hass beginnt immer bei den Juden, endet aber nie bei ihnen.“ Er setzte sich im Dritten Reich bei den Sinti und Roma oder den Homosexuellen fort. Im Islamischen Staat setzte sich dieser Hass gegen Jesiden, Wissenschaftler und Journalisten fort. Ich sage daher: Bitte bekämpft den Antisemitismus nicht nur den jüdischen Menschen zuliebe, sondern für eure eigene Zukunft! Wer glaubt, dass die Gesellschaft von der Verschwörung gesteuert wird, ist zur Demokratie nicht mehr in der Lage.

Es heißt, der Antisemitismus in Deutschland nehme wieder zu. Ist dies auch Ihre Feststellung?

Blume: Jein. Nach allen Daten, die uns vorliegen, nimmt die Zahl der Antisemiten weiter ab. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Die Menschen, die antisemitisch agieren, haben aber das Internet, und damit nimmt ihre Radikalisierung und Gewaltbereitschaft zu.

Was können wir gegen Antisemitismus tun?

Blume: Wir sind gefragt, zuzugeben, dass wir nicht alles wissen. Verschwörungsmythen geben eine scheinbar einfache Erklärung. Wenn ich sage, diese Verschwörer sind schuld, habe ich eine vermeintliche Erklärung für COVID-19, die Klimakrise, den Krieg in der Ukraine. Stattdessen zu sagen: Ich weiß, dass wir Männer die Wahrheit nicht mehr besitzen, sondern Unsicherheiten aushalten müssen – diese Stärke wünsche ich mir von uns Männern. Lebenslange Bildung macht uns stark gegen Antisemitismus.

Wann haben Sie als Beauftragter einen guten Job gemacht?

Blume: Wenn ich eingeladen werde, Menschen an diesem Thema Interesse zeigen, ich dafür sorgen kann, dass Menschen gar nicht erst zu Antisemiten werden. Jede Seele zählt.

„Die vernünftige Mitte bricht zusammen“

Sie differenzieren zwischen Verschwörungsmythen und Verschwörungstheorien. Warum?

Blume: Theorie ist ein Begriff aus der Wissenschaft. Verschwörungsmythen wollen nur Schuldige benennen. Das waren im Mittelalter die Hexen, heute werden die Zugewanderten als Invasoren betrachtet oder man wirft Frauen vor, dass sie für niedrige Geburtenraten sorgen. Wir müssen ertragen, dass sich die Welt nicht in gute und böse Gruppen spalten lässt, dass wir herausgefordert sind, das Böse in uns zu bekämpfen.

Warum haben Verschwörungsmythen und Fake News derzeit so Hochkonjunktur?

Blume: Immer dann, wenn neue Medien auftreten, haben wir eine Explosion von Verschwörungsmythen. Der Hexenwahn war nicht im vermeintlich finsteren Mittelalter, sondern fand vom 15. bis zum 18. Jahrhundert statt. Heute werden in 44 Ländern der Erde Frauen als Hexen verfolgt. Immer dann, wenn neue Medien wie Buchdruck oder elektronische Medien an Bedeutung gewinnen, ergeben sich unendliche neue Chancen für Bildung, aber es tauchen eben auch wieder alte Vorwürfe auf. Das erleben wir gerade mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit.

Sehen Sie einen Zusammenhang von zurückgehenden Kirchenmitgliedszahlen, einem schwindenden Glauben in der Gesellschaft und einer Zunahme von Mythen?

Blume: Ja. Unbedingt. Wir erleben leider in allen Religionen das Phänomen, dass die vernünftige Mitte zusammenbricht. Es wird die Religionslosigkeit propagiert. Es gibt immer mehr säkulare Menschen. Diese stehen den religiösen Dualisten gegenüber, die sich gegen den sogenannten Mainstream mit Verschwörungsmythen abgrenzen. Die vernünftige Mitte zerbröselt. Das ist der Teil, der mir am meisten Sorgen macht.

Blume geht gerichtlich gegen Hassnachrichten vor

Sind Männer anfälliger für Verschwörungsmythen als Frauen?

Blume: Ja! Bei Männern sehen wir öfter ein kämpferisches Weltbild. Da herrscht die Stimmung vor: Ich zerschlage jetzt die Verschwörer, wenn es sein muss auch mit Gewalt. Dies kickt vor allem jüngere Männer. Darin lassen sie sich dann gerne von älteren Männern bestätigen. Von daher sage ich, auch als ehemaliger Soldat: Liebe Mitmänner, die eigentlichen Helden stellen sich erst einmal ehrlich den Abgründen der eigenen Seele.

KI in Form von ChatGPT & Co. bringt nochmals eine ganz neue Herausforderung in puncto Fake News mit. Was wird in Zukunft wichtig(er) werden? Wie können wir Mythen oder Fake News entzaubern?

Blume: ChatGPT ist ein Werkzeug, welches unsere gesamte Welt verändern wird. Wir werden zukünftig mehrere KIs nutzen. Ob wir es wollen oder nicht, KI wird ein Teil unserer Mitwelt. Sie wird uns selbst verändern, wie uns auch das Smartphone verändert hat. Mein Ratschlag lautet: Mitmachen, aber auch nachdenken, was wir da eigentlich tun!

Hassnachrichten gehören zu Ihrem Tagesgeschäft. Wie gehen Sie damit um?

Blume: Am Anfang habe ich sie einfach ignoriert. Doch dann richteten sie sich gegen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und vor allem gegen meine Familie. Seitdem wehre ich mich auch gerichtlich.

Sie klagen gegen Twitter. Warum?

Blume: Viele Bürger haben gar nicht die Möglichkeit, gegen diesen Giganten vorzugehen. Das ist unglaublich teuer. Stellvertretend für die Menschen streite ich daher gemeinsam mit HateAid. Ich will nicht den Hass im Internet bejammern, sondern mich auch hinstellen und den Hetzern und Trollen die Stirn bieten! Es hat mich Überwindung gekostet, im Regierungskabinett solch eine an mich adressierte Hassnachricht vorzulesen.

Was ist der aktuelle Stand der Klage?

Blume: Twitter vertritt die Auffassung, dass die gesendete Hassnachricht gelöscht werden kann, doch die Kläger sollen jede einzelne Hassnachricht neu melden. Wir halten dagegen und haben vom Landgericht Frankfurt/Main Recht gesprochen bekommen, dass Twitter kerngleiche Inhalte selbst löschen muss. Wenn also gegen eine Person eine Kampagne läuft, ist Twitter gefordert, löschend einzuschreiten. Twitter kann sich nicht zurücklehnen nach dem Motto: Meldet es und wir schauen dann mal. Twitter wehrt sich sehr dagegen …

„Jede Religion kann man liebevoll oder auch feindselig leben“

Was ängstigt Sie? Was macht Ihnen Hoffnung?

Blume: Mich treibt die Sorge um, dass die Klimakrise zur Wasserkrise wird. Ich habe im Irak gesehen, wie ein Staat zerfällt, wenn es nicht mehr genügend Wasser für alle gibt. Wasser ist ein mächtigeres Element als Öl. Es ist übrigens auch das erste Element, welches in der Bibel genannt wird, noch vor dem Licht! Es werden immer weniger Teile der Erde bewohnbar sein. Ich bin überzeugt: Wir werden die Krise meistern, aber die vor uns liegenden Jahre werden hart. Es geht ums Überleben in unserer Mitwelt. Dafür braucht es Frauen und Männer, die über sich hinauswachsen.

Sie sind atheistisch aufgewachsen, haben dann zum christlichen Glauben gefunden. Was hat Sie überzeugt?

Blume: Ich war politisch sehr aktiv. Im Angesicht der Hungerkatastrophe in Somalia stellte ich als junger Mensch fest: Es gelingt uns trotz allem Engagement nicht, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Das brachte mich in eine Sinnkrise. Und in dieser frustrierenden Situation hat Gott mich aufgefangen und angesprochen in dem Sinne: Michael, wenn du tust, was du kannst, ist das genug. Du bist unendlich geliebt! Das hat mich unglaublich entlastet und bewahrt mich davor, mich selbst zu überfordern.

Sie und Ihre Frau entstammen einer Arbeiterfamilie. Sie sind ein glückliches Paar. Was sagen Sie Menschen, die Christen vor allem als Kreuzritter und Kolonisatoren und Muslime als Machos und Terroristen sehen?

Blume: Jede Religion kann man liebevoll oder auch dualistisch, feindselig, extremistisch leben. Das gilt fürs Christentum, den Islam und jede andere Glaubensrichtung. Zehra und ich haben jetzt unsere silberne Hochzeit gefeiert. Wir sind sehr glücklich miteinander. Wir haben drei gemeinsame Kinder, die sich in der evangelischen Kirche engagieren. Meiner Auffassung nach sollte sich Religion niemals gegen die Liebe stellen, sondern sie immer unterstützen.

Infolge der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie, des Krieges in der Ukraine erleben wir eine starke Polarisierung der Gesellschaft. Wie geht es weiter? Was ist Ihre Prognose?

Blume: Wir alle stehen vor der Charakterfrage. Gerade auch wir Männer. Große Teile der Welt werden unbewohnbar werden. Es wird sogenannte Archeregionen geben, in denen Menschen überleben können. Wir alle stehen da vor der Herausforderung, die Menschen zu beschützen, die uns anvertraut sind, aber eben auch ein großes Herz gegenüber denen an den Tag zu legen, die bei uns Schutz suchen. Dies wird die Herausforderung des 21. Jahrhunderts werden. Sind wir Männer fähig, echte Partner zu sein, zu lieben statt zu hassen? Das wird die Aufgabe von uns Männern sein!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Heißer Lesetipp für den Sommer:

„Eine Blume für Zehra – Liebe bis zu den Pforten der Hölle“ (bene!) Andreas Malessa erzählt eindrücklich die Liebes- und Familiengeschichte von Blumes. Ein packendes Stück deutscher Geschichte im Kleinformat.

Symbolbild: pixelfit / E+ / Getty Images

Brainstorming wird 80 – Warum der gefeierte Jubilar in den Ruhestand gehört

Unternehmensexperte Rainer Wälde hält Brainstorming für überschätzt. Er empfiehlt eine bessere Methode, um innovative Lösungen zu finden.

Brainstorming feiert in diesem Jahr bereits den 80. Geburtstag. 1942 veröffentlichte Alex F. Osborn sein Buch „How to Think Up“ und ermutigte dazu, das Gehirn zu stürmen, um neue Ideen zu generieren. Seitdem wird diese Methode in zahlreichen Firmen und Teams eingesetzt. Auch ich habe in meiner beruflichen Laufbahn an vielen Brainstorming-Sessions teilgenommen. Doch bereits seit 30 Jahren ist klar, dass Brainstorming nicht wirklich effektiv ist. 1991 haben Mullen, Johnson und Salas dazu eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht: Productivity Loss in Brainstorming Groups. Woran liegt es, dass es dennoch immer noch so beliebt ist?

Brainstorming: Einer redet

Ich persönlich glaube, dass dies an der Einfachheit liegt: Ein Moderator stellt eine Frage, alle Teilnehmer denken laut, niemand darf kritisieren. Das Gesagte wird protokolliert. Doch in der Praxis habe ich häufig beobachtet, dass bei mir und anderen Teilnehmern mehr Ideen sprudeln, als gesagt werden können. Häufig reden nur die Extrovertierten, die Gedanken der eher Stillen finden wenig Raum.

Etliche Jahre war ich auch als Firmenbeirat in verschiedenen Unternehmen eingeladen. Ich erinnere mich sehr gut an die Brainstorming-Runden in einem Verlagshaus. In dieser Runde entstanden sehr viele Ideen für neue Bücher und neue Autoren. Doch in den folgenden Monaten hatte ich nicht den Eindruck, dass diese zumindest teilweise auch umgesetzt wurden. Zu viel kreatives Potenzial ging verloren. Das hat mich als Teilnehmer frustriert. Kürzlich habe ich einen sehr interessanten Beitrag im „Magazin für Neue Arbeit“ gefunden. Die Neue Narrative #14 zitiert den Sozialpsychologen Stefan Schulz-Hardt: „Menschen genießen die soziale Situation, die beim Brainstorming entsteht, überschätzen dabei aber das Ergebnis und den Anteil ihrer eigenen Ideen.”

Brainwriting: Alle sprudeln vor Ideen

Als Alternative stellen die Autoren das Brainwriting vor. Statt zu reden, schreibt jeder in der Stille seine Ideen auf. Diese Post-its werden dann an ein Board geklebt und in der zweiten Phase können die anderen Teilnehmer diese Ideen weiterspinnen.

Nun muss ich zugeben, dass meine Frau und ich diese Methode schon seit 21 Jahren regelmäßig praktizieren, allerdings kannten wir damals den Begriff „Brainwriting” noch nicht. Seit der gemeinsamen Gründung unserer Akademie 2001 schreibt jeder für sich seine Ideen zuerst alleine auf Pin-Kärtchen, dann clustern wir diese Ideen und entwickeln daraus unsere private und berufliche Strategie.

Auch bei meinen Büchern arbeite ich seit zwei Jahren mit dieser Methode. Ob Roman oder Ratgeber – ich notiere alle Ideen zuerst auf Haftnotizen. Dann entwickle ich an der Wand in meinem Büro die gesamte Gliederung des Buches. Mit dieser Methode des Brainwritings gelingt es mir, innerhalb von acht Wochen die Rohfassung eines neuen Romans zu schreiben. Anschließend diskutiere ich mit drei Testlesern den Entwurf – auch das gehört zu diesem Gruppenprozess. Ihr Feedback hilft mir dann, die finale Fassung zu erstellen.

Ich bin überzeugt, dass eine gute Mischung aus Einzelarbeit in der Stille und co-kreativer Zusammenarbeit im Team zu guten Ergebnissen führt. Nehmen Sie sich die Zeit, um alleine über die eigentliche Frage nachzudenken, für die Sie eine Lösung suchen. Was ist der Kern des Problems? Notieren Sie Ihre Gedanken auf bunten Haftzetteln und sortieren Sie diese anschließend auf einem Board, an einem Fenster oder einer Zimmertür. Beteiligen Sie Kollegen aus Ihrem Team oder externe Berater und diskutieren Sie Ihre ersten Ideen und Lösungsansätze. Ich bin mir sicher, dass Sie in dieser Mischung erstaunlich innovative Ideen und Lösungen finden.

Rainer Wälde leitet mit seiner Frau die Gutshof Akademie bei Kassel. Als Autor hat er 30 Bücher veröffentlicht. Zuletzt die erfolgreiche Krimi-Reihe um Kommissar Timo von Sternberg. www.nordhessenkrimi.de

Nelson Müller (Foto: Nina Stiller Photography)

Starkoch Nelson Müller ließ sich mit 34 Jahren adoptieren

Der Schwabe Nelson Müller ist bekannt als Gastronom, Sterne- und TV-Koch. Ein Gespräch über seine Leidenschaft für gutes Essen, seine Frikadelle für die Queen und seine Familiengeschichte.

Her Müller, was mögen Sie lieber: Maultaschen und Kartoffelsalat oder Linsen mit Spätzle und Saitenwürstchen?

Nelson Müller: (lacht) Schwierige Frage. Beides ist so lecker. Ich möchte auf beides nicht verzichten.

Welches Essen haben Sie als Kind gar nicht gemocht?

Müller: Erbsen und Möhren. Damals gab es dieses Gemüse allerdings auch nur aus der Dose und hatte nichts mit dem frisch gekochten Gemüse zu tun. Auch um Zucchini habe ich zum Leidwesen meiner Mutter einen großen Bogen gemacht.

Wurde Ihnen die Leidenschaft für gute Gerichte schon in die Wiege gelegt?

Müller: Kulinarik war Teil meiner Lebenskultur. Wir haben als Familie immer zusammen gegessen. Am Mittagstisch, beim Abendessen war gutes Essen immer ein Thema.

Das kocht Nelson Müller am liebsten

Wann war Ihnen klar: Ich werde Koch?

Müller: Mit sechs, sieben Jahren war der Wunsch eigentlich schon da.

Welche Gerichte kochen Sie am liebsten und warum?

Müller: Die klassische Küche steht bei mir ganz oben an. Hausmannskost ein bisschen upgegradet, ein bisschen schicker, finde ich spannend und lecker.

Was kocht sich Nelson Müller privat? Oder bleibt die Küche abseits des Berufes kalt?

Müller: (lacht) In der Tat bleibt der Herd zu Hause meist aus, da ich in der Küche mit meinem Team, meinen Gastgeberinnen und Gastgebern esse. Das macht Spaß. Wir kochen immer frisch.

„Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen“

Wann sind Sie als Koch glücklich?

Müller: Wenn es ein guter Abend war mit guten Gästen, wir gut als Mannschaft performt haben. Es beflügelt mich, wenn Energie in der Luft liegt, der Laden brummt, richtig was aus der Küche rausgeht, flotte Sprüche zwischen den Teams hin- und herfliegen.

Geht die Gleichung „lecker gleich aufwendig und kompliziert“ Ihrer Überzeugung nach auf? Verraten Sie uns mal Ihre Kochphilosophie.

Müller: Die Mischung macht’s. Es darf auch mal etwas Aufwendiges sein, dann aber auch wieder etwas überraschend Einfaches. Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen. Es gibt einfach Gerichte, die sind so, wie sie sind, lecker, da muss man sich eher in der Kunst des Weglassens üben.

Warum muss es Ihrer Überzeugung nach auch bei Männern nicht immer nur Fleisch, Fleisch, Fleisch geben?

Müller: Wir tun gut daran, wenn wir etwas für unsere Gesundheit tun. Wir essen zu viel Fleisch. Mit reduziertem Fleischkonsum können wir etwas zum Klima- und Umweltschutz beitragen. Mein Credo lautet: lieber weniger, dafür Qualität. Auch hier heißt es für mich: Abwechslung in die Mahlzeiten bringen. Ich bin so aufgewachsen, da gab es nicht jeden Tag Fleisch. Da kamen auch Pfannkuchen, Nudelgerichte, Suppen, Grünkohlbratlinge auf den Teller.

Die Queen zu Gast

Sie haben für Ihr Kochen einen Michelin-Stern erhalten. Wie fühlte es sich an, als Sie davon erfuhren?

Müller: Das war ein überwältigendes Gefühl! Ich habe lange Zeit in der Sternegastronomie gearbeitet und deshalb war es natürlich auch immer mein Ziel, das auch selbst zu erreichen. Ich hatte es gar nicht für möglich gehalten.

Ist es schwieriger, Sternekoch zu werden oder es zu bleiben?

Müller: Ich glaube, es ist schwieriger, es zu werden. Man muss ja erst mal die Tester überzeugen.

Sie haben auch schon für die jetzt verstorbene Queen gekocht. Wie war das?

Müller: Die Queen hatte sich für einen Besuch in Düsseldorf angekündigt. Klar, das riesige Buffet für solch einen hochkarätigen Gast musste mehr als perfekt sein. Wir haben uns eine Woche lang vorbereitet. Ich war unter anderem für die Frikadellen zuständig. Eine dieser Köttbullar hat die Königin gegessen. Ob es ihr geschmeckt hat, weiß ich nicht. Der Rummel um dieses Essen war jedenfalls gigantisch und aufregend.

Vater Müller als Vorbild

Als Sie auf Sylt die Ausbildung in einem Restaurant begannen, hat man Sie am ersten Tag an die Spüle geschickt, weil man Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe für einen Küchenhelfer hielt. Wie gehen Sie mit dieser Art Rassismus um?

Müller: Inzwischen rede ich nicht mehr über das Thema. Das schwebt bei mir nicht oben drüber. Wir sind eine bunte Gesellschaft. Das ist normal. Punkt. Ich spreche lieber über die Küche, gute Kochbücher, mein Unternehmersein.

Mit vier Jahren kamen Sie in eine deutsche Pflegefamilie. Wie haben Sie Ihren Pflegevater erlebt? Stand dieser auch am Herd?

Müller: Natürlich. Er stand am Herd und am Grill. Meine Eltern waren sehr aufgeklärt und modern. Dies wurde uns auch vorgelebt. Da lernte ich schon, dass Männer im Haushalt helfen, Staub saugen, Küche putzen, Müll rausbringen.

Was sind Eigenschaften, die Sie in erster Linie mit Ihrem Vater verbinden, Werte, die er Ihnen vermittelt hat?

Müller: Mein Vater ist ein sehr zurückhaltender Mensch. Er atmet das Credo: Wer etwas zu sagen hat, muss nicht laut sein. Er konnte sich auch in die zweite Reihe stellen und da etwas bewirken. Er ist Jahrgang 1935 und hat dadurch eine ganz andere Beziehung zu Lebensmitteln und dem Alltagsleben. Jedes Brot wurde gesegnet, vor jedem Essen wurde gebetet. Sauberkeit war für ihn ein wichtiges Thema. Er war als Junge in einem katholischen Knaben-Gymnasium und hatte deshalb schon eine genaue Vorstellung, wie ich mich benehmen sollte. Vater hat als Ingenieur viel Wert auf meine Bildung, mein Allgemeinwissen, meine Sprache gelegt. Das waren wichtige Gesprächsthemen am Essenstisch.

Konflikthemen zwischen Vater und Sohn

Gab es spezielle Sachen, die Sie nur mit Ihrem Vater gemacht haben?

Müller: Wir hatten einen Gemüsegarten. In dem haben wir viel zusammen gearbeitet. Das war für ihn ein Ausgleich zum Alltag. Sonntags sind wir gemeinsam in die Kirche gegangen. Und wir haben viel miteinander musiziert.

Vermutlich gab es in Ihrer Vater-Kind-Beziehung auch Konflikte. Woran haben Sie sich gerieben?

Müller: Ich bin mit der Hip-Hop-Kultur groß geworden. Das war meinem Vater manchmal zu modern. Ich bin zudem von meinem Naturell her Künstler und Musiker. Mein Vater hingegen der klassische Mathematiker. Das sorgte schon für Reibungsenergie, aber heute rettet mich sein Training. Gerade als Unternehmer benötige ich Struktur und kaufmännisches Wissen. Das zahlt dann auf das ein, was er gut findet. (lacht)

Und heute?

Müller: Ist er mir auch als 87-Jähriger ein wertvolles Gegenüber auf Augenhöhe. Er steht hinter mir, stärkt mir den Rücken. Ist stolz auf mich und sagt mir: Nelson, gut gemacht!

„Schwabe mit ghanaischen Wurzeln“

Mit 34 Jahren haben Sie sich von Ihren Eltern adoptieren lassen. Wieso war Ihnen das zu dem Zeitpunkt wichtig?

Müller: Ich habe mich immer von Herzen als ein Müller gefühlt. Wir haben es 30 Jahre gelebt, aber nicht auf dem Papier vollzogen. Mir war es wichtig, das jetzt auch in Form zu gießen und zu signalisieren: Ich gehöre ganz zur Familie.

Müller ist ja sozusagen der deutscheste aller deutschen Namen. Gibt es Eigenschaften, die Sie an sich erkennen, die Sie als typisch deutsch oder gar schwäbisch einschätzen – und umgekehrt Eigenschaften, die so gar nicht dem Klischee des Deutschen oder Schwaben entsprechen?

Müller: Ich bin Schwabe mit ghanaischen Wurzeln. Viele, die mich kennen, sagen: Du bist sehr deutsch. Aber auch die afrikanischen Wurzeln kommen mir zugute: Lockerheit. Sich mit anderen freuen, ihnen etwas gönnen. Dankbarkeit. Ich muss nicht alles so ganz genau nehmen.

Könnte aber beim Kochen schiefgehen …

Müller: (Lachen, gespielt energisch) Da halte ich mich natürlich ganz genau ans vorgegebene Rezept. Im Ernst: Beim Kochen kann ich es auch genau nehmen. Ich kann aber auch mal fünf gerade sein lassen.

„Ich bin Christ“

In der RTL-Aufführung „DIE PASSION“ haben Sie Fladenbrot und Currywurst fürs letzte Abendmahl verkauft. Spielt der christliche Glaube auch in Ihrem wirklichen Leben eine Rolle?

Müller: Ich bin Christ. Ich beschäftige mich damit. Es geht darum, dass wir gute Spuren hinterlassen. Ehrfürchtig sind, verantwortungsvoll vor Gott leben im Sinne von: Was wir von anderen erwarten, ihnen auch zu tun. (Anm. d. Red.: die Goldene Regel aus Matthäus 7,12)

Home-Office. 13:02 Uhr. In einer halben Stunde stehen die hungrigen Kinder vor der Tür. Was würde Nelson Müller auf den Tisch zaubern? Wobei könnte mir Ihr neues Kochbuch helfen?

Müller: (lacht) Verblüffen Sie Ihre Kinder mit Deutschem Döner. Döner einmal anders. Das schmeckt mega!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Nelson Müller hat sich schon einmal von der Nordsee bis zu den Alpen durch deutsche Restaurants gekocht. Seine aktuelle Heimat hat der Sternekoch in Essen gefunden. Dort führt er zwei Restaurants, macht nebenbei Musik und tritt in TV-Sendungen auf. Aufgewachsen ist der fröhliche Koch mit ghanaischen Wurzeln in Stuttgart und somit tief verwurzelt in schwäbischer Hausmannskost. nelson-mueller.de Sein aktuelles Kochbuch ist erschienen mit dem Titel „Gutes Essen – Nachhaltig, saisonal, bewusst“ (DK Verlag).

DEUTSCHER DÖNER

Döner Kebab, das »sich drehende Grillfleisch«, ist seit den 70er-Jahren auch in Deutschland ein beliebter Imbiss. Der Drehspieß mit gewürzten Fleischscheiben – ursprünglich Lamm, aber inzwischen oft auch Rind, Schwein oder Geflügelfleisch – ist ein fester Bestandteil der Fastfood-Szene geworden. Die Leberkäse-Variante ist ein Running Gag bei mir im Lokal – wenn’s schnell gehen soll, bestelle ich mir einen »Deutschen Döner« auf die Faust.

ZUBEREITUNG:

1. Für den Weißkohlsalat den Weißkohl in dünne Streifen schneiden und mit Salz, Pfeffer und Zucker würzen.
2. Essig und Öl zugeben und gut durchkneten. Eine halbe Stunde ziehen lassen.
3. Für die Mayonnaise den Sojadrink mit dem Senf und den Gewürzen in ein hohes Gefäß geben.
4. Mit dem Stabmixer gut durchmischen, nach und nach das Rapsöl untermixen.
5. Mit dem Bieressig abschmecken.
6. Für den Döner die Gurke fein hobeln, den Eisbergsalat in grobe Streifen schneiden, die rote Zwiebel schälen und in feine Streifen schneiden, die Tomate in Scheiben schneiden.
7. Den Leberkäse in Öl anbraten.
8. Die Laugenbrötchen halbieren, die untere Hälfte mit dem Eisbergsalat belegen und mit der Senf-Bier-Mayonnaise beträufeln.
9. Den Leberkäse auflegen, mit Weißkohlsalat, Tomate, Gurke und Zwiebelscheiben belegen und den Deckel auflegen.

WEISSKOHLSALAT

  • 120 g Weißkohl
  • 10 ml Bieressig
  • 30 ml Rapsöl
  • Salz, Pfeffer, Zucker

SENF-BIER-MAYONNAISE

  • 100 ml ungesüßter Sojadrink, zimmerwarm
  • 2 EL süßer Senf
  • 1 TL Senfpulver
  • Salz, Pfeffer
  • 1 Msp. gemahlener Kümmel
  • 1 Msp. Chilipulver
  • 3 Msp. Chiliflocken
  • 160 ml Rapsöl
  • 3 EL Bieressig

DÖNER

  • Salatgurke
  • 4 Blätter Eisbergsalat
  • 1 rote Zwiebel
  • 1 Tomate
  • 4 große Scheiben Leberkäse
  • 10 ml Rapsöl
  • 4 Laugenbrötchen
Symbolbild: krakenimages / Unsplash

Warum das 80:20-Prinzip ein Update braucht

Die 80:20-Regel führt nicht automatisch zum Erfolg. Dazu braucht es das 40-20-40-Prinzip als Ergänzung. Wie das Ihre Effektivität maximiert, verrät Coach Michael Stief.

Das 80:20-Prinzip meint die Beobachtung, dass in einer großen Anzahl von Fällen 80 Prozent einer Leistung schon mit 20 Prozent des Aufwandes erreicht werden. Dieses Prinzip ist zu der Faustregel schlechthin für zeitökonomisches Handeln geworden. Die 80:20-Regel hat aber noch eine eher unbekannte Schwester, die 40-20-40-Regel, die die Effizienz durch Effektivität komplettiert.

Von der ungleichen Landverteilung zur Faustregel für Effizienz

Beschrieben hat den 80:20-Effekt der Italiener Vilfriedo Pareto (1848–1923). Daher ist dieser Zusammenhang auch als Pareto-Prinzip bekannt. Pareto war Ökonom und stellte fest, dass im Italien seiner Zeit 80 Prozent der privaten Landfläche im Besitz von 20 Prozent der Bevölkerung waren.

Leider verbreitete sich durch Paretos Entdeckung des 80:20-Prinzips nicht die Frage nach der gerechten Verteilung von Gütern. Stattdessen war es die teils richtige, teils unsinnige Idee, dass sich in allen wirtschaftlichen Zusammenhängen und Prozessen diese magische Formel anwenden ließe.

Einfach machen, statt Perfektion anzustreben

Praktisch gesehen lässt sich das 80:20-Prinzip sinnvoll nutzen, wenn es darum geht, mit begrenzten Mitteln ein Ziel zu erreichen. Beispielsweise beim Erstellen einer Präsentation, die sich in kurzer Zeit in brauchbarer Qualität erstellen lässt. Oder auch beim Schreiben, wo der „shitty first draft“, der „schlechte erste Entwurf“ auch schnell auf dem Papier oder in der Maschine ist. Selbst beim wöchentlichen Hausputz lässt sich eine akzeptable Ordnung und Sauberkeit in 20 Prozent der Zeit herstellen, die für einen kompletten und gründlichen Frühjahrsputz notwendig wäre.

Aber genau da steckt der Teufel im Detail, nämlich genau in den Details, die für ein gutes oder gar „perfektes“ Ergebnis (wenn es denn annähernd so etwas geben kann) nötig sind. Das Pareto-Prinzip prophezeit nämlich gerade, dass für ein ganz bestimmtes Ergebnis eben auch viermal so viel Zeit notwendig ist wie für den ersten Entwurf. Oder auch, dass bei einer Prüfung bei 20 Prozent Zeiteinsatz eben auch nur die Note befriedigend erwartet werden kann. (Was natürlich in dieser Unmittelbarkeit Unsinn ist, aber Sie verstehen die Idee.)

Zusammengenommen ist das Pareto-Prinzip im besten Fall eine Daumenregel, um sich vor Perfektionismus zu hüten und mit wirtschaftlichem Aufwand zu einer brauchbaren Lösung zu gelangen. Im schlechtesten Fall führt es zu Pfusch oder zu einer ungesunden Arbeitsverdichtung in der Annahme, die Zeit jenseits der magischen 20-Prozent-Grenze ließe sich irgendwie einsparen.

Die richtigen Dinge tun

Das Pareto-Prinzip beantwortet die Frage, welchen Aufwand und Zeiteinsatz wir sinnvollerweise in eine Aufgabe stecken sollten. Dabei bleibt offen, was in dieser Zeit zu tun ist. Beim Software-Engineering wird das mit einer einprägsamen Merkformel gesteuert. Hier gibt es die 40-20-40-Formel, die, anders als das Pareto-Prinzip, außerhalb der Industrie leider kaum bekannt ist.

Einfach gesprochen empfiehlt dieses Vorgehen 40 Prozent des Aufwandes in die Zieldefinition zu stecken, 20 Prozent in die Umsetzung und 40 Prozent in den Test, ob die Software fehlerfrei funktioniert. Während also das Pareto-Prinzip die Effizienz steigert, fördert das 40-20-40-Prinzip die Effektivität. Nicht Schnelligkeit oder Begrenzung des Aufwandes stehen im Vordergrund, sondern ein möglichst genaues Verständnis der Lage, des Ziels und der Genauigkeit der Zielerreichung.

Auf andere Bereiche übertragen

Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass bei ungenauer Problemanalyse oder unzulänglicher Ergebniskontrolle erhebliche Fehler auftreten können. Diese können bei entsprechend kritischen Computeranwendungen in medizinischen Geräten etwa fatale Folgen haben. Es lässt sich leicht ahnen, dass sich diese Vorgehensweise ebenfalls sinnvoll auf andere Felder übertragen lässt.

Zum Beispiel auf die Charakterentwicklung: So lässt sich dieses Prinzip etwa in der Beichtpraxis der katholischen Kirche wiederfinden. Die Zehn Gebote definieren konkrete Ziele für eine gesunde menschliche Entwicklung. Zum Beispiel die Wahrheit zu sagen, die eigenen und fremden Grenzen zu achten und so weiter. Im Alltag werden diese Prinzipien umgesetzt – oder auch nicht. In der Beichte erfolgt dann die Fehlerprüfung, das „debugging“, mit dem Vorsatz diese Fehler in Zukunft zu beseitigen. Auch bei mir im Führungskräfte-Coaching hat sich dieses dreigliedrige Struktur in Form von Standortbestimmung/Zielbildung, Umsetzung und Feedback bewährt.

Zweimal messen, einmal schneiden

Die treffendste Beschreibung dieser Effektivitäts-Regel habe ich einmal von einem Schreiner gehört: Zweimal messen, einmal schneiden! Der meinte zwar mit „zweimal Messen“ eher das genaue Maßnehmen, aber beim 40-20-40-Prinzip geht es genau darum:

  • Einmal messen, das heißt: Genau analysieren, was wir erreichen wollen. Wie genau ist die Lage? Wer ist betroffen und wie? Was ist der Kern des Problems?
  • Dann die passenden Maßnahmen durchführen. Hier investieren wir 20 Prozent Ihrer Ressourcen (Zeit/Geld).
  • Zuletzt wieder messen, das heißt: Überprüfen, ob das gewünschte Ergebnis erreicht wurde, was nicht funktioniert hat und warum. Außerdem mögliche nächste Schritte einleiten, um das gewünschte Ergebnis doch noch zielgenau zu erreichen.

Verbinden wir das 80:20 Prinzip für „gesunde Selbstbeschränkung“ und das 40-20-40-Regel für die Zielgenauigkeit und die Effektivität einer Problemlösung, erreichen wir das optimale Ergebnis. Dann werden wir künftig nicht nur die Dinge richtig tun, sondern auch öfter die richtigen Dinge.

Michael Stief  (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

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7 Einschlaftipps, damit Sie keine Schafe zählen müssen

Fast jeder hat das schon einmal erlebt: Das Gedankenkarussell kreist und an Schlaf ist nicht zu denken. Diese sieben Tipps helfen beim Einschlafen.

1. Ruhephase vor dem Einschlafen

Schnell noch mal das Gespräch für morgen vorbereiten und einmal noch den E-Mail-Posteingang kontrollieren. Der Trend zur Telearbeit hat dazu geführt, dass noch mehr Menschen am späten Abend arbeiten. Wenn die Kinder im Bett sind, bleibt oft noch etwas Zeit für liegen gebliebene Aufgaben. Doch fürs Einschlafen sind solche späten Schichten schlecht. Probleme aus der Arbeit hindern dich daran, zur Ruhe zu kommen. Auch anstrengender Sport macht erst einmal wach, selbst wenn das Fitnessstudio um 23 Uhr so verlockend leer ist. Besser ist eine Ruhephase. Das bedeutet nicht zwangsläufig, sich auf das Sofa zu legen. Ein Spaziergang oder ein Gespräch können ebenso zur Ruhephase gehören wie das Lesen eines Buches.

2. Blaues Licht vermeiden

Beim Lesen solltest du aber eher nicht zum Tablet oder Smartphone greifen. Denn das blaue Licht der Bildschirme signalisiert deinem Körper, dass jetzt Tag ist. Besser ist ein klassisches Buch oder eine Zeitschrift. Auch E-Reader wie der Tolino oder der Kindle sind eine Alternative, denn sie verwenden eine „elektronische Tinte“ und keinen klassischen Bildschirm. Dabei werden Bildpunkte, die auf einer Seite schwarz und auf einer weiß sind, so gedreht, dass sich das Schriftbild ergibt. Die Technik kommt nicht nur ohne blaue Hintergrundbeleuchtung aus, sondern auch ohne Flimmern. Muss es das Smartphone oder das Tablet sein, lässt sich mit dem Blaulichtfilter oft der Anteil des blauen Lichts reduzieren.

3. Einschlafrituale

Das Lesen sollte Teil eines Einschlafrituals sein, das jeden Abend gleich abläuft. Das kann so aussehen, dass du zuerst einen kleinen Spaziergang machst, nach Zähneputzen und Körperpflege noch etwas liest und schließlich den Tag mit einem Abendgebet oder Ähnlichem beendest. Dass dieser Ablauf jeden Tag gleich ist, scheint zunächst langweilig und irgendwie altbacken. Doch genau in dieser immer gleichen Abfolge liegt der Sinn des Rituals. Der Körper weiß dann intuitiv, dass es jetzt Zeit ist, zur Ruhe zu kommen. Das Abendgebet oder eine anderweitige Reflexion kann noch einen weiteren positiven Effekt haben. Es hilft dir, den Tag abzuschließen und sich auf den neuen vorzubereiten. Beispielsweise kannst du dir überlegen, wofür du dankbar bist. Dann schläfst du garantiert schneller und besser, als wenn du im Bett über die Ärgernisse des Tages nachdenkst.

4. Fester Schlafrhythmus

In eine ähnliche Richtung geht auch der Tipp, möglichst jeden Tag zu einer ähnlichen Schlafenszeit ins Bett zu gehen. Apps fürs Smartphone oder die Smartwatch erinnern dich auf Wunsch daran, dass die Schlafenszeit bevorsteht. Wer Schicht arbeitet, ob als Pflegekraft oder in der Fabrik, kann diesen Ratschlag natürlich nicht umsetzen. Eine Untersuchung aus den USA zeigt, dass es in diesem Fall am besten ist, vor und nach der Nachtschicht besonders lang zu schlafen. Die Studie bezog zwar nur Frauen ein, einiges spricht aber dafür, dass die Ergebnisse für Männer ähnlich ausfallen. Natürlich kann im Einzelfall eine andere Strategie die bessere sein. Bei einer Untersuchung von Studentinnen der Evangelischen Hochschule in Nürnberg fühlten sich vor allem jene Pflegekräfte in der Nachtschicht besonders konzentriert, die am Nachmittag zuvor einige Stunden geschlafen hatten.

5. Kein Alkohol vor dem Schlafen

Von einem Schlafritual ist abzuraten, nämlich vom Schlummertrunk. Wer Alkohol getrunken hat, schläft zwar oft schneller ein, dafür aber schlechter. Im schlimmsten Fall wachst du nach einer Stunde wieder auf und liegst die halbe Nacht wach. Besser sind warme Getränke, etwa ein Kräutertee oder eine warme Milch mit Honig – die Wärme macht nämlich müde. Natürlich darf der Tee nicht aufputschend sein, also besser keinen schwarzen Tee trinken. Wer eine schwache Blase hat, sollte es mit dem Trinken vor dem Schlafen nicht übertreiben.

6. Atemübungen

Wenn es mit dem Einschlafen – trotz Ruhepause und Einschlafritual – nicht funktioniert, können Atemübungen eine weitere Möglichkeit sein. Die müssen gar nicht kompliziert sein. Einfach tief einatmen und dabei auf den Körper achten. Dazu kann es sinnvoll sein, eine Hand auf den Bauch zu legen und zu beobachten, wie sich die Bauchdecke beim Einatmen hebt. Dann langsam wieder ausatmen und wahrnehmen, wie sich der Bauch jetzt wieder senkt. Es reicht, diesen Vorgang ein oder zwei Minuten lang zu wiederholen.

7. Schlafzimmer richtig ausstatten: belüftet, kühl und bequem

Rechtzeitig vor dem Schlafen sollte das Zimmer gut durchgelüftet werden. Außerdem sollte der Raum ausreichend dunkel sein, also am besten über einen Rollladen verfügen oder zumindest dicke Vorhänge haben. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, wie wichtig eine gute Matratze ist. Gute Exemplare gibt es schon zu bezahlbaren Preisen. Auch wenn das Internet oft die günstigste Möglichkeit ist, spricht einiges für den Weg ins Fachgeschäft. Denn erst beim Probeliegen zeigt sich, wie gut die Matratze zum Körper und den eigenen Ansprüchen passt.

Diese Tipps helfen dir beim Einschlafen. Ganz normal ist es, wenn du hin und wieder trotzdem schlecht einschläfst, etwa wegen Sorgen oder Ängsten. Klappt es dagegen trotz dieser Ratschläge fast täglich mit dem Schlafen nicht so recht, sollte der Weg zum Arzt kein Tabu sein. Möglicherweise können pflanzliche Arzneimittel, etwa auf Basis von Baldrian, helfen. Aber auch andere Schlafmittel oder die Gabe des „Schlafhormons“ Melatonin sollten nicht zwangsläufig abgelehnt werden. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Untersuchung durch einen Arzt oder eine Ärztin.

Tilman Weigel ist Dozent für empirische Sozialforschung und freier Autor.

Symbolbild: shapecharge / E+ / Getty Images

Welcher Job passt zu mir?

Der Beruf ist nicht alles, aber er macht einen großen Teil des Lebens aus. Vier Fragen helfen bei der Suche nach dem Traumjob.

Von Michael Stief

„Seien Sie nett zu Ihren Nachbarn, vermeiden Sie fettes Essen, lesen Sie ein paar gute Bücher, machen Sie Spaziergänge und versuchen Sie, in Frieden und Harmonie mit Menschen jeden Glaubens und jeder Nation zu leben.“ So umreißt die englische Comedy Gruppe Monty Python den Sinn des Lebens in ihrem gleichnamigen Episodenfilm.

Diese launige Antwort ist für sich genommen schon ein attraktives Lebensprogramm; ob wir persönlich bewusst nach einem Sinn des Lebens streben oder nicht. Abgesehen davon, dass ich der festen Überzeugung bin, dass sich jedes Gericht mit Sahne verbessern lässt und man es deswegen mit dem fetten Essen nicht so eng sehen sollte.

5.000 Jahre auf der Suche nach dem Sinn

Die britischen Comedians greifen mit dieser Bestimmung des Sinns des Lebens ein Problem auf, das die Menschheit seit gut und gerne vier oder fünf Jahrtausenden umtreibt. Anders als die Tiere haben wir kaum Instinkte, die unser ganzes Leben von der Wiege bis zur Bahre bestimmen würden. Stattdessen sind wir – bei allen Beschränkungen – mit Freiheit begabt und geschlagen.

Wir müssen unseren Weg im Leben wählen: Ob wir nun aktiv eine Richtung einschlagen und uns Ziele setzen, oder uns treiben lassen. Je mutiger wir uns der Frage nach dem „Ziel des Lebens“ stellen, umso besser sind wir für kleinere oder größere Sinnkrise gewappnet.

Mehr Antworten als uns lieb sein kann

Schon die großen Philosophen von Sokrates über Aristoteles bis Kant haben sich an dieser Frage die Hirnwindungen wundgerieben. Auch die großen Religionsstifter Moses, Jesus oder Mohammed im Nahen Osten oder Buddha in Asien haben sich dieser Frage zumindest mittelbar gestellt.

Buddha etwa verortete das Ziel des menschlichen Lebens grob darin, Leiden und Leidenschaften zu überwinden und dadurch die Erleuchtung zu erlangen. Belesene Buddhisten mögen mir diese kühne Verkürzung verzeihen. Das Liebesgebot, das gleichlautend in der jüdischen Bibel wie dem christlichen Lukas-Evangelium auftaucht, lässt sich ebenfalls als eine solche Sinnbestimmung lesen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Lukas 10,26-27)

Warum?

Weniger religiös veranlagte Menschen finden in Geschichte und Gegenwart vielfältige Antworten in Philosophie und Wissenschaft: Beispielsweise als die Suche nach dem Wahren, dem Schönen und dem Guten bei Sokrates und Platon oder nach dem wahren Glück bei Aristoteles. Der wortgewaltige Friedrich Nietzsche schließlich behauptet knapp: „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie?“ („Götzen-Dämmerung: Sprüche und Pfeile“, § 12., 1888).

Dieses „Warum“ wählte der Psychiater Viktor Frankl zu seinem Lebensmotto und Kern der Sinn- oder Logotherapie. Der TED-Speaker Simon Sinek machte es zum zentralen Begriff seines Ratgebers „Start with Why“. Auch die Positive Psychologie sieht im Sinnerleben eine Säule für ein glückliches und gelingendes Leben – neben positiven Gefühlen, Flow, guten Beziehungen und Erfolgserlebnissen.

Wie finden wir dieses „Warum“?

Wenn wir die hohe Luft der Philosophen hinter uns lassen und uns in die „Niederungen“ des Arbeitsalltages begeben, dann begegnet uns in den sozialen und klassischen Medien immer öfter der Begriff „Purpose“. Eigentlich nur der englische Begriff für „Zweck“ oder „Ziel“ steht er für die Sinnhaftigkeit der Arbeit bzw. für sinnstiftende Arbeit.

In Unternehmen, die stark auf Gewinnmaximierung fokussiert sind, wird der eigentliche Unternehmenszweck oft durch die Jagd nach den Quartalszahlen verdeckt. Dementsprechend wird es zur Aufgabe für die Einzelnen und noch mehr für die Führungskräfte, diesen Unternehmenszweck und damit die Sinnhaftigkeit der Arbeit wieder sichtbar und erlebbar zu machen.

Es gibt auch Geschäftsmodelle, die für viele Menschen mehr oder weniger sinnfrei erscheinen. Entsprechend wächst bei manchen das Bedürfnis nach einer sinnvollen Betätigung, die Gutes für die Menschen und die Menschheit tut. Leider nicht so stark, dass sich die Menschen in Massen für eine Karriere als Kinder-, Kranken- oder Altenpflegekräfte entscheiden würden.

Die japanische Antwort

Jeder muss für sich entscheiden, was eine sinnstiftende Arbeit ist. Die Japaner haben als Hilfe Ikigai entwickelt. Ikigai bezeichnet grob auf Japanisch eben genau den „Sinn des Lebens“, wobei der zweite Wortteil „gai“ sehr pragmatisch auf Begriffe wie Effekt, Resultat, Frucht, Wert, Nutzen verweist.

Der Begriff existierte schon lange in der japanischen Kultur in unterschiedlichen Nuancen. Erst in den sechziger Jahren wurde er von der japanischen Psychologin Mieko Kamiya neu popularisiert. Schließlich fand er seinen Weg in den Westen, unter anderem durch die Erwähnung in einem TED-Talk von Dan Buettner über Langlebigkeit. Aber vor allem durch ein virales Kreisdiagramm, das der Blogger Marc Winn 2014 entwarf. Darin setzte er die Begriffe „Purpose“ und „Ikigai“ gleich.

Das Schöne an diesem Ansatz ist es, dass er bei uns selbst und den Menschen in unserem Umfeld ansetzt: Wir sind in dieses Leben gestellt und entdecken unser Umfeld, eigene Begabungen und Neigungen. Währenddessen stellt uns das Leben vor Herausforderungen, an denen wir wachsen oder zerbrechen können.

In vier Fragen zum Traumjob

Dementsprechend geht es bei der Suche nach dem eigenen Ikigai um vier Fragen im Zusammenhang mit dem, was wir im Leben tun:

  • Du liebst es? – Macht dir diese Tätigkeit Freude?
  • Du bist großartig darin? – Bist du wirklich begabt auf diesem Gebiet?
  • Du wirst dafür bezahlt? – Gibt es für diese Tätigkeit einen Markt?
  • Die Welt braucht es? – Braucht die Welt jemanden, der genau das tut?

Können wir alle vier Fragen bei einer konkreten Tätigkeit oder Aufgabe mit „Ja“ beantworten, hätten wir die zu uns passende sinnstiftende Arbeit gefunden. Klingt vielleicht trivial, ist es aber nicht. Unsere Fähigkeiten und die Angebote unserer Umwelt sind vielfältig. Nicht überall, wo wir hineinpassen würden, gehören wir auch hin.

Jeder Bereich zählt

Mehr noch: Auch wenn eine Tätigkeit oder eine Aufgabe kein solcher Volltreffer ist, kann sie zum Gefühl von Ikigai beitragen:

  • Wenn wir mit Geschick und Hingabe einer Sache nachgehen, leben wir eine Passion.
  • Wenn wir kompetent einer bezahlten Arbeit nachgehen, haben wir den passenden Beruf (Profession).
  • Wenn wir gegen Geld etwas tun, das die Welt braucht, gehen wir einer Berufung nach.
  • Wenn wir mit Hingabe etwas tun, das die Welt braucht, erfüllen wir eine Mission.

Eventuelle Unzufriedenheiten können wir leichter zuordnen, wenn wir erkennen, dass einer der vier Faktoren fehlt. Das ermöglicht, sich neu auszurichten und die fehlende Komponente auch noch zu integrieren. Der australische Coach Nicholas Kemp kritisiert die dargestellte Verkürzung von Ikigai auf den Arbeitskontext. Praktisch ist sie trotzdem. Zumindest, um die Sinnerfüllung in der Arbeit zu steigern.

Jenseits der Arbeitswelt

Bei allem Nutzen von Ikigai für den Beruf sollte nicht übersehen werden, dass jeder einzelne Bereich – Liebe, Geschick, Bedarf und Entlohnung – auf das Gefühl einzahlen kann, dass das Leben sich lohnt. Darin gleicht das Ikigai-Konzept dem PERMA-Modell der Positiven Psychologie. Demzufolge nimmt das Glück und das subjektive Wohlbefinden zu, wenn positive Gefühle, Flow, guten Beziehungen, Erfolgserlebnisse und eben auch Sinnerfahrungen häufig erlebt werden.

Ich zum Beispiel übe beharrlich mit einer Freizeitsport-Gruppe Judo. Mit wenig Geschick, aber viel Freude, Demut und dem Ziel, dies noch mit achtzig Jahren tun zu können. Auch wenn es dafür kein Geld gibt und ich niemanden in Not verteidigen könnte, das regelmäßige Üben in der Gemeinschaft macht das Leben immer wieder lebenswert.

Es muss also nicht immer die hohe Luft des Sinns des Lebens sein, die uns weckt, stärkt und für jeden neuen Tag belebt. Es dürfen auch die Freude und Gemeinschaft sein, die wir miteinander teilen. Und manchmal macht dies das Leben schon lebenswert genug.

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Symbolbild: Prostock-Studio / iStock / Getty Images Plus

So klappts mit dem Schlaf trotz Sorgen

Guter Schlaf gilt als entscheidender Faktor für körperliche und mentale Gesundheit. Diese Ansätze und mentalen Strategien helfen, damit Probleme nicht die Nacht zum Tag machen.

Von Michael Stief

Mit Grauen schaue ich auf meinen Kalender, sehe die Masse von anstehenden Terminen. Wie soll ich das alles schaffen? Ich seufze verzweifelt auf, da verblasst das Bild plötzlich. Ich spüre das weiche Kopfkissen und die warme Decke über mir. Wieder einmal haben sich Arbeitssorgen in meine Träume gedrängt und mich aus dem Schlaf gerissen. Es war eine neue Arbeitsstelle, die mir derart heftig zeigte, wie schnell die Arbeit den Schlaf rauben kann. Die Herausforderung einer neuen Branche und eines viel größeren Unternehmens als je zuvor, verbunden mit großen Hoffnungen für die Zukunft, waren zu viel, um es im Wachen zu verarbeiten. So ging es mit mir im Schlaf um, bis es mich weckte und wach hielt.

Natürlich können Termindruck, Auftragsfülle uns schon um den Schlaf bringen, wenn wir bis in die Puppen arbeiten und einfach vor lauter Tun nicht ins Bett kommen. Gerade in der Rushhour des Lebens, wenn Familiengründung und erste Führungsaufgaben womöglich mit einem Hausbau zusammentreffen. Dann beginnen die Tage früher als sonst. Vielfältige Störungen und Unterbrechungen unter Tage lassen keinen rechten Arbeitsfluss aufkommen, bis nach Dienstschluss noch ein oder mehrere Stunden bleiben, um die liegengebliebene Arbeit wegzuschaffen. Dann hetzen wir zu einer längst wartenden Familie zurück. Verbringen ein bisschen Zeit zusammen, um dann vielleicht noch am Küchentisch weiterzuarbeiten. Viel zu spät gehen wir ins Bett, liegen vor lauter Überanstrengung wach oder fallen nach ein paar Folgen Netflix auf der Couch in einen traumlosen Schlaf. In der Nacht schrecken wir dann auf und stellen fest: Unser Hirn arbeitet längst schon wieder.

Epidemie der Schlaflosigkeit breitet sich aus

Kurzer Nachtschlaf wurde manchen als besonders tugendhaft und männlich gepriesen. Napoleon etwa erklärte „Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau, sechs ein Idiot“, soll aber dafür öfter auf dem Pferd eingeschlafen sein. Doch Schlaf ist nicht nur etwas für Weicheier, sondern neben Ernährung, Bewegung und geistiger Hygiene ein entscheidender Faktor für körperliche und mentale Gesundheit. Das beschreibt der Schlafforscher Matthew Walker eindrucksvoll in seinem TED-Talk „Sleep is your superpower“.

Doch in unserer modernen Gesellschaft scheint sich eine Epidemie der Schlaflosigkeit auszubreiten. Sie hat wegen unregelmäßigerer Lebensführung und Bewegungsmangel als „Coronasomnia“ in der Pandemie sogar an Fahrt aufgenommen. Schon Shakespeare hat bereits in Macbeth die Ursachen der Schlaflosigkeit verewigt, diesen „Seelenbalsam, der Hauptgang der Natur, / im Lebensmahl ein Hauptfest …“ (Akt 2, Szene 2, Vers 38-39). Dort waren es ein Mord und das schlechte Gewissen, die Macbeth um den Schlaf brachten. Im heutigen Alltag sind es eher elektrisches Licht, speziell das blaue der Computerbildschirme, die ständige Erreichbarkeit am Handy als Folge globaler Zusammenarbeit über Zeitzonen hinweg oder aus schlechter Gewohnheit.

Jüngst titelte die New York Times, dass Melatonin, ein schlafförderndes Hormon, in den USA zwischenzeitlich so häufig gegen Schlafprobleme eingenommen wird, dass nun einige davon psychisch abhängig seien. Aber ist Medikation wirklich die Lösung? Sicher nicht, dafür gibt es bessere Wege. Vorab eine wichtige Warnung: Schlaflosigkeit kann die Folge einer ernsthaften körperlichen oder psychischen Erkrankung sein. Sofern sie eine längere Zeit fortbesteht, sollte anstelle einer Selbstmedikation oder alternativer Methoden unbedingt ein Besuch beim Mediziner erfolgen.

Warum Sie nicht schlafen können

Wir Menschen verfügen über einen komplexen 24-Stunden-Zyklus, der Wachen und Schlafen durch ein komplexes Zusammenspiel von eigener Aktivität, Sinnesreizen, Gehirn, Nerven und Hormonen regelt. Dieser ist in der vormodernen Zeit entstanden und anfällig für die „unnatürlichen“ Reize in unserem gegenwärtigen Leben, wie künstliches Licht und bis in die Abendstunden hineinreichende Aktivität oder gar konzentrierte Arbeit. Verbunden mit der selbstauferlegten ständigen Erreichbarkeit im Privaten wie im Beruflichen durch Mobiltelefone und Messenger oder auch regelmäßige Teamarbeit über Zeitzonen hinweg gerät dieser Zyklus, der uns eigentlich nach Einbruch der Dunkelheit langsam in den Schlaf schaukeln sollte, ins Holpern.

Speziell das schon erwähnte Melatonin, das natürliche Schlafmittel unseres Gehirns, wird durch helles Licht direkt unterdrückt. Zusätzlich lösen Termindruck, dem Arbeitstag nachlaufende Sorgen, negative Stimmungen oder Ängste ebenfalls eine biologisch verankerte Stressreaktion aus, die sich negativ auf den Schlaf auswirkt. Ganz zu schweigen von dem Gedankenkarussell, auf dem wir manchmal wie festgebunden scheinen.

Was aber hilft gegen berufsbedingte Schlaflosigkeit? Zunächst ein maßvoller Lebensstil mit ausreichenden Auszeiten, gesunder Ernährung und Bewegung. Denn unser Körper ist kein Formel-1-Wagen, der sich nach Belieben zu höchsten Drehzahlen antreiben und augenblicklich wieder abbremsen lässt. Wo dies nicht immer gelingt, helfen gute Gewohnheiten.

Gute Gewohnheiten sind der halbe Schlaf

Zum Beispiel ein bewusstes Zeitmanagement. Das muss nicht perfekt sein, sodass wir zu jedem Zeitpunkt Druck oder Versagensängste ausschließen könnten. Wichtig ist lediglich eine klare Orientierung, was es zu tun gibt, was wir geschafft haben und was noch zu tun oder was liegengeblieben ist. Daher empfehlen Zeitmanagement-Experten wie Lothar Seiwert, den zurückliegenden Tag abzuschließen und den folgenden zu planen. Und zwar am Abend, nicht erst am folgenden Morgen. Denn das gibt uns noch vor dem Schlafengehen eine gute Orientierung für den nächsten Tag und kann so helfen, loszulassen.

Auch ein kurzes Workout unterstützt dabei, die vom Tagesstress bedingte körperliche und nervliche Aktivierung auszuagieren und zurückzufahren. Dazu braucht es keinen Weg ins Fitnessstudio. Ein einfaches Bodyweight-Training oder eine kurze Laufrunde bauen die körperlichen Folgen eines stressigen Arbeitstages ab. Zusätzlich lässt sich mit Yoga-Übungen das Entspannungssystem des Körpers aktivieren: Der Parasympathikus-Nerv, der einmal aktiv ein Anti-Stress-Programm aktiviert. Auch ein Abendspaziergang im Dunkeln fördert Entspannung und Schlafbereitschaft: Im Dunkeln springt die Melatonin-Produktion an und das Gehen agiert den Stress aus.

Notfallmaßnahme für den Fall der Fälle

Christen können zusätzlich die Praxis des Abendgebetes kultivieren: Ob in Form eines freien Gebetes oder als „Komplet“, als abendliches Stundengebet, wie es etwa die Benediktiner praktizieren (und auch ins Internet übertragen; https://erzabtei.de/live). Dabei schließen wir den Tag vor uns selbst und vor Gott ab und bitten um Schutz und Geborgenheit. Ähnlich hilft regelmäßiges Journaling, den Geist von den Alltagssorgen zu entlasten. Regelmäßiges Niederschreiben der Tagesereignisse, getrennt nach Dingen, die gut gelaufen sind, die belasten oder Hoffnungen wecken, stärken nachweislich das mentale Wohlbefinden und bereiten damit einem gesunden Schlaf die Basis.

Für die Fälle, in denen alle guten Gewohnheiten zusammenbrechen, die beruflichen Sorgen überhandnehmen und uns aus dem Schlaf reißen, hilft folgende Notfallmaßnahme. Die Wirksamkeit ist durch die Forschungen der Psychologen Pennebaker (Expressives Schreiben) und Neff (Selbst-Empathie) nachgewiesen und auch mir hat sie in solchen nächtlichen Gedankenstürmen Ruhe verschafft: Wenn du nicht in den Schlaf findest, steh – sozialverträglich – auf (laut Matthew Walker spätestens nach 25 Minuten). Finde einen ruhigen Platz, Papier und einen angenehmen Stift. Schreib dann fünfzehn Minuten lang alles auf, was dir durch den Kopf geht, ohne groß zu formulieren oder zu korrigieren.

Nächtliches Sorgen löst selten Probleme

Wenn dir die Worte fehlen, schreib einfach auch das auf. Ist die Gedankenfülle groß, schreib einfach weiter, bis du das Gefühl hast, jetzt sei alles aufgeschrieben. Dann lege Stift und Papier weg und geh direkt (allenfalls mit einem Umweg zu Toilette und Wasserhahn) ins Bett. Am nächsten Tag kannst du dann dein Geschriebenes noch ruhen lassen oder gleich reflektieren und so aus deinen Nachtgedanken noch einen Nutzen ziehen. So habe ich es damals gemacht, als mir Sorgen und Arbeitsdruck den Schlaf raubten. Es brauchte eine Dreiviertelstunde, um mir alles von der Seele zu schreiben. Dann aber war es gut, ich konnte noch drei Stunden ruhig schlafen und war am Morgen handlungsfähig.

Zu guter Letzt dürfen wir uns auch sagen: Die Arbeit ist nicht das Entscheidende im Leben und nächtliches Sorgen löst selten Probleme. Eher hilft die heilsame Erkenntnis des Psalmisten: „Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne.“ (Psalm 4,9) In diesem Sinne: angenehme Ruhe!

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Symbolbild: Ian Schneider / Unsplash

Neues Jahr, neues Glück: So erreichen Sie Ihre Ziele

Viele gute Vorsätze scheitern an Zeitmangel. Coach Michael Stief erklärt, warum Sie aber weniger in Zeit und mehr in Beziehungen denken sollten.

„Zeit ist eine Illusion, die Mittagszeit erst recht“ heißt es in der Science-Fiction-Satire „Per Anhalter durch die Galaxis“. Eine ebenso skurrile wie zutreffende Beobachtung. Es liegt nie an der Zeit selbst, wenn wir keine Zeit haben: Zeit ist immer verfügbar. An jedem Tag 24 Stunden, 168 Stunden pro Woche, in jedem Monat 720 Stunden, 8.760 in einem Jahr, 613.200 in 70 oder 700.000 in 80 Jahren.

Es sind unsere vielfältigen Beziehungen und Verpflichtungen, die unsere Zeit knapp werden lassen. Aufgaben, die wir übernehmen und Terminzusagen, die wir machen. Unser persönliches „soziales Netzwerk“ ist riesig und mit jeder Beziehung gehen wir auch eine „Verpflichtung“ ein, in Kontakt zu bleiben. Jede Stunde, die wir mit diesen Menschen verbringen, füllt unseren Terminkalender. Es ist wichtig, aktiv zu entscheiden, in welche Beziehungen wir investieren. Damit diese Entscheidung leichter fällt, hilft es in „Beziehungsdimensionen“ zu denken, statt in Zeit und Work-Life-Balance.

Gerade Menschen mit Zeitnöten haben ein eher dickes Adressbuch und so kann es helfen, die unterschiedlichen Beziehungen etwas zu bündeln. Durch eine lange Beschäftigung mit Steuerungs- und Selbstmanagement-Modellen habe ich folgende sechs „Beziehungswelten“ gefunden:

  • die Menschen für die wir arbeiten -> unsere Kunden
  • die Menschen mit denen wir arbeiten -> unsere Teamkollegen
  • die Menschen, die wir mögen und lieben -> unsere besten Freunde & Familie
  • uns selbst mit unseren körperlichen und psychologischen Bedürfnissen
  • unseren Geist, also unsere Lebenseinstellung, Spiritualität oder Gottesbeziehung
  • unsere praktische und mentale „Beziehung“ zu Ressourcen wie Geld, Besitz, Bildung und Finanzen

Wenn Sie zu diesen „Beziehungswelten“ eine Mindmap anfertigen, bekommen Sie schnell einen Überblick, in welche Menschen Sie Zeit investieren wollen. Dadurch vermeiden Sie „Zeitdiebe“. Wenn Sie täglich jeder dieser „Beziehungswelten“ drei Stunden widmen, bringen Sie mühelos acht Stunden Schlaf und acht Stunden Arbeit unter (drei für die Kunden, drei fürs Team und zwei Stunden fürs Selbstmanagement). Auf diese Weise planen Sie von Grund auf ganzheitlich und kein wesentlicher Bereich des Lebens „fällt hinten runter“.

Entwickeln Sie ein Zielbild für Ihr Leben

In der Arbeitswelt sind wir oft mit Zielen konfrontiert, die wir mal weniger, mal mehr auch persönlich bejahen oder als „Karriere“ aktiv verfolgen. Aber auch im Privatleben schwanken wir zwischen unseren Wünschen und den Erwartungen anderer an uns. Es ist dieser Spagat zwischen vorgegebenen, erwarteten und erwünschten Zielvorstellungen, der unser Leben ins „Ungleichgewicht“ bringt, sodass wir nach neuer „Lebensbalance“ hecheln. Nehmen Sie sich deshalb nacheinander jede ihrer sechs „Beziehungswelten“ vor und fragen Sie sich:

  • Was wünsche ich mir für diese Beziehung?
  • Was ist meine Aufgabe und welche persönlichen Werte möchte ich darin verwirklichen?
  • Wie würde es – konkret – aussehen, wenn diese Beziehung blüht und gedeiht?

Dabei ist es gleichgültig, ob dies nun große oder kleine Ziele sind, schöne Einzelaktionen oder regelrechte Lebensziele. Sammeln Sie ungeniert und unzensiert Ideen, Wünsche, Vorhaben, Ziele und Träume.

Vor allem: Halten Sie diese schriftlich fest! Auf losen Blättern, in einem Zielbild-Tagebuch oder in einer Datei auf dem Rechner. So fangen Sie an Ihr Leben zu gestalten, bevor es andere für Sie tun. Sie ersetzen dadurch Vorsätze, die nicht selten durch Unzufriedenheiten getrieben sind, durch positive Ziele und Planung.

Auf diese Weise setzen Sie Ihr Zielbild für Ihr Leben aus den verschiedenen Puzzleteilen von Wünschen, Verpflichtungen und Zielen zusammen. Dadurch entsteht mit der Zeit aus einzelnen unverbundenen und im Moment geborenen Ziele eine viel grundlegendere Lebensvision, die Ihnen und anderen Orientierung, Hoffnung und Kraft geben wird.

Setzen Sie Prioritäten

Je nach Persönlichkeitstyp, Lebensalter oder Ideenreichtum kann dieses Zielbild und seine Bestandteile schnell komplex und umfangreich werden. Mit den folgenden drei Tools lässt sich aber auch in dieses Lebenschaos Ordnung bringen.

Erstens: Priorisieren Sie rigoros Ihre Lebenswelten. Entscheiden Sie sich, was Ihnen am wichtigsten ist: Familie & Freunde, Kunden oder Teamkollegen oder man selbst, Geist oder Ressourcen. Entscheiden Sie sich klar und konsequent für eine Top-Priorität und ordnen Sie die anderen dieser unter.

Zweitens: Schreiben Sie sich ein „Backlog“ nach „Beziehungswelten“ getrennt. In der agilen Führung bezeichnet ein Backlog eine Liste der Aufgaben, um ein komplexes Projekt zum Erfolg zu führen. Dort werden alle Aufgaben an einer Stelle gesammelt und anschließend in Etappen abgearbeitet. Drittens: Priorisieren Sie die sechs Backlogs nach Wichtigkeit und Dringlichkeit. (Eisenhower-Schema)

Setzen Sie sich smarte Ziele

Möglicherweise habe Sie jetzt sechs schöne Listen mit attraktiven Zielen, von denen manche noch einen „Konstruktionsfehler“ haben. Die Ziele sind noch diffus, zeitlich unbestimmt und unrealistisch. Das macht es schwer, sie wirklich zu erreichen.

Ein Beispiel wäre der Wunsch „Einmal nach Japan zu reisen“. Da ist nicht klar, wann, wie lange und wohin es konkret gehen soll.  So lässt sich auch nicht sagen, ob man je genug Geld für den Trip in der Urlaubskasse haben wird. Eine solche Reise kann alles von 2.000 bis 12.000 Euro kosten.

Abhilfe schafft hier die SMART-Formel. Damit lassen sich Ziele leichter und zuverlässiger erreichen. Es geht dabei um folgende Qualitätskriterien:

  • Spezifisch – Es ist klar, mit wem, wo und wann wir ein Ziel erreichen wollen; in welchem Kontext wir ein Ziel anstreben und in welchem vielleicht nicht.
  • Messbar – Das Ergebnis ist klar und positiv umschrieben, entweder zählbar oder konkret wahrnehmbar.
  • Attraktiv – Ist das Ziel für uns wirklich wichtig und wertvoll, sind wir motiviert es zu erreichen? Auch für die Menschen in unserem Umfeld ist es wenigsten akzeptabel oder gar wünschenswert.
  • Realistisch – Das Ziel liegt im Rahmen unserer Möglichkeiten und wir haben die dazu nötigen Fähigkeiten, Mittel oder Macht. Das Ziel ist in machbaren Etappen erreichbar.
  • Terminiert – Es gibt einen konkreten Termin, zu dem das Ziel erreicht sein soll.

Planen Sie also Ihr Leben mit der gleichen „Präzision“ wie eine Urlaubsreise. Aber nicht nur die Klarheit der Zielbestimmung ist wichtig, um die Ziele auch zu erreichen. Auch die Regelmäßigkeit ist entscheidend. Nicht nur einmal den großen Wurf skizzieren, sondern konstant weiter planen. Idealerweise jeden Abend für den folgenden Tag; sonntags für die kommende Woche, einmal im Monat sowie jährlich.

Und immer mal wieder hilft eine generelle Orientierung. Gönnen Sie sich Auszeiten, bei denen Sie Ihre Pläne auf den Prüfstand stellen. Ein Aufenthalt auf einer Berghütte zum anstehenden Jahreswechsel kann ein passender Rahmen sein. Oder auch eine Inselüberquerung wie ich Sie Anfang 2022 an vier Tagen auf Gran Canaria gemacht haben. Da bleibt viel Zeit zum Reflektieren.

Für Ziele einstehen statt „Nein“ sagen

Vielen Menschen fällt es schwer, „Nein“ zu sagen. Teils aus Angst, dass sich das Gegenüber persönlich abgelehnt fühlen könnte. Teils, weil man vielleicht keine schlüssige Begründung parat hat. Wenn wir aber aus Nettigkeit und mangels klarer Ziele fremden Wünschen nachkommen, dann kann das leicht zu Chaos im Leben führen.

Das wusste schon der biblische König Salomo und stellte fest, „Ohne eine Vision kommen die Menschen um“ (Buch der Sprüche 29:18, frei übersetzt nach King James Bible) Damit meinte er sicher auch die sinnstiftende Qualität von ganzheitlichen Lebenszielen. Vor allem aber geben uns Ziele die Möglichkeit zu sagen, wofür wir unsere Zeit einsetzen möchten. Dann brauchen wir nicht länger andere Offerten peinlich berührt abzulehnen, sondern können selbstbewusst sagen, was wir stattdessen vorhaben.

Auf die Frage „Kannst Du mir am Wochenende beim Umziehen helfen?“ könnten wir dann statt einem platten „Nein, ich habe keine Zeit“ antworten mit einem ehrlichen „Grundsätzlich gerne. Doch an diesem Wochenende werde ich ein Paper fertigschreiben, dass am Montag Termin hat“. Wenn wir unsere Ziele bereits im Vorfeld klar kommunizieren, dann kann sich unser Umfeld auch rechtzeitig darauf einstellen oder Einwände anmelden. Dadurch können wir agieren, bevor es in die „heiße Phase“ geht.

Warnung: Rechnen Sie mit Gegenwind

„Planung ersetzt Zufall durch Irrtum.“ Natürlich wird auch bei generalstabsmäßiger Planung und guter Kommunikation nicht jeder Plan gelingen. Schließlich ist das Leben komplex, sind unser Verstand und unsere Willenskraft begrenzt. 

Gerade zum Jahreswechsel nehmen wir uns oft eingefleischte Gewohnheiten vor, die wir nun plötzlich von einem Tag auf den anderen ändern wollen. Auch hartnäckige Gewohnheiten lassen sich ändern, zum Beispiel mit der WOOP-Methode. Besser ist es jedoch, SMARTe Ziele anzuvisieren. Diese sollten eingebettet sein, in eine zunehmend klare Lebensvision, wie wir mit uns wichtigen Menschen zusammenleben wollen.

Selbst dann werden wir noch erleben, dass uns die Zeit ausgeht. Dafür kann es verschiedene Ursachen geben: Unterschätzte Komplexität.  Unerwarteter und nicht nachvollziehbarer Widerstand. Oder im Extrem: die sprichwörtliche Dummheit der anderen, die ein Projekt scheitern lässt. Doch je konsequenter wir die genannten fünf Strategien umsetzen, umso öfter können wir wie Hannibal Smith aus der TV-Serie „A-Team“ sagen: „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.“

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).