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Lokführer Martin Mallek sitzt im Cockpit seines ICE. (Foto: Rüdiger Jope)

Alltag eines Lokführers: „Man kann sich nicht erlauben, mal wegzuträumen“

Martin Mallek wollte schon als kleines Kind Lokführer werden. So geht er damit um, für einen ICE mit tausend Menschen verantwortlich zu sein.

Wenn wir als Kinder draußen spielten und das rhythmische Stampfen der Lokomotive vom nahen Bahnhof an unsere Ohren drang, gab es nur einen Weg: raus durch das kleine, rostbraune Gartentor und rauf auf die Brücke. Wenn dann die Dampflok rauchend und zischend um die Ecke schnaufte, der Lokführer unser Winken mit einem Signaltongruß erwiderte, verschwanden wir Momente später jauchzend und hüpfend in einer gigantischen Rauchwolke.

Hbf Dortmund, 9:08 Uhr. 45 Jahre später stehe ich einem meiner Kindheitsidole gegenüber: Martin Mallek (61). Lokführer. Er strahlt mich an. Soeben ist der Intercity-Express „Passau“ in den Dortmunder Hauptbahnhof aus Aachen eingefahren. Pünktlich.

Zahlreiche Lampen blinken

Mit der Corona-Faust verabschiedet der Eisenbahner seinen Kollegen. Mit einem Schlüssel öffnet er eine Glastür. Dann stehen wir in Martin Malleks Reich. Ein Cockpit zieht sich über die ganze Breite des Fensters. Das Hauptsignal steht bereits auf Grün. Während ich auf einem Klappsitz Platz nehme, über die verwirrend vielen Lämpchen, Hebel und Schalter staune, setzen sich die 900 Tonnen mit 9.000 PS um 9:09 Uhr Richtung Berlin in Bewegung.

„Nur keine Scheu.“ Martin Mallek winkt mich neben sich. Engagiert erklärt er mir seine Werkbank. Die kennt er im Schlaf. Über das Display erhält er wichtige technische Informationen zum gesamten Zug und kann verschiedene Schaltungen vornehmen. Der Bildschirm zeigt ihm seinen Fahrplan oder auch technische Vorgänge im Zug an. Zahlreiche Lampen blinken.

Doppelte Geschwindigkeit bedeutet vierfacher Bremsweg

Er erklärt: Durch das unterschiedliche Aufleuchten der Leuchtmelder erhält er Informationen über die Zugbeeinflussungssysteme an der Strecke. Er sieht die Fragezeichen auf meinem Gesicht. Schmunzelnd erklärt er mir: Bei Verdopplung der Geschwindigkeit vervierfacht sich der Bremsweg. Mit den normalen Signalabständen würde das rechtzeitige Bremsen nicht funktionieren, daher braucht es ein System, was die Fahrt beeinflusst.

Das ist „die Linienzugbeeinflussung (LZB)“, so Mallek. Der Sender im Gleis und unter der Lok zeigt ihm, wie die Strecke auf den nächsten Kilometern aussieht. Die Sender kommunizieren mit dem Stellwerk, den Computern auf der Strecke, dem Lokführer. Martin Mallek verweist auf einen roten Leuchtmelder. Blinkt dieser, ist die Geschwindigkeit zu hoch.

Führerloser Zug im Vollsprint ist ein Hirngespinst

Der Bahner redet sich in einen Fluss. Dabei fressen wir bei 160 km/h förmlich die Schienen. Freie Fahrt. Neben uns stehen die Autos auf der A1 Stoßstange an Stoßstange. Der Lokführer betätigt in regelmäßigen Abständen das Fußpedal unter dem Führertisch. Vergäße er dies, würde der ICE eine Zwangsbremsung einleiten. Durch das Pedal wird sichergestellt, dass der Lokführer arbeitsfähig und wachsam ist. Wie beruhigend. Ein führerloser Zug im Vollsprint ist nur ein Hirngespinst von Hollywood & Co.

Noch 15 Minuten bis Hamm. Alles begann mit einem Kindheitstraum. Martin stand auf der Brücke, wollte unbedingt in den Rauch der Lokomotive … Nach der Schule erlernte er einen normalen Beruf, damals noch eine Voraussetzung, um überhaupt Lokführer werden zu können. Doch 1980 herrscht Lokführermangel wie 2021. Ein Mitbewohner aus dem Haus sahnt eine Vermittlungsprämie von 50 D-Mark ab, vermittelt den frischgebackenen Kfz-Mechaniker an die Bahn.

Kindliche Begeisterung nicht verloren

Er schraubt ein halbes Jahr im Lokschuppen, fuchst sich in die Lokomotiven der Baureihe 110, 111, 141, die Güterzugloks der Serie 150, 151 und die Dampfloks ein. „Diese Berufsentscheidung habe ich bis heute nicht bereut.“ Diese Überzeugung spüre ich ihm an diesem Morgen ab. Hier hat einer seine kindliche Begeisterung nicht verloren.

Während er sich an seinem Tablet zu schaffen macht, hake ich nach. „Was macht für dich die ‚Faszination Lokführer‘ aus?“ Ohne zu zögern schießt es mir entgegen: „Die Freiheit. Ich bin allein. Ich mach meine Tür zu und habe Ruhe. Wenn es läuft, wird man den ganzen Tag nicht gestört.“ Zwischen Dortmund und Berlin läuft es aber derzeit nicht ganz planmäßig. Denn eine Baustelle folgt auf die nächste. Gleise werden neu verlegt, Weichen ausgetauscht, Brücken erneuert. Nach Jahren, in denen mehr in die Straße investiert wurde als in die umweltfreundliche Bahn.

„Da sag mal einer, dass Männer nicht multitaskingfähig sind“

Mallek verweist mich auf sein Tablet. Dort werden ihm die tagesaktuellen, die Wochen-, Monats- und Jahresbaustellen, die Abweichungen zu seinem Bildschirm auf dem Cockpit angezeigt. Mir entfährt: „Da sag mal einer, dass Männer nicht multitaskingfähig sind.“ „Richtig!“, lacht Martin. „Neben der Schiene muss ich auch noch das Handy im Blick haben. Damit kommuniziere ich mit dem Zugführer.“ Ich ahne: Lokführer müssen ein hohes Maß an Konzentration mitbringen: Cockpit, Tablet, Handy, Schiene, Bahnhöfe…

Hbf Hamm, 9:32 Uhr. Pünktlich. Martin Mallek schaut aus dem Fenster. Menschen steigen ein und aus. Der Bildschirm im Cockpit zeigt ihm nur noch eine offene Tür, „die des Zugführers“. Im selben Moment piept sein Handy. Der Chef des Zuges, der Zugführer, gibt ihm grünes Licht. Martin Mallek bestätigt. Das Signal steht auf Grün. Er schiebt den Geschwindigkeitsregler nach vorne …

„Die Idylle muss man sich selbst basteln.“

Ich bohre weiter. „Wie viel Idylle von Lukas, dem Lokomotivführer, steckt noch im Job?“ Martin lacht auf. „Die Idylle muss man sich selbst basteln.“ Er braucht gefühlt keinen Fahrplan mehr, die Zeiten, Strecken und Bahnhöfe sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn er am Rhein entlangfährt, kann er die Schönheiten zwischen Mainz und Bonn, die „Freiheit der Fahrt auch genießen“. Verschmitzt schiebt er hinterher: „Neulinge in der Lok sind verspannter. Für mich gilt inzwischen: möglichst wenig arbeiten, trotzdem effektiv und sicher fahren!“

Herausfordernd bleiben die ständig wechselnden Dienstzeiten, Wochenenddienste, der Stand-by-Modus und die Verdichtung der Arbeit. Gab es früher noch die Möglichkeit zur Übernachtung und Stadtbesichtigung, heißt es heute an einem normalen Arbeitstag: Dienstauftrag aufs Tablet. 8:51 Uhr Dienstbeginn. 15:45 Uhr Berlin Hbf. Pause. Mit der S-Bahn rüber zum Ostbahnhof. Und dann den ICE nach Düsseldorf. Feierabend in Dortmund.

Keine Zeit für Ablenkung

Noch zwölf Minuten bis Gütersloh. Mallek erklärt mir die Bedeutung von Vor- und Hauptsignalen. „Man kann sich nicht erlauben, mal wegzuträumen.“ Trotzdem frage ich nach: Was macht man noch so nebenbei im Cockpit? Vehement entgegnet er mir: „Nichts! Da bleibt keine Zeit für anderes. Es gilt die Strecke zu beobachten.“ Dies tut er. Mit einem Grinsen. Stille.

„Doch was ist, wenn den Lokführer ein großes menschliches Problem befällt?“ Martin lacht. „Dann gilt es, mit Schweißperlen auf der Stirn in den nächsten Bahnhof zu kommen und dem Zugführer zu signalisieren: Du musst mir mal fünf Minuten Zeit geben.“ Zwei Anzeiger im Display liegen gleichauf: Wir liegen im Zeitplan. Martin lehnt sich entspannt zurück.

„Wie viel Spielraum hast du, um Verspätungen aufzuholen?“

„Ärgerst du dich über Verspätung?“ Das „Immer!“ folgt prompt. Mich interessiert, wodurch diese zustande kommen. „Durch Baustellen und die zu hohe Streckenauslastung. Immer mehr Züge auf immer den gleichen Gleisen. Wenn dann ein Zug langsamer ist, gar liegen bleibt, baut sich eine Störung auf.“

Ich hake nach: „Wie viel Spielraum hast du, um Verspätungen aufzuholen?“ Der Bahner erklärt: „Das kommt auf die Streckenverhältnisse, den Zug an. Bei Regenwetter kann ich die Kraft des Zuges nicht so auf die Schiene bringen. Mit meiner Erfahrung hole ich, wenn sie mich lassen und die langsameren Nahverkehrszüge aufs Überholgleis schicken, auch mal zehn Minuten raus.“ Sagt’s und rauscht an einer wartenden Regionalbahn vorbei.

Bahnhof ausgelassen

Noch fünf Minuten bis Gütersloh. „Hast du schon mal vergessen, an einem Bahnhof anzuhalten?“ „Ja, aber nicht in Wolfsburg!“ Lachen. „Sondern?“ „Es gibt öfters Abweichungen von den geplanten Zügen.“ Auf der Fahrt nach Magdeburg sollte er außerplanmäßig in Helmstedt halten. Er fuhr automatisch durch, weil es nicht im normalen Fahrplan stand. Lachend berichtete er: „Der Zugführer rief mich an und sagte mir: ‚Hey Martin, du hast einen Halt ausgelassen‘ …“

Hbf Gütersloh, 9:53 Uhr. Wir lassen heute Gütersloh nicht aus. Pünktlich. Ich verhalte mich still auf meinem Notsitz. Martin Malleks Finger betätigen scheinbar spielend, aber fokussiert Knöpfe und Hebel. Wieder schließen sich alle Türen, sein Handy piept. Er schiebt den Hebel nach vorne … Der ICE nimmt Fahrt auf. Keine 5 km später bremst uns ein gelbes Signal aus. Langsamfahrstelle. Brückenbauarbeiten.

„Sei freundlich zu den Kunden, sie bezahlen dein Gehalt!“

Wir reden über Verantwortung. Ein doppelter ICE transportiert locker mal tausend Menschen. „Das ist Verantwortung, da ist der Zug voll bis unter die Mütze und ich sage mir, heute musst du doppelt aufpassen.“ Martin Mallek erklärt mir seine Grundmotivation: Die Menschen sind das Wichtigste. Kunden gehen vor! Sein Vorgesetzter wird mir dies auf der Rückfahrt bestätigen: Mallek geht es immer um das Wohl der Menschen, oder wie er selbst sagte: Sei freundlich zu den Kunden, sie bezahlen dein Gehalt!

Seinen christlichen Glauben verschweigt der Eisenbahner nicht. „Ich bete vor jeder Zugfahrt, trotzdem kann mir alles passieren.“ Wenn Unregelmäßigkeiten auftreten, auf der Strecke, am Fahrzeug, muss Martin in Sekundenschnelle die richtige Entscheidung treffen. Ich ahne: An dem Job hängt viel dran.

Personen in den Gleisen

Noch 5 Minuten bis Bielefeld. Martin Mallek übernimmt den Gesprächsfaden. „Willst du nicht auch noch die Frage nach Personenschäden stellen?“ Ich zögere. „Personen in den Gleisen gehören dazu. Man darf nicht den Fehler machen, sich schuldig zu fühlen. Man ist unfreiwilliger Zuschauer“, erklärt der Bahner versöhnt, aufgeräumt, ja fast seelsorgerlich. Ich spüre: Hier ist einer im Reinen mit sich, seinem Beruf, mit Gott.

Er schiebt nach: „Als ich als Lehrling an einem Unfall vorbeifuhr, ploppte sie innerhalb weniger Momente in mir auf: die Sinnfrage. Was bleibt vom Leben?“ Zu Hause greift er nach der Bibel. Er stellt fest: Okay, ich verstehe Gott nicht in allem, will ihm aber vertrauen. Martin, der am Hebel für tausende Menschen sitzt, lässt Gott ans Steuer seines Lebens.

„Was macht ein Lokführer in seiner Freizeit?“

Noch 2 Minuten bis Bielefeld. Ein Baumarkt rechts ist für den Lokführer die Wegmarke. Hier muss er anfangen, die Bremsung einzuleiten. Tut er es nicht rechtzeitig, schiebt das Gewicht des Zuges ihn über den Bahnhof hinaus. Schnell frage ich noch: „Was macht ein Lokführer in seiner Freizeit? Fahrpläne auswendig lernen, an einer HO-Modellbahnplatte sitzen?“ Mallek lacht schallend.

„Freizeit?“ Pause. „Ich engagiere mich in einer Kirchengemeinde. Zudem schraube ich gerne. Die Leute stehen Schlange mit ihren defekten Rasenmähern, Mofas und Waschmaschinen. Die bringe ich repariert wieder aufs Gleis.“

Hbf Bielefeld, 10:04 Uhr. Pünktlich. Der Intercity-Express „Passau“ spuckt mich auf den Bahnsteig aus. Ich bin um zwei Erfahrungen reicher: Lokführersein ist mehr als ein Kinderspiel und die Stadt Bielefeld gibt’s in echt.

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. Er wuchs auf in Sichtweite der ersten deutschen Ferneisenbahnstrecke Leipzig-Dresden. Er lernte u.a. im ICE-Cockpit: Lokführer wie Martin Mallek können zu 99 Prozent nichts für die Verspätungen. Sie freuen sich, wenn Fahrgäste oder eine „ganze Mannschaft nach vorne kommen und sich mit Apfelsinen oder einem kühlen Getränk für die (hoffentlich) wunderbare und störungsfreie Zugfahrt bedanken“.

Der Kneipenpastor Titus Schlagowsky (Foto: Rüdiger Jope)

Morgens stehen zwei Steuerfahnder im Schlafzimmer: So wurde Titus vom Kriminellen zum Kneipenpastor

Titus Schlagowsky war Schläger, Säufer und Schwindler. Im Knast wollte er sich erhängen. Heute ist er Kneipenpfarrer.

So eine Geschichte kann man sich nicht ausdenken! Wir sind durch Nastätten gekurvt, einem kleinen Städtchen im westlichen Hintertaunus, 4.000 Einwohner. Jetzt stehen wir in der kleinen Kneipe des Ortes. Früher Abend, gedämpftes Licht, Stimmengemurmel. Wimpel der Biermarke Astra und von Borussia Dortmund hängen wild verteilt herum. Es ist noch leer, fünf, sechs Leute stehen um den Tresen. Sie fußballfachsimpeln, frotzeln, lachen, rauchen.

Hinterm Tresen steht Titus Schlagowsky. Der Wirt, ein großer kräftiger Typ, auf dem Kopf fast kahl, Vollbart, zieht genüsslich am Zigarillo. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, eine Lederweste und sein Herz auf der Zunge, wie sich in den nächsten Stunden zeigen wird.

Seit ein paar Monaten ist er über seine Kneipe und Nastätten hinaus bekannter geworden: als „Kneipenpastor“. Früher wollte er mal nach Island auswandern, hat mehrere gescheiterte Beziehungen und Insolvenzen hinter sich, im Knast gesessen … Und ist heute Pastor? In einer Kneipe? Es ist viel passiert, bis wir an diesem Abend im Oktober 2021 beim Bier zusammensitzen.

„Keine Schlägerei ohne mich!“

Titus Schlagowsky ist Sachse, 1969 geboren, aufgewachsen in einem Vorort von Crimmitschau, in einer christlichen Familie. „Ich war nicht staatlich ‚jugendgeweiht'“, erzählt er. Seine Kindheit und frühen Jugendjahre hat er in guter Erinnerung, „die Kirche hat mir Rückhalt gegeben“. Es machte ihn aber auch zum Außenseiter, der von Mitschülern gemobbt wurde, nachdem die Familie in die Stadt umgezogen war. Eines Tages wehrt er sich, schlägt mehrere seiner Mitschüler nieder. Von da an war sein Motto: „Keine Schlägerei ohne mich!“

Zu den Prügeleien kommt der Alkohol. Nach der Schule lernt er Schreiner und säuft so viel, dass er am nächsten Tag oft „nicht mehr weiß, was oben und unten ist“. Auch in Sachen Glauben macht er jetzt sein „eigenes Ding“, wird ein „typischer U-Boot-Christ“, wie er das nennt: „An Weihnachten auftauchen, wieder abtauchen, Ostern auftauchen, wieder abtauchen … Das war’s.“ Auch von der DDR hat er die Nase voll. Gleich nach der Wende 1989 verschwindet er mit seiner damaligen Freundin in den Westen, landet über Verwandte, die in Bad Nauheim leben, in Nastätten.

Dicke Autos und große Häuser

In den nächsten Jahren wird’s richtig wild. Titus Schlagowsky hangelt, mogelt und schummelt sich durch, eckt an. In seinem neuen Schreinerbetrieb belegt er einen Meisterkurs, wird kurz vor der Prüfung gefeuert, erklärt sich aber wie ein Hochstapler schon mal („mit wohlwollendem Blick auf die Zukunft“) zum Schreinermeister.

Als er den Meisterbrief endlich in den Händen hält, lebt er auf viel zu großem Fuß: dicke Autos, große Häuser, er betankt Firmenfahrzeuge mit billigem Heizöl statt Diesel, wird erwischt; muss bald Insolvenz anmelden. Obendrein drängt er seine neue Lebenspartnerin, die unter einer Bulimie-Essstörung leidet und ein Kind von ihm erwartet, zur Abtreibung; sie verlässt ihn …

In Haft wegen Steuerhinterziehung

Schlagowsky will auswandern, nach Island: sein Traumland. Da lernt er seine heutige Frau Andrea kennen. Das Paar wagt einen Neuanfang, ackert ohne Finanzpolster, bringt mit Freunden und gesammelten Einrichtungsgegenständen aus aufgegebenen Bäckereien quer durchs Land ihr neues Café mit Kneipe auf Vordermann – und dann stehen eines Morgens um fünf Uhr zwei Steuerfahnder im Schlafzimmer … Zum Verhängnis wird Titus Schlagowsky, dass er bei seinem Neuanfang Privat- und alten Firmenbesitz beim Verkauf vermischt und Löhne, Überstunden unter Umgehung der Lohnsteuer bar aus der Kasse bezahlt, auch Einkäufe bei Lieferanten ohne Rechnung begleicht.

Nach jahrelangen Ermittlungen wird im März 2012 der Haftbefehl gegen ihn vollstreckt. Verurteilt zu drei Jahren und drei Monaten wegen Steuerhinterziehung, landet er im Knast, Haftnummer 39 812. Im Juli ist er fertig. Die Zelle ohne Fenster, 24 Stunden künstliches Licht, „Lebensüberwachung“ alle 20 Minuten. Er will sich umbringen.

Suizidversuch im Knast

Der Strick, eine in Streifen geschnittene Jogginghose, ist gedreht, sein Abschiedsbrief geschrieben, als der Kuli unters Bett rollt. Er kniet davor und denkt sich: „Jetzt kannste auch noch ’ne Runde beten.“ Es wird das längste Gebet seines Lebens, er heult Rotz und Wasser, und merkt, dass „auf einmal alles anders“ geworden ist, er „eine andere Einstellung zum Leben“ gewonnen hat. Und er vernimmt Gottes Reden: „Ich hab noch was vor mit dir.“

Noch im Knast wird er zum „Müllschlucker“: Andere Knackis, die von seiner Veränderung gehört haben, kippen in Gesprächen ihren Müll bei ihm ab. Er wechselt bald ins Freigängerhaus und wird Ende November 2013 vorzeitig entlassen, allerdings mit vier Jahren Bewährung. Wieder „draußen“, macht er eine Prädikantenausbildung, ist seit 2016 Laienprediger der evangelischen Kirche und hat in den folgenden dreieinhalb Jahren 265 Predigten gehalten. Demnächst will er noch seine kirchliche Diakonen-Ausbildung abschließen.

BILD-Schlagzeile in einer Predigt

Jetzt, bei unserem Besuch im Oktober, steht er abends in seiner Kneipe, hat T-Shirt und Weste gegen ein schwarzes Kollarhemd mit grüner Stola getauscht. Die Musik aus dem Radio ist abgedreht, Gäste hocken am Tresen und in den Bänken, gut 30 Leute insgesamt, es ist eng. An einem Tisch proben Gabi Braun am Akkordeon und Heiner Keltsch auf dem E-Piano ein paar Takte, ein Elektrotechniker aus der Nachbarschaft hat Licht und Kameras aufgebaut, um die Kneipen-Andacht, die hier gleich abläuft, aufzuzeichnen. Sie wird später auf YouTube zu sehen sein.

Titus startet mit einem Wochenrückblick, macht eine launige Bemerkung zu einer BILD-Schlagzeile. Dann geht es schnell zur Sache. Grit, eine Mitarbeiterin, liest aus Psalm 32 und Titus holt den Bibeltext in die Kneipen-Atmosphäre, spricht von Krankheit, Leid und Dankbarkeit. Er kennt die Leute hier, spricht sie direkt an: „Ute, Rudi – was denkt ihr?“

„In der Kneipe predige ich nicht!“

Mittendrin zapft Chantal am Tresen still ein Bier. Zum Ende lädt Titus seine kleine Gemeinde ein: „Wenn ihr eine Krankheit überwunden habt, dann bedankt euch – und nehmt Gott beim Dank mit ins Boot! Denn nicht die Glücklichen sind dankbar, sondern die Dankbaren sind glücklich.“ Gabi und Heiner spielen noch ein Lied, einige murmeln das Vaterunser mit. Segen. Ein paar Gäste bekreuzigen sich.

Schlagowskys „Karriere“ als „Kneipenpastor“ begann erst vor gut einem Jahr: An einem Abend wollte er sich kurz zurückziehen, um im Bierkeller seine nächste Predigt nochmal laut zu proben. „Das kannst du doch auch hier machen“, meint ein Gast. „Klar, ich predige hier in der Kneipe – so einen Scheiß mach ich nicht!“, wehrt Titus mit gewohnt großer Klappe ab. Als aber noch andere Gäste ihn auffordern, hält er tatsächlich seine erste Kneipenpredigt.

Kirche bei einem Glas Bier

Inzwischen lädt er zweimal im Monat zu Gottesdiensten ein. Und landet oft bei dem Gedanken: „Jeder Mensch hat eine zweite Chance, so wie ich“, vor allem beim „Chef“, wie er Gott nennt. Seinen Gästen gefällt’s. „Ich habe wie Titus am Boden gelegen. Der labert nicht nur vom Leben, sondern der weiß, wie es ist. Mit seinen Predigten spricht er mir aus der Seele“, bekennt Axel (59).

Neben ihm sagt Frank (61): „Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil sie mir nichts zu sagen hatte. Die Pfarrer sind so weit weg vom Leben! Hier verstehe ich die Bibel.“ Kevin (45) ist richtig begeistert: „Kirche nicht altbacken, sondern an meinem Leben dran. Und das bei einem Glas Bier. Wo gibt’s denn sowas!“

Würde Jesus heute in die Kneipe gehen? Titus lacht. „Ja, da bin ich mir sicher. Der hat sich zu allen gesellt.“ Auch Pfarrerinnen und Pastoren, Christen überhaupt sollten ruhig öfter mal in die Kneipe gehen.

Harte Kritik an der Kirche

„Ich glaube, das ist eine Aufgabe“ – um mit den Menschen zu reden, sich ihre Fragen anzuhören, findet er: „Ich gehe teilweise hart ins Gericht mit meiner Kirche, weil der Bezug zu den Leuten immer weiter verloren geht. Das tut mir in der Seele leid.“ Er selbst hat im Treppenhaus hinter der Kneipe einen Stuhl stehen. Dahin zieht er sich mit Gästen zurück, wenn einer von ihnen mal reden will: „Es landet alles bei dir: Ehekrisen, Alkoholprobleme, Kinderärger, Altersfrust …“

Die Worte des Kneipenpastors bleiben nicht ohne Wirkung. Gabi, die Akkordeonspielerin, sagt nachdenklich: „Jahrzehnte hat Gott für mich keine Rolle gespielt, ich bin aus der Kirche ausgetreten. Titus hat mit seinen Gottesdiensten etwas in mir zum Klingen gebracht. Ich bin Gott nähergekommen. Vielleicht trete ich bald wieder ein.“

Jörg Podworny ist Redakteur des Magazins „lebenslust“.

Lesetipp und mehr: Der Kneipenpastor. Wie Gott mein Versagen gebraucht, um Herzen zu verändern (SCM Hänssler)

Romanautor Titus Müller (Foto: Debora Kuder)

Überwachung war allgegenwärtig: Titus Müller profitiert für seine Spionage-Romane von eigenen Erlebnissen

Titus Müllers neuestes Buch handelt von einer Spionin zur Zeit des Mauerbaus – ein Thema, das ihn persönlich betrifft. Er erinnert sich an beklemmende Momente aus seiner DDR-Kindheit.

Kurz nach neun holt mich Titus Müller am Bahnhof in Landshut ab. Es sind Ferien. Trotzdem ist er seit sechs Uhr wach – wie jeden Morgen, seit er vor sieben Jahren Vater geworden ist. Titus Müller ist Autor. 14 Romane hat er bisher veröffentlicht und etwa nochmal so viele Erzählungen und Sachbücher. Es gefällt ihm, zwischen christlichem und säkularem Markt hin- und herzuwechseln. Im Juni kamen zwei Bücher parallel heraus: Ein Spionageroman und C.S. Lewis’ Briefe auf Deutsch.

„Und das gilt als Beruf!“

Auch nach zwanzig Jahren freut er sich noch darüber, dass er sich monatelang mit spannenden Themen beschäftigen darf: „Und das gilt als Beruf!“ In seinen Romanen widmet er sich meist historischen Personen oder Ereignissen. Detailreich und mit viel Hintergrundwissen schreibt er über das Leben im Mittelalter, das Erdbeben in Lissabon im Jahr 1755, die Märzunruhen 1848, den Untergang der Titanic, einen Hochstapler in den Zwanzigerjahren oder Geheimdienstaktivitäten während des Zweiten Weltkriegs. „Geschichte in Geschichten zu erzählen, ist Titus Müllers großes Talent“, heißt es im Radiosender Bayern 2 über ihn. Seine Geschichten bestechen dadurch, seine Leser in andere Welten und Zeiten zu entführen.

Zu Fuß machen wir uns auf den Weg in sein Büro, an einer schönen Spazierstrecke entlang. Ein kleiner Zufluss der Isar schlängelt sich hier, umsäumt von einer wilden, regennassen Wiese. Titus Müller ist ein Stadtmensch und kann sich drinnen stundenlang in Bücher aller Art vertiefen. Draußen kommt eine andere Seite zum Vorschein – die des Staunenden, der in der Natur verborgene Schätze entdeckt. Raureif, zarte Vogelfedern, knisternde Ameisenbeinchen.

Fürs Schreiben ausquartiert

Müllers Schreibschmiede befindet sich in einem nüchternen Bürogebäude. Seit zu Hause Legobauten und Hot-Wheels-Bahnen dominieren, hat er sich fürs Schreiben ausquartiert und den Schreibtisch an seinen Sohn abgetreten, fürs Hausaufgabenmachen. Auf der Fensterbank liegen Papierstapel, in der Ecke stehen Hausschuhe. Computer, Drucker, ein Glas Leitungswasser. Mehr braucht Titus Müller nicht zum Schreiben. Ach ja, und eine Menge Bücher.

Zwei Reihen sind für die eigenen Bücher reserviert. Außerdem stehen in den Regalen Biografien über Erich Honecker und Willy Brandt, Sachbücher über den Mauerbau und die Spionageabwehr der DDR, ein Lexikon des DDR-Alltags. Darin steckt Titus Müller gerade gedanklich. Seine aktuelle Romantrilogie handelt von einer Sekretärin, die im DDR-Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel als Informantin für den BND arbeitet. Am zweiten Band, der im Jahr 1973 spielt, arbeitet er gerade.

Talent kennt auch Zweifel

Ein bis anderthalb, manchmal auch zwei Jahre arbeitet Titus Müller an einem Roman von der ersten Idee bis zur Abgabe. „Zwei Jahre sind ungünstig fürs Kühlschrank-Füllen und Miete-Bezahlen. Ein Jahr ist besser“, meint er: „Ich könnte doppelt so schnell sein und zwei Romane im Jahr schreiben, wenn ich nicht so viel Zeit damit vergeuden würde, meine Selbstzweifel zum Schweigen zu bringen. Am Morgen, wenn ich mich an den Computer setze, fürchte ich anfangs immer: ‚Heute wird’s nichts'“, berichtet er.

Wenn sein innerer Kritiker zischt: „Du kriegst heute nichts hin“, stellt sich Titus Müller manchmal vor, wie ein Töpfer Ton auf die Drehscheibe klatscht. Der erste Entwurf für eine Romanszene muss nicht brillant sein, es genügt ein Klumpen Ton auf der Drehscheibe, aus dem später ein schöner Krug werden wird. Um Durchhänger zu überwinden, hat Müller viele Tricks auf Lager. Zum Beispiel hört er gern Filmmusik, um sich in die passende Stimmung zu bringen.

Über den Mauerbau wollte er schon länger schreiben

Buchideen hat Titus Müller genug. Er sammelt sie manchmal jahrelang. „Eine Idee stirbt auch mal nach drei Tagen“, sagt er: „Aber wenn es mich nach Wochen immer noch im Bauch kitzelt, weiß ich, dass sie spannend genug ist.“ Solche Ideen schlägt er vor und die verkaufsträchtigsten von ihnen darf er als Romane umsetzen. Über den Mauerbau wollte er schon lange schreiben: „Betrifft mich ja auch irgendwie“, meint er.

Geboren 1977 in Leipzig, hat er zwanzig Jahre in Berlin verbracht. Als Kind stand er vor der Mauer, starrte mit seinen Brüdern und seiner Mutter auf das Brandenburger Tor, die Grenzsoldaten und die Westseite Berlins: „Immer wieder fragten wir: ‚Könnten wir nicht mit einem Heißluftballon über die Mauer fliegen? Oder einen Tunnel graben?‘ Und meine Mutter sagte: ‚Das hat man alles schon probiert.'“

„Das wirft moralische Fragen auf“

Müller war davon fasziniert, wie es möglich gewesen war, die Öffentlichkeit über Nacht vor vollendete Tatsachen zu stellen. Doch erst in Verbindung mit der Spionage-Komponente gab der Verlag grünes Licht für das Thema. Bereits in dreien seiner Romane agieren Spione. Ich will wissen, warum.

„Geheimdienste täuschen und hintergehen, um ein vermeintlich höheres Gut zu erreichen. Das wirft moralische Fragen auf, ideal für die Erkundung in einem Roman. Und mich interessiert der Alltag der kleinen Leute, aber eben auch das Leben von denen, die am großen Rad gedreht haben. Wenn ich die Aktionen des BND, des KGB und der Staatssicherheit schildere, kann ich Erich Honecker, Alexander Schalck-Golodkowski und Reinhard Gehlen ins Scheinwerferlicht rücken.“

Mordmethoden eines KGB-Killers verstehen

Ein Großteil seiner Zeit fließt in die Recherche: Müller interviewt Zeitzeugen und Experten, reist an Orte des Geschehens, durchsucht Archive. Für „Die fremde Spionin“ wälzte er dicke Bände aus der Münchner Staatsbibliothek über die Kommerzielle Koordinierung und vertiefte sich in rechtsmedizinische Schriften, um die komplexen Mordmethoden eines KGB-Killers zu verstehen.

Nicht immer verläuft die Recherche nach Plan: „Bei meinem Roman ‚Nachtauge‘ wusste ich, dass die Frau, auf der meine Heldin beruhte, Kinder gehabt hatte – sie mussten noch leben.“ Er suchte tagelang nach ihnen, befragte vor Ort Lokalhistoriker – keiner wusste etwas. Schließlich wurde eine Recherchespezialistin fündig, die er beauftragt hatte – leider allerdings erst, als das Buch fertig war.

Pakete kamen aufgerissen daheim an

An seine eigene Kindheit hat Müller viele schöne Erinnerungen: „Mit meinen beiden Brüdern habe ich viel gelacht. Wir sind Schlitten gefahren und durch den Park getobt. Manches habe ich auch nicht mitbekommen – zum Beispiel, dass es zu Hause Stasi-Besuch gab.“ Überwachung an sich war aber allgegenwärtig. Pakete kamen aufgerissen daheim an und bei größeren Veranstaltungen saß stets jemand zur Überwachung im Publikum. „Wenn es beim Telefonieren in der Leitung knackte, sagten wir manchmal: ‚Willkommen in unserem Gespräch'“, erinnert er sich.

Beklemmende Momente erlebte er auch in der Schulzeit: In der Politikdiskussion ignorierte ihn die Lehrerin einfach. Beim Fahnenappell stach er als Einziger ohne Pionier-Hemd heraus „wie ein Farbklecks in der Meute“. Einmal wurde sogar sein Schulranzen durchsucht: „Mein Freund Mathias, der Pionierleiter war, kam mit zwei starken Jungs, als fürchte er, ich könnte mich wehren, und entschuldigte sich mit ernstem Gesicht, bevor er zur Tat schritt. Wir waren danach weiter befreundet; ich wusste ja, er tat nur, was von ihm erwartet wurde. Aber wir sprachen nie darüber.“

In der DDR wäre er Bäcker geworden

Vor allem war klar, dass er als Sohn eines Adventisten-Pastors in der DDR nicht hätte studieren können: „Nach der zehnten Klasse wäre Schluss gewesen und ich wäre dann Bäcker geworden. Mein Beruf als Autor erfüllt mich. Das Schreiben und Veröffentlichen-Dürfen macht mir so einen Spaß. Wäre die DDR weitergegangen, hätte es das für mich nicht gegeben.“ Inzwischen gehört Müller mit seiner Familie zu einer Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde.

Ich will wissen, ob er immer noch samstags den Griffel ruhen lässt. „Ich weiß nicht, ob es Gott wichtig ist, welcher Tag es ist“, meint er. „Aber ich glaube, es ist ihm wichtig, dass man sich einen Tag ausruht.“ Seine Wochenenden sind oft voll mit Lesungen, Schreibwerkstätten oder Literaturgottesdiensten. „Und mein Impuls ist immer, an den Geschichten weiterzumachen“, gibt er zu: „Aber es tut mir gut, darin auch mal gebremst zu werden und einfach mal durchzuatmen.“

„Leser merken genau, ob ein Autor sie belehren will“

Müllers Glaube taucht auch in seinen Büchern auf. In manchen nehmen christliche Themen einen zentralen Platz ein, in anderen sind sie flüchtige Streiflichter. Aufdringlich missionieren möchte er aber nicht: „Leser merken genau, ob ein Autor sie belehren will. Wenn es aber authentisch ist und die Bücher von interessanten Menschen erzählen, dürfen auch tiefere Fragen vorkommen“, findet er: „In meiner Kindheit gab es das Prinzip der Schluckimpfung. Ich würde gern als Unterhaltungsautor gute Zuckerwürfel herstellen mit etwas Medizin darauf. Ich freue mich, wenn ein Roman so viel Tiefgang hat, dass am Ende etwas zum Nachdenken bleibt.“

Auf die Frage, wie sich sein eigener Glaube entwickelt hat, meint er: „Ich weiß weniger. Früher war mir alles sicherer und klarer. Aber ich nehme mehr Anregungen auf aus allen Richtungen. Gottes Spuren und Impulse auf dieser Welt zu erkennen, ist ein spannender Prozess, der hoffentlich für mich weitergeht, bis ich alt und grau bin.“ Eine geistliche Konstante ist für ihn bis heute C.S. Lewis.

„Vom ersten Buch an hat er mich gepackt“

Entdeckt hat er ihn mit 15 Jahren: „Vom ersten Buch an hat er mich gepackt mit seinem Tiefgang, seinem breiten Horizont, seiner Herzenswärme und seiner Klugheit. Vor allem damit, wie er an das Thema Glauben herangeht – ohne Angst vor schwierigen Fragen. Irgendwann hatte ich alles von ihm gelesen.“ Mit seinen Briefen hatte er noch einmal mehrere tausend Seiten Material. Diese auf Deutsch herauszugeben, hat ihm viel bedeutet: „Dadurch bin ich dem Menschen C.S. Lewis nähergekommen, mit allen seinen Brüchen.“

Titus Müller begleitet mich zurück zum Bahnhof. Er selbst fährt mit dem Fahrrad zurück nach Hause. Seine Frau Lena ist mit den Jungs ausgeflogen, er kann den Rest des Tages von daheim aus weiterschreiben. Ein Mensch mit viel Tiefgang. Mir bleibt auch über den Heimweg hinaus noch viel zum Nachdenken.

Debora Kuder arbeitet als freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in München.

Foto: TheoCrazzolara / pixabay

Hätten Sie es gewusst: „O du fröhliche“ ist eigentlich kein Weihnachtslied

Johannes Falk verlor sechs Kinder und beinahe sein eigenes Leben an den Typhus. Dass sein Lied „O du fröhliche“ zu einem Weihnachtsklassiker werden würde, plante er nicht.

Kein Heiligabend ohne „O du fröhliche“. Kennen alle. Rund um die Welt. Der Texter dieses Weihnachtsliedes schrieb es für verwahrloste Kriegswaisen und Straßenkinder. Protestierte gegen die Prügelstrafe, musste sechs seiner eigenen Kinder zu Grabe tragen und blieb trotzdem ein humorvoller Bildungspionier.

Ein Theologiestudent, dem seine Heimatstadt Danzig das Studium finanziert, sollte dankbar dafür sein, oder? Aber der 27-jährige Johannes Daniel Falk an der Uni im sächsischen Halle schmeißt nach vier Jahren alles hin und kehrt 1797 nicht als Pfarrer nach Ostpreußen zurück. Sondern? Schreibt lieber freiberuflich bissige Kommentare zur Tagespolitik! Kann man davon leben? Nein.

In Kontakt mit Goethe und Schiller

Papa Falk daheim an der Ostsee ist Perückenmacher. Er hatte den Jungen mit 10 aus der Schule geholt und in die Werkstatt gesteckt. Die Kundinnen und Kunden sind begüterte Leute, standesbewusste Adlige. Kaum war Johannes mit 16 zurück am Gymnasium, hatte er sich in brillanten Aufsätzen über das vornehme Getue dieser Leute lustig gemacht. Mama Constantia geht in eine fromme „Brüder“-Gemeinde, das religiöse Klima im Lande Immanuel Kants ist aber streng vernunftorientiert und „aufklärerisch“ – Johannes nimmt diese Widersprüche scharfsinnig aufs Korn.

1797 heiratet er Caroline Rosenfeld, zieht mit ihr nach Weimar um und kommt dort durch seinen väterlichen Freund Christoph Martin Wieland, den gebürtigen pietistischen Schwaben, in Kontakt zum berühmten „Dichter-Dreigestirn“ Goethe, Schiller, Herder. „Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satyre“ wird 1803 Falks erstes erfolgreiches Buch in Serie, 1806 ernennt ihn Herzog Carl August zum Legationsrat. Mit 38 Jahren erhält er das erste feste Gehalt! Aber: Vier seiner Kinder sterben an Typhus, er selbst entgeht nur knapp der tödlichen Epidemie.

Vorreiter der Jugendsozialarbeit

Im Oktober 1813 besiegen Preußen und drei alliierte Staaten die französischen Truppen Napoleons bei Leipzig. Diese sogenannte „Völkerschlacht“ hinterlässt rund 100.000 getötete Soldaten, noch mehr schwerstverwundete Arbeitslose und: jede Menge Waisenkinder, Streuner, verwahrloste minderjährige Überlebenskünstler. Johannes Falk gründet mit Weimarer Bürgern die „Gesellschaft der Freunde in der Noth“ (wir würden heute sagen: einen Förderverein) und nimmt 30 Kinder in der eigenen Wohnung auf (!). Ehepaar Falk unterrichtet alle in der „Sonntagsschule“, die Jungen in der „Berufsschule“, die Mädchen in der „Nähschule“. Das wird dem Vermieter der Wohnung zu laut, kein Wunder.

Als zwei weitere Falk-Kinder im Teenageralter sterben, kaufen Johannes und Caroline den (heruntergekommenen) „Lutherhof“. Johannes kontert mit einer Schrift, deren langatmigen Titel heute keine Suchmaschine fressen würde: „Das Vaterunser in Begleitung von Evangelien und alten Chorälen wie solches in der Weimarschen Sonntagsschule mit den Kindern gesungen, durchgesprochen und gelebt wird. Zum Besten eines von den Kindern selbst zu erbauenden Beth- und Schulhauses.“ Was er 1823 nicht ahnen kann: Seine Ideen inspirieren berühmte Sozialreformer und -politiker, sein Weimarer „Rettungshaus“ wird zum Vorreiter evangelisch-diakonischer Jugendsozialarbeit bis heute.

Wie „O du fröhliche“ ein Weihnachtslied wurde

„O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Osterzeit! / Welt liegt in Banden, Christ ist erstanden / Freue, freue dich, o Christenheit. O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Pfingstenzeit! / Christ, unser Meister, heiligt die Geister / Freue, freue dich, o Christenheit.“ Kennt keiner. Nur die erste Strophe – die zu Weihnachten – ist hängen geblieben.

Johannes Falk schreibt 1816 ein „Allerdreifeiertagslied“ für „seine“ Heimkinder. Die Melodie hat er von einem fieberkranken Jungen aus Italien gehört (später wird man herausfinden, dass es „O sanctissima, o pi-issima, dulcis virgo Maria“ hieß). Ein bayerischer Mitarbeiter Falks, Heinrich Holzschuher, dichtet 1826 noch zwei weitere „Weihnachts“-Strophen dazu und macht es damit – unwillentlich – zu einem reinen Weihnachtslied. Aber da ist der „Waisenvater von Weimar“ bereits seit dem 14. Februar 1826 tot. Mit 58 an einer Blutvergiftung gestorben. Caroline und der ehemalige „Zögling“ Georg Renner überführen das private Waisenheim als „Falk’sches Institut“ in kommunalen Besitz. Die Schriften des „Freundes von Scherz und Satyre“ aber zeigen bis heute, dass kindliche Herzensfrömmigkeit, empathisches Sozialengagement und scharfsinnig intellektuelle Zeitkritik kein schlechter Dreiklang sind.

Andreas Malessa ist Hörfunkjournalist in der ARD, Theologe, Buchautor satirischer Kurzgeschichten, Referent und Moderator auf Veranstaltungen mit religiös-kulturellen, kirchlichen und sozialethischen Themen. Im Frühsommer sind von ihm die Titel „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Mann! Bin ich jetzt alt?!“ (adeo) erschienen.

Foto: Privat

Vor dem Nichts: Wie ein Fotograf in der Krise den Livestream entdeckte

Im Lockdown stand der Fotograf Frank Wiedemeier vor dem Nichts. Doch die Krise half ihm, einen ganz neuen Berufszweig für sich zu entdecken.

Innerhalb eines Jahres hat sich mein berufliches Leben komplett verändert. Noch im März 2020 sah alles rosig aus. Der alljährliche Skiurlaub in den Alpen mit guten Freunden begann am Frühstückstisch zwar immer mit einem Blick auf die aktuelle Viruslage, aber schnell waren wir bei den Wetteraussichten für den Tag, parlierten über Temperaturen, Sonnenstunden und Abfahrtsrouten. Doch plötzlich, als hätte jemand den Zeitraffer angestellt, ging es Schlag auf Schlag. Und während auf der österreichischen Seite die Pisten geschlossen wurden, war auf der Schweizer Seite noch die Rede von reduzierten Liftpreisen, weil man ja nun nur in der Hälfte des Skigebiets unterwegs sein könne. Doch der Wunsch nach Schweizer Virus-Neutralität hielt nicht lange. Am 13. März 2020 wurden alle Pisten der Silvretta Arena geschlossen und die Gäste zur geordneten Rückreise aufgefordert. Genossen wir vor drei Tagen noch Pulverschnee und Après-Ski, so wurden wir bei der Einreise nach Deutschland dazu aufgefordert, freiwillig für 14 Tage in Quarantäne zu gehen. Willkommen in der Realität.

Absage folgt auf Absage

Die Folgen für mich als freiberuflicher Fotograf kamen in rasender Geschwindigkeit. Veranstaltungen, die ich dokumentieren sollte, wurden ebenso wie gebuchte Workshops und Seminare abgesagt. Mein noch im Frühjahr 2020 neu eingerichtetes Fotostudio, das ich nach einem erfrischenden Urlaub richtig beleben wollte, konnte ich wieder verschließen. Es hagelte Jobabsage auf Jobabsage. Was also tun, wenn das Geplante überhaupt nicht mehr funktioniert? Wenn die Haushaltsplanung zur Makulatur wird, wenn Kosten weiterlaufen, der nächste Erste schneller da ist, als man schauen kann, wenn angesparte finanzielle Reserven wie Schnee in der Frühjahrssonne dahinschmelzen? Eines war mir schnell sonnenklar: Es galt, das Ruder binnen kürzester Zeit herumzureißen. Aber auf welchen Kurs?

Alles begann mit einer schlichten Bestandsaufnahme. Was kann ich? Was habe ich? Was könnte gebraucht werden? Was kann ich anbieten, um eine neue berufliche Perspektive zu gewinnen? So sonderbar es aus heutiger Sicht auch klingen mag, aber mir schoss damals der Gedanke „Livestreaming“ durch den Kopf. Möglicherweise auch, weil sich unsere Kirchengemeinde mit der Aufgabe konfrontiert sah, eine Möglichkeit zu suchen, um im Lockdown Menschen einen sonntäglichen Gottesdienst bieten zu können. Alles, was ich zum Streaming benötigte, hatte ich bereits in meinem Studio. Licht, Kameras, Stative, Computer, Glasfaseranschluss. So begann der erste Gedanke, konkrete Formen anzunehmen. Wie ein trockener Schwamm sog ich jede Information zum Thema Livestreaming auf, die ich finden konnte.

Langsam wächst das Wissen

YouTube-Videos zu Hard- und Software, unzählige Anwenderberichte füllten meinen Alltag. Kürzel wie RTP, RTSP, WebRTC, SRT, NDI, DVE, LUT, BT.709 oder 12G-SDI zogen in meinem Kopf ein und erschlossen sich mir nach und nach. Doch grau ist alle Theorie. Praxis musste her, und zwar schnell. Bereits im ersten Monat mit meinem neuen Arbeitsgebiet begann ich mit der Übertragung des sonntäglichen Gottesdienstes. Zunächst mit einer Kamera, dann – man will den Zuschauern ja etwas bieten – mit einer zweiten Kamera. Mit jedem dieser Livestreams nahm die Erfahrung zu, wuchs das Verständnis: Ton über XLR ist schneller als das Videosignal über HDMI, die Latenz zwischen der Aufnahme vor Ort und dem Stream auf der Webseite liegt schon mal bei 30 Sekunden, ein Kamerawechsel sollte nicht mitten im Satz erfolgen und, und, und.

Auf diese Weise erprobt und autodidaktisch fortgebildet bin ich auf meine Kunden zugegangen, habe mein neues Angebot vorgestellt und stieß auf offene Türen. Denn auch ihnen war schnell klar geworden, dass diese „neue Zeit“ neue Wege der Kommunikation erfordern würde. Wurden Plattformen wie ZOOM, MS Teams oder GoTo-Meeting zu Beginn des vergangenen Jahres kaum wahrgenommen, so schossen deren Nutzerzahlen ab Frühjahr 2020 in die Höhe. Mehr und mehr wurden Events von analog auf digital umgestellt – und ich wollte dabei sein.

Plötzlich Remote-Stream

Nach und nach nahm das Ganze Fahrt auf. Zu den ersten Streams gehörte beispielsweise der eines Landesministeriums. Minister und alle Hauptabteilungsleiter gingen zu einem definierten Termin pünktlich auf Sendung und erreichten eine große Zuschauerschaft. Ein anderer Stream bildete einen siebenstündigen Event ab. Zwei Bühnen, Referenten vor Ort sowie zugeschaltet über ZOOM. Dazu Einspieler und Chats. Spannend war auch der erste reine Remotestream. Per Tablet-Kamera wurde die Moderatorin aus Gelsenkirchen mit zwei Musikern aus Wuppertal, die ihrerseits mit zwei Smartphones aufgenommen wurden, live im Studio in Jüchen-Wey zusammengeschnitten und von dort aus gestreamt. Dabei erfolgte die Steuerung der zugeschalteten Tablet- und Smartphonekameras direkt aus dem Studio.

70 Streams und gewachsene Ansprüche

Heute, exakt ein Jahr später, kann ich auf über 70 Streams zurückblicken. Mit jedem wächst die Erfahrung, mit jedem weiß ich mehr um die Tücken, die oftmals im Detail liegen. Jeder Stream hat seine völlig eigenen Anforderungen. Um hier die Fehlerquote möglichst gering zu halten, habe ich begonnen, im Team zu arbeiten, mit einem Ton- und einem Kameramann. Auch dies ist eine neue Erfahrung für mich, denn als Fotograf bin ich immer alleine unterwegs. Gemeinsam checken wir jeden Job vorab durch. Navy Streamer eben. Jeder Handgriff muss sitzen, auch bei Dunkelheit.

Mit der Zeit wuchsen aber auch die Erwartungen der Kunden sowie meine eigenen. Welche Kameras wollen wir beim nächsten Mal anders kombinieren? Wie optimieren wir Makros, um Abläufe automatischer zu gestalten? Wie vereinfachen wir die Zuschaltung für externe Referent:innen noch weiter? Wie können wir das gesprochene Wort live als Text einblenden? Aber auch klassische Fragen nach Kostenoptimierung stehen auf dem Programm. Wie optimieren wir Kabelwege? Wie reduzieren wir Rüstzeiten? Wie können wir schneller aufbauen? Was brauchen wir an Technik, um noch besser zu werden? Im Ergebnis sind alte Kameras verkauft und neue erworben worden. Das erste Mischpult wurde bereits durch den dritten Nachfolger ersetzt. Die ersten Lichtquellen, einfache LED-Panels, sind gegen leistungsfähige LED-Strahler getauscht. Die Streaming-Hardware ist ebenfalls in dritter Generation im Einsatz. Papierbahnen mit Sprechertexten, die direkt vor der Kamera aufgehängt wurden, sind durch einen professionellen Teleprompter ersetzt worden. Von Kabeln und Adaptern will ich gar nicht sprechen. Das Studio gleicht einem kleinen Foto- und Videofachgeschäft.

Vom One-Man-Fotografen zum Team-Player-Livestreamer

Nach dem ersten Schock und der bangen Frage nach dem, wie meine berufliche Zukunft aussehen würde, habe ich zeitnah auf Aktion umgestellt. Als Unternehmer muss ich auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren und mein Angebot entsprechend anpassen. Dies konnte aber auch nur gelingen, weil ich Kunden habe, die sich darauf eingelassen und es mir ermöglicht haben, diesen Weg wirtschaftlich zu gehen.

Durch Covid-19 hat sich mir ein neuer Arbeitsbereich eröffnet. Aus einem One-Man-Fotografen wurde ein Team-Player-Livestreamer. Bin ich ein Pandemie-Gewinner? Bin ich Covid-19 gar dankbar? Nein, weder noch. Ich habe nach einem Weg gesucht, um trotz der vielen Einschränkungen wirtschaftlich zu überleben. Den habe ich für mich gefunden. Dankbar bin ich denen, die mir die Chance gegeben haben, diesen Weg zu gehen.

Frank Wiedemeier ist freier Fotograf mit dem Themenschwerpunkt Wirtschaft (streamboxstudio.de).

Symbolbild: Pixabay / Michal Jarmoluk

0,7 Sekunden-Entscheidung

Mehr als 400 Spiele leitete Schiedsrichter Lutz Wagner im Profifußball. Heute ist er Lehrwart beim DFB und bildet die Spitzenschiedsrichter weiter. Per Telefon trafen wir uns zum Wortpass-Spiel.

Herr Wagner, geht es im Fußball gerecht zu?
Nein! (lacht) In allen Sportarten, die man nicht messen kann, kann es nicht 100 % gerecht zugehen, weil Bewertungen eines Schiedsrichters immer auch etwas Subjektives haben. Wenn der eine fünf und der andere sechs Meter springt, steht der Gewinner fest. Wenn der Schiedsrichter im Fußballspiel eine Aktion bewerten muss, kommt auch seine eigene Meinung, sein Empfinden hinzu.

Sie sagen, es gibt keine absolute Gerechtigkeit?
Richtig! Auch nicht durch den Videoschiedsrichter. Lediglich bei der Torerzielung funktioniert dies: drin oder nicht drin. Das ist heute technisch feststellbar.

Wer es allen recht machen will, legt eine Bauchlandung hin

Es sei denn, man schießt den Ball wie der Leverkusener Stürmer Stefan Kießling durch ein Loch im Netz von der Seite ins Tor …
Auch dies würde die Torlinientechnik heute melden.

Kann man es im Fußball und auch im Leben jedem recht machen?
Wenn man dies probiert, wagt man die Quadratur des Kreises. Da ist das Scheitern vorprogrammiert. Es gibt einen Unterschied zwischen „recht“ und „richtig“. Ich probiere immer, es richtig zu machen und damit hoffe ich, dass ich es vielen recht mache, aber wenn ich dran gehe, es jedem recht zu machen, lege ich eine Bauchlandung hin.

Wie viel Zeit haben die Schiedsrichter in der Bundesliga im Schnitt für eine Entscheidung?
0,7 Sekunden!

Das ist nicht viel. Kann dabei eine faire Entscheidung rauskommen?
Manchmal ist die Kürze der Zeit ein Vorteil. Wenn ich einen Spieler verwarnen muss, aber einen langen Weg zu ihm habe, kommen mir auf dem Weg alle möglichen Gedanken: Ob ich ihn sympathisch finde, was wir schon für Begegnungen hatten. Dadurch wird die Entscheidung nicht besser oder leichter, sondern plötzlich wird sie von ganz subjektiven Eindrücken geprägt, die nichts mehr mit der Tat zu tun haben. Deswegen sage ich: Je kürzer der Weg zum Delinquenten, desto besser die Entscheidung.

Persönliches hat auf dem Spielfeld keinen Platz

Hatten Sie eine Lieblingsmannschaft? Gab es ein Team, wo Sie mit Vorfreude hinfuhren, weil die netter waren?
(lacht) Diese Frage kann ich mit gutem Gewissen mit Nein beantworten. Es gibt keine Mannschaft, bei der nur die Netten spielen und keine, bei der nur die Unsympathischen spielen. Es ist immer ein Mix. Deshalb verliert ein Schiedsrichter schnell das Gefühl „Diese Mannschaft mag ich und die nicht“, sondern er wird einige Spieler haben, über die er sagt: „Der ist in Ordnung und den sehe ich nicht so gern.“ Das ist auch völlig menschlich, davon kann sich keiner freisprechen. Aber ein Schiedsrichter muss das während des Spiels ausblenden.

Hat das Schiedsrichtersein Ihnen den Glauben an Gerechtigkeit nähergebracht oder Sie sogar weiter davon entfernt?
Eher nähergebracht. Im Endeffekt passiert auf dem Fußballplatz nichts anderes als im normalen Leben, nur unter erschwerten Bedingungen, hier müssen Entscheidungen in einer relativ kurzen Zeit unter dem Druck der Öffentlichkeit getroffen werden. Wenn man es aber da gut hinbekommt, kann man vieles mit rübernehmen in den normalen Alltag.

Hat das Schiedsrichtersein den Menschen Lutz Wagner und seinen Charakter auch in irgendeiner Weise geprägt?
Mein Umfeld, meine Eltern und Personen, die mir nahestehen, haben mich wohl am meisten geprägt, aber natürlich habe ich auch im Fußball Dinge gelernt, positive wie negative, die ich gut in andere Lebensbereiche mitnehmen konnte, gerade in jungen Jahren. In der Ausübung dieser Tätigkeit habe ich Teamfähigkeit gelernt, geübt, mich mit Konflikten auseinanderzusetzen, das Ab- und Zugeben einstudiert, mir Demut, aber auch Durchsetzungsvermögen angeeignet. Das sind Eigenschaften, die man im Leben gut gebrauchen kann.

Heute heißt es „Drecksschiri“

Ist der Schiedsrichter heute im Vergleich zu früheren Jahren mehr gefährdet? Hat sich da aus Ihrer Sicht etwas verschoben?
Ja, ich denke schon, dass die Wertschätzung gegenüber dem Schiedsrichter nicht mehr so vorhanden ist, wie sie das noch vor einigen Jahren war. Hier stehen wir vor einem gesellschaftlichen Problem, das Polizisten, Sanitäter, Feuerwehrleute und andere täglich zu spüren bekommen. Es mangelt hier an Akzeptanz und Achtung. Früher waren es der „Herr Polizist“, der „Herr Schiedsrichter“. Heute sind es leider der „Bulle“ oder der „Drecksschiri“.

Was kann man tun, damit das Klima wieder freundlicher wird?
Bei Vorträgen im Bereich der Wirtschaft wage ich mit den Teilnehmern den Rollentausch. Dort, wo die Meckerer in die Rolle der Entscheider wechseln, merken sie in der Regel schnell, wie schräg und falsch sie mit ihrer Sichtweise liegen. Allgemein würde ich sagen: Jeder sollte nur vor der eigenen Haustür kehren. Einfach immer mal wieder für einen Moment innehalten und sich sagen: Mensch, ich mag doch den Fußball und will ja auch, dass es für uns alle die schönste Nebensache der Welt bleibt. Was kann ich in meinem Bereich dafür tun? Ich kann den anderen nicht ändern, sondern jeder kann das nur für sich selbst. Hier kommt auch wieder der Gerechtigkeitssinn ins Spiel, denn es ist auch eine Frage des Willens, einfach mal ein klares Foul-Spiel der eigenen Mannschaft, einen gemachten Fehler in der Firma zuzugeben.

Ist der Ehrliche im Fußball, im Job, im Leben nicht immer der Dumme?
Da ist leider etwas dran. Wenn einer im Fußball einen Strafstoß durch eine Schwalbe herausholt, dann gilt der nicht als Betrüger, sondern als clever. Wir müssen nicht nur im Fußball dahin zurückkommen, dass Ehrlichkeit ganz weit oben steht und nicht als Dummheit bezeichnet wird.

Auch Schiedsrichter machen Fehler

Wie ging der Schiedsrichter Lutz Wagner mit Fehlentscheidungen um? Gab es die überhaupt? Wie werden Sie die Last los?
An Fehlentscheidungen habe ich schon ziemlich rumgeknabbert. Gerade wenn ich einen zu Unrecht rausgestellt hatte oder durch meinen Fehler eine Mannschaft verloren hat. Ich wusste aber auch: Ich kann es nicht ändern, sondern beim nächsten Mal nur versuchen, es besser zu machen. Wesentlich finde ich: Wenn ich gefragt werde, rede ich nicht um den Fehler herum, sondern stehe dazu. Ehrlichkeit hat etwas Befreiendes. Zudem hört der andere auch auf, zu meckern, wenn er merkt: Mensch, der ist auch ein fehlerhafter Mensch.

Wenn Schiedsrichter Wagner nach einer Fehlentscheidung heimkam, …
… war er angefressen und ungenießbar.

Ein Pfiff, den Sie lieber gelassen hätten …
Da könnten wir jetzt noch bis heute Nachmittag sprechen. Um zehn Uhr muss ich allerdings nach Köln.

Ein Spiel, an dem Sie lange geknabbert haben …
Immer dann, wenn damit ein persönliches Schicksal verbunden war oder eine Mannschaft auf- oder abgestiegen ist.

Mehr Typen wie Miroslav Klose!

Eine Begegnung mit einem Fußballspieler, die Sie positiv verblüfft hat …
Wie locker und entspannt doch manche Spieler waren. Toni Polster (Anm. d. R.: österreicher Fußballspieler) konnte sich ungeheuer aufregen, aber eben auch unglaublich schnell runterfahren und sehr gelassen mit meiner Entscheidung umgehen. Ein unglaublich positiver Typ war auch Miroslav Klose. Bei dem wusste ich: Wenn der fällt, ist er gefoult worden. Und wenn ich mal zu Unrecht gepfiffen hätte, wäre er gekommen und hätte mir gesagt: Schiri, der Pfiff war falsch. Ich wünsche dem Fußball noch mehr solcher Typen!

Glauben Sie an den Fußballgott?
(lacht herzlich) Auf keinen Fall! Der wird ja oft beschworen, doch mir ist dies zu banal. Fußball ist und bleibt ein Spiel. Alle Beteiligten glauben hoffentlich an einen Gott, aber dass Gott die Zeit hat, sich um jedes Fußballspiel zu kümmern, wage ich anzuzweifeln. Ich glaube, dass es Gerechtigkeit gibt, einen Gott gibt, der für Gerechtigkeit sorgen wird, aber das er sich um jeden Abstoß und Einwurf kümmern wird, glaube ich nicht.

Herzlichen Dank für dieses erfrischende Doppelpass-Spielen am Telefon!

Rüdiger Jope ist MOVO-Chefredakteur. Samstags friert und fiebert er mit der E-Jugend des TuS Esborn.

Vom Beruf zur Berufung

In den Sand gesetzt