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Martin Kielbassa ist Kriminalkommissar in Essen. Bild: Rüdiger Jope

Kriminalkommissar: „Ich will Menschen davon abhalten, Straftaten zu begehen“

Martin Kielbassa jagt seit mehr als 40 Jahren Verbrecher. Doch er möchte auch verhindern, dass junge Leute überhaupt straffällig werden. Er berichtet, was ihn bewegt, was sich verändert hat und welcher Fall ihn nicht loslässt.

Es ist 7:28 Uhr in Essen-Steele. Ich drücke die Klingel an einem in die Jahre gekommenen Klinkerbau. „Polizeipräsidium Essen.“ Es surrt. Auf den gesprenkelten Terrazzoplatten tritt mir Essens 1. Kriminalhauptkommissar Martin Kielbassa (62) entgegen. Jeanshose und blauer Pulli statt Uniform und Waffe. Er wirkt locker. Seine Augen strahlen. Schon im ersten Moment spüre ich: Hier brennt einer für seinen Beruf und die Menschen.

Zwei Stockwerke höher. Wir sitzen vor zwei Bildschirmen. Martin überfliegt die Meldungen, die in der Nacht reingekommen sind. Ihm ist es wichtig, „vor die Welle zu kommen“. Er liest sich in zwei Wohnungseinbrüche, ein Drogendelikt, einen Raubüberfall und einen Erpressungsversuch ein. Das Telefon klingelt. „Ja, habe ich gelesen, spreche ich nachher in der großen Dienststellenrunde an. Nein, beim Spiel von Rot-Weiss Essen verlief diesmal alles normal. Glück auf!“ Dampf steigt auf aus zwei Kaffeetassen mit der Aufschrift „Grün ins Grau“.

Feuerwerkskörper, Rollerdiebstahl und Führungsbunker

7:57 Uhr. Stimmengewirr. Zehn Männer und drei Frauen haben sich zur donnerstäglichen Dienstbesprechung ins Zimmer ihres Chefs gequetscht. Auf dem Tisch ein grüner Adventskranz. „Hat jemand Streichhölzer für die Kerzen?“ „Wie war das mit ‚kein offenes Feuer in Diensträumen‘?!“ Gelächter. „Vanessa, ich wollte dir vorhin helfen, dein Auto von der Kreuzung zu schieben, doch gerade da rief der Staatsschutz an …“, sagt jemand. Ein anderer witzelt: „Deinen Smart schiebt man doch mit einer Hand.“ Lachen. Lebkuchen werden rumgereicht. Martin moderiert, hört aufmerksam zu, schreibt mit. „Bitte gebt noch eure Urlaubsanträge für 2024 ab. Und nochmals ein dickes Dankeschön an die zwei, die sich für den Bereitschaftsdienst an Silvester gemeldet haben. Zwei von uns sind übrigens in der nächsten Woche in die Mordkommission abgeordnet.“

Dann gibt er die Runde frei und berichtet, was sich in der letzten Woche in Essen und Mülheim an der Ruhr getan hat. „Bei Amazon wurden von einer Person explosive Stoffe in größerer Menge bestellt. Die Kollegen haben eins und eins zusammengezählt und bei einer Hausdurchsuchung eine größere Menge Feuerwerkskörper sichergestellt. Derzeit prüfen wir, ob ein Straftatbestand vorliegt …“ „Im Fall der Rollerdiebstähle haben wir vier Jugendliche festgenommen. Erste Ermittlungsergebnisse erwarte ich Mitte nächster Woche.“ „Vom Raubüberfall auf die zwei Supermärkte liegen jetzt gute Bilder im Fahndungsportal. Die Typen waren sehr auffällig, die werden mit Sicherheit bald gefasst.“ „Nach unserer Observation ist das SEK bei dem alten Mann rein. Der hat sich im Keller einen kleinen Führungsbunker eingerichtet. Es wurden Waffen sichergestellt. Bei ihm liegt wohl eher eine Erkrankung als eine Gefährdung vor. Er wurde in die Klinik eingewiesen.“ „Ein Arzt in der Uni-Klinik wurde mit einer Glasflasche angegriffen. Wir haben das Ganze als versuchten Tötungsdelikt eingestuft.“ „Eine aufmerksame Nachbarin hat uns auf den Drogenhandel in ihrer Nachbarschaft aufmerksam gemacht. Wir konnten den Tatverdächtigen festnehmen. In der Hand hatte er eine Plastiktüte mit allem, was das Herz begehrt …“

Vom Hauptschüler zum Hauptkommissar

8:55 Uhr. Wir sind unterwegs im Auto. Martin begleitet heute zwei Jugendkontaktbeamte in Essener Schulen. Ich lerne: „Prävention ist der beste Opferschutz.“ Erst mal stehen wir im Stau. Das Handy schweigt. Gelegenheit zum Nachfragen. „Wolltest du schon immer Polizist werden?“ Martin lacht und schüttelt den Kopf. „Mein Vater war Schlosser. Er meinte, dass die Hauptschule für mich langt, um schlau zu werden. Zu viel Intellekt verhindere zudem nur den christlichen Glauben.“ So tut Martin nicht mehr, als er muss, erlernt nach der 9. Klasse den Beruf des Kfz-Mechanikers. Bei der Bundeswehr verschlägt es ihn zu den Feldjägern. Diese arbeiten mit der Polizei zusammen. Dabei entdeckt er: Das ist „ein toller Job, der macht mir Spaß“. Er holt das Fachabitur nach, geht als Polizist auf Streife, schreibt sich zum Studium an der Polizeihochschule ein, wird Kriminalbeamter, leitet Brand-, Umweltdelikt-, Einbruchs-, Automatensprengungs- und Mordermittlungen und die Ermittlungsgruppe Jugend. Die Ampel springt auf grün. Es läuft, bei ihm und im Verkehr.

9:28 Uhr. Gesamtschule Essen Nord. Grau statt grün. Große Löcher klaffen in der Decke. Ein Riss zieht sich über die Wand. Eine alte Tafel, der Geruch eines feuchten Schwammes wabert durch den Raum. An der Pinnwand prangt ein vergilbter ZEIT-Artikel „Auf nach Mekka“. Die Jugendkontaktbeamtin Vanessa begrüßt die 8c. Die Jugendlichen wirken schüchtern. „Seid ihr immer so ruhig?“ Bei den Stichworten „Videos“ und „Mobbing“ brodelt es. „Darf ich den schlagen, der meine Mutter beleidigt hat? War doch nur ein Klatscher!“ Vanessa hört zu, fühlt sich ein, fragt nach, aber eiert auch nicht rum. Mit der Pistole im Halfter steht sie hier auch für einen sprachfähigen und wehrhaften Staat. Vier Halbwüchsige drängeln sich in den Vordergrund. „Jugendarrest ist doch wie Probewohnen im Knast“, entfährt es dem Einen belustigt. „Den Vater des Wortführers und seine Brüder kenne ich. Wenn die schon im Knast sitzen, ist es schwierig, aus der Vita der Familie auszusteigen“, merkt Martin nachdenklich auf dem Weg nach draußen an. Präventionsarbeit ist Sisyphusarbeit, aber „sie lohnt sich, denn jeden Euro, den wir hier investieren, müssen wir hinterher nicht in die Aufklärung und den Strafvollzug stecken“.

Tatorte und ein offener Fall

11:17 Uhr. Dank des grünen Pfeils dürfen wir rechts abbiegen. Die Straßen und Plätze auf dem Weg zur nächsten Schule erzählen Kriminalgeschichten. „Dort in der Einfahrt habe ich mal einen Autodieb festgenommen.“ „Hier an der Ecke haben wir einen Erpresser observiert.“ „Da drüben wurde ein Geldautomat gesprengt.“ „In das geöffnete Fenster im ersten Stock warf ein Schüler im Übermut eine Wunderkerze. Beim anschließenden Wohnungsbrand starb eine Frau.“ „Gibt es einen Fall, der dir noch nachhängt?“, frage ich. „Ja, für die Aufklärung dieser Geschichte würde ich sogar aus dem Ruhestand zurückkommen“, entfährt es dem 61-Jährigen spontan. Ein Mann meldet seine Frau als vermisst. Im Verhör verstrickt er sich. „Doch trotz intensiver Ermittlungsarbeiten hatte ich nur Indizien in der Hand. Die Leiche wurde bis heute nicht gefunden. Der Staatsanwalt signalisierte mir: ‚Martin, das langt nicht‘, obwohl ich zu 100 Prozent sicher bin, dass er der Täter ist.“ Ich spüre: Das nagt an ihm, auch Jahre nach Einstellung der Ermittlungen noch.

12:29 Uhr. „Glückauf“-Hauptschule in Essen. Auch dieser Schule mangelt es an Grün. 10. Klasse. Elf Jungs und drei Mädels sind anwesend, zwölf machen heute blau. Jürgen, der Jugendkontaktbeamte, referiert zum Thema „Online-Sicherheit“. Er füllt den Raum mit gelebter Präsenz, einem gesunden Selbstbewusstsein, enormem Hintergrundwissen und Schlagfertigkeit. Der ehemalige IT-Experte hat hier seine Berufung gefunden. Dem Polizisten gelingt es, den Schülerinnen und Schülern trotz deren permanenten Toilettengängen und Zwischenrufen Aufmerksamkeit abzuringen und sie für einen vorsichtigeren Umgang mit dem Internet zu sensibilisieren.

13:45 Uhr. Martins Magen knurrt. Doch zwischen Wettstuben und Shisha-Bars lässt sich kein Bäcker mehr finden. Knapp 40 Jahre ist er jetzt in Essen als Polizist unterwegs. „Was hat sich geändert in den Jahren?“, frage ich. „Der Respekt gegenüber der Polizei hat abgenommen. Wir haben es mehr mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu tun. Die Clan-Kriminalität ist hinzugekommen und früher gab es keine Prävention. Da wurde nur ermittelt und weggesperrt. Heute will ich Menschen davon abhalten, Straftaten zu begehen. Mein Ziel ist es, vor die Welle zu kommen. Dafür brenne ich“, sagt’s und winkt eine Frau mit Kinderwagen über den Fußgängerüberweg. Während er wieder Gas gibt, bohre ich nach. „Was wäre aus deiner Sicht wünschenswert?“ Martin überlegt nicht lange. „Ich wünsche mir wieder Eltern, die ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen und frühzeitig Grenzen setzen. Wenn Mama und Papa keine Vorbilder sind, was soll dann aus den Kids werden?“ Martins Worte fließen jetzt wie der Verkehr vor uns: „Wir haben als Polizei einen pädagogischen Auftrag. Mich und mein Team spornt es an, Jugendlichen Hilfe anzubieten, damit sie nicht (mehr) straffällig werden.“

Vor Gott sind alle Menschen gleich

14:05 Uhr. Wieder im Präsidium. Martin hat einen Apfelstrudel aufgetrieben. Er schenkt mir Kaffee ein. Ich spüre: Der 61-Jährige hat noch Freude an seinem Job. Neugierig hake ich nach: „Wie hast du dir diese Frische behalten? Wie bleibst du positiv in all dem Bösen?“ „Mein christlicher Glaube gibt mir jeden Tag Halt, Kraft und Zuversicht. Ich glaube an einen Gott, der mich geschaffen hat, der auch mich reparieren will und kann. Und dieser Gott differenziert nicht – du bist schuldig, egal, ob du jemanden getötet oder jemanden angelogen hast. Weil es ein Gott der zweiten Chance ist, will ich diese auch anderen geben.“ Martin geht mit seinem Christsein offen um. Da frotzelt schon auch mal jemand. „Du als Christ machst das so?“ Oder er wird mit dem Namen „Der barmherzige Martin“ betitelt. Das Telefon klingelt. „Martin, kannst du am Wochenende kurzfristig die Leitung der Gefangenensammelstelle beim Fußballspiel von Rot-Weiss Essen übernehmen?“

15:18 Uhr. Zeit für Verwaltungskram. Martin stöhnt. Führungskraft ist er jedoch gern. Sein Bestreben ist es, Mitarbeitende an der richtigen Stelle zur Entfaltung zu bringen. „Ich will den Menschen in meinem Team den Rücken freihalten. Sie sollen hier befreit aufspielen. Wenn sie glücklich sind, bringen sie auch Leistung“, spricht’s und zitiert im nächsten Atemzug seinen Lieblingsbibelvers. „Wer unter euch der Größte sein will, sei euer Diener“ (Matthäus 23,11). Er macht sich auf in die Küche, um den Stoß dreckiger Kaffeetassen abzuspülen.

18:35 Uhr. Martin sitzt hinter Gittern in der JVA Bochum. Um ihn in der Kapelle im Stuhlkreis herum 13 Inhaftierte. Er hört den Gefangenen zu, ermutigt sie, erzählt von seinem Glauben als Christ und feiert mit denen, die er und seine KollegInnen morgens hinter Schloss und Riegel brachten, einen Gottesdienst. Fröhlich greift er in die Saiten seiner Gitarre und schmettert mit ihnen adventlich im Chor „Macht hoch die Tür“.

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. Seit Januar 2024 geht er im Ehrenamt der Aufgabe eines Jugendschöffen am Amtsgericht Hagen nach.

Michael Blume (Foto: SCM Bundes-Verlag / MOVO / Rüdiger Jope)

„Jedes Leben zählt!“: Der Mann, der 1.000 Menschen rettete

Michael Blume hat 1.000 jesidischen Frauen und Kindern geholfen, aus dem Nordirak zu fliehen. Wie kam es dazu?

Herr Blume, am 23. Dezember 2014 bekamen Sie aus dem Auswärtigen Amt und dem Innenministerium in Berlin „gelbes Licht“ für welche Aktion?

Michael Blume: Das Land Baden-Württemberg dürfe 1.000 jesidische Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufnehmen, die sich auf der Flucht vor dem IS befanden. Allerdings war es nur „gelbes Licht“, weil die sagten: „Wir spielen doch nicht den Buhmann und verbieten eine humanitäre Aktion. Macht es, aber bitte auf eigene Verantwortung und auf eigenes Risiko!“

Welche Frage stellte Ihnen Ministerpräsident Winfried Kretschmann daraufhin?

Blume: Er fragte mich: „Würden Sie es denn machen, Herr Blume?“

Sie kamen sich vor wie im Film „Schindlers Liste“. Sie besprachen diesen wahnsinnigen Auftrag mit Ihrer Frau. Sie schaut Ihnen in die Augen und sagt?

Blume: Meine Frau ist Muslimin. Sie schämte sich sehr, was der IS im Namen ihres Glaubens da im Irak anrichtet. Sie brach in Tränen aus, sagte dann aber: „Wir glauben beide, dass Gott uns einmal fragen wird, was wir mit den Elenden vor unserer Tür gemacht haben. Michael, mach es! Jedes Leben zählt!“ Wir hatten drei kleine Kinder. Sie hat die 14 Dienstreisen über 13 Monate in den gefährlichen Irak mitgetragen.

Waren Sie schon immer so ein tapferer und cooler Mann?

Blume: (schmunzelt) Nein! (lacht) Ich war für Mädels nicht cool, nicht chic, nicht so richtig vorzeigbar. Meine Familie stammt aus der ehemaligen DDR. Mein Vater hat Stasihaft und Folter erlitten. Ich bin daher mit einer tiefen Dankbarkeit gegenüber unserem Rechtsstaat und den Menschenrechten aufgewachsen. Dazu kam, dass ich als Jugendlicher einen Sinn im christlichen Glauben gefunden habe. Die glückliche Beziehung mit meiner Frau hat mich zum Mann reifen lassen.

„Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können“

Was hat Ihnen geholfen, Ihr Potenzial zu entfalten?

Blume: (spontan) Unbedingt geliebt, ein Kind Gottes zu sein, aber eben auch das Wissen und die Erfahrung: Ich bin nicht unfehlbar, ich darf auch scheitern. Der Rückhalt meiner Frau, die mir in dieser schwierigen Entscheidung vermittelt hat: Es lohnt sich, sein Bestes zu geben. Sie hatte verstanden: Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können.

Sie retteten mit einem kleinen Team über 1.000 Jesidinnen das Leben. Sie setzen sich ein für Geschundene, Geflüchtete … Ist dies in Ihrer DNA angelegt, weil Ihr Vater in der DDR im Knast saß, Ihre Eltern aus der DDR flüchten mussten?

Blume: Unbedingt. Als Jugendlicher habe ich eine große Politikverdrossenheit um mich herum erlebt. Dies hat mich unglaublich geärgert. Wir Menschen, die wir im Wohlstand und in Freiheit aufwachsen, tendieren leicht dazu, dies zu verachten, nicht mehr wertzuschätzen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir in einer Demokratie leben, dass wir Menschenrechte haben, dass Mädchen die Schule besuchen dürfen und Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Dafür sollten wir kämpfen! Mein Vater hat Folter ertragen, weil er wollte, dass seine Kinder einmal in Freiheit aufwachsen. Wer bin ich, der ich dieses Geschenk der Freiheit wegwerfen würde oder anderen vorenthalte?

Nadia Murad, eine der Jesidinnen, die Sie gerettet haben, erhielt im Dezember 2018 den Friedensnobelpreis. Welches Gefühl löste dies in Ihnen aus?

Blume: Ich war mit Ministerpräsident Kretschmann bei der Verleihung in Oslo dabei. Das war sehr bewegend. Nadia selber war zuerst gar nicht so glücklich darüber, weil ihr damit klar war: Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückziehen, jetzt muss ich ein Leben lang eine öffentliche Rolle einnehmen. Sie, diese tapfere Frau, hat dieses Geschenk, aber eben auch diese Herausforderung dann angenommen und der freien Welt signalisiert: Frauenrechte sind nicht selbstverständlich und gerade wir Männer sollten dafür einstehen.

Beinahe-Antisemitismus-Skandal: „Das wird eine heftige Geschichte“

Sie brechen als junger Mann ein Volkswirtschaftsstudium ab, um Religionswissenschaften zu studieren. Mit einem Aufsatz über Ihre Biografie als „Wossi“ gewinnen Sie einen Preis. Die Stuttgarter Zeitung veröffentlicht einen Artikel über Sie. Diesen Beitrag liest …?

Blume: (lacht) … Staatsminister Christoph Palmer. Ich hatte damals einen Beitrag zum Thema „Heimat und Identität“ eingereicht. Damit gewann ich einen Preis als einziger Deutscher ohne Migrationshintergrund, wenn wir die DDR nicht mitzählen. Palmer hat mich dann von der Universität direkt ins Staatsministerium geholt.

Am 11. April 2007 sagte der damalige württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger in Freiburg auf der Beerdigung von Hans Filbinger, einem seiner Vorgänger, den Satz: „Filbinger war kein Nationalsozialist. Es gibt kein Urteil von ihm [Anm.d.Red.: Er war NS-Marinerichter], durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte.“ Warum wurde Ihnen da mulmig?

Blume: An der Rede war ich nicht beteiligt. Als ich sie hinterher hörte – heute würde sie ja sofort im Internet stehen –, war klar: Das wird eine heftige Geschichte. Diese Aussage könnte ihn sein Amt kosten. Man soll ja über Verstorbene nichts Böses sagen, aber hier war eine Grenze überschritten worden, eine Umdeutung passiert. Unbestrittene Tatsache ist: Filbinger hat noch in den letzten Kriegstagen Menschen zum Tode verurteilt.

Wie haben Sie die politische Kuh vom sprichwörtlichen Eis bekommen?

Blume: Ich habe Günther Oettinger geraten, den Vorwärtsgang einzulegen, nicht darauf zu warten, dass die medialen Rücktrittsforderungen abebben. Wir sind zur jüdischen Gemeinde Stuttgart gefahren, haben mit dem Zentralrat der Juden direkt gesprochen. Die jüdischen Gemeinden wussten, dass Oettinger ein feiner Kerl und kein Antisemit ist, aber die mediale Dynamik hätte alle zermalmen können. Der Ministerpräsident bedauerte den Fehler, die jüdische Gemeinde zog die Rücktrittsforderung zurück.

Und Sie bekamen ein Dankeschön der Kanzlerin?

Blume: (lacht) Sie haben sich aber gut informiert! Ja. Angela Merkel rief Günther Oettinger über mein Handy an. Ich konnte meinen Teil tun.

Sie sind Mitglied der CDU. Was bedeutet Ihnen das C? Und wie kam es dazu, dass Sie für eine Landesregierung arbeiten, in der die Grünen am Ruder sind?

Blume: Das Christliche ist mir zentral wichtig. Auch als Entlastung von Politik, weil sie nicht versuchen sollte, ein Paradies auf Erden zu schaffen. Ministerpräsident Kretschmann hat ein Faible für das C. Das verbindet uns. Als er gewählt und sein Vorgänger Stefan Mappus abgewählt war, fragte er mich, ob ich trotzdem bleiben würde. Ich sagte ihm zu, wenn er die zwei Mitarbeiterinnen mit übernehmen würde, die für mich bis dahin gearbeitet haben. Er hat seinen Teil eingehalten und ich den meinen. Wir arbeiten bis heute sehr vertrauensvoll zusammen. Ich stelle immer wieder fest: Viele Grüne schätzen es, wenn sie mit einem Christdemokraten zu tun haben, der sein Parteibuch nicht taktisch versteckt, wenn es der Karriere schädlich sein könnte, sondern zu seinen Werten steht.

„Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer“

Sie sind heute Antisemitismusbeauftragter. Wie würden Sie einem Kind diesen Beruf erklären?

Blume: Das Judentum war die erste Religion, die mit dem Alphabet geschrieben hat. Deshalb denken viele Menschen, dass die Juden besonders schlau seien und die Welt kontrollieren. Ich würde dem Kind dann sagen: Niemand kontrolliert die Welt außer Gott. Ich gewinne Menschen dafür, sich zu bilden und zu lernen und keinen Hass auf eine Gruppe oder Religion zu haben.

Was ist Antisemitismus?

Blume: Antisemitismus ist eine Form von Menschenfeindlichkeit, die immer mit Verschwörungsmythen verbunden ist. Im Antisemitismus wird behauptet, Juden seien besonders schlau, reich und mächtig. Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer. Sie sind deshalb auch zur Radikalisierung und Gewalt bereit.

Warum trifft es durch die Jahrhunderte und viele Kulturen hindurch immer wieder die Juden?

Blume: Weil sie die erste Religion der Schrift waren. Im ersten Buch Mose heißt es: Der Mensch sei im Bilde Gottes geschaffen. Daraus entsteht der Begriff der Bildung, der unsere europäische Kultur entscheidend geprägt hat. Die Idee, dass wir einmal in einer Welt leben, in der jedes Mädchen, jeder Junge lesen und schreiben kann, entstammt dem Judentum. Deshalb konnte der zwölfjährige Handwerkersohn Jesus drei Tage im Tempel mit den Schriftgelehrten diskutieren.

„Bekämpft Antisemitismus für eure eigene Zukunft!“

Ist Antisemitismus mehr als Hass auf Juden?

Blume: Rabbiner Lord Jonathan Sacks formulierte es so: „Dieser Hass beginnt immer bei den Juden, endet aber nie bei ihnen.“ Er setzte sich im Dritten Reich bei den Sinti und Roma oder den Homosexuellen fort. Im Islamischen Staat setzte sich dieser Hass gegen Jesiden, Wissenschaftler und Journalisten fort. Ich sage daher: Bitte bekämpft den Antisemitismus nicht nur den jüdischen Menschen zuliebe, sondern für eure eigene Zukunft! Wer glaubt, dass die Gesellschaft von der Verschwörung gesteuert wird, ist zur Demokratie nicht mehr in der Lage.

Es heißt, der Antisemitismus in Deutschland nehme wieder zu. Ist dies auch Ihre Feststellung?

Blume: Jein. Nach allen Daten, die uns vorliegen, nimmt die Zahl der Antisemiten weiter ab. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Die Menschen, die antisemitisch agieren, haben aber das Internet, und damit nimmt ihre Radikalisierung und Gewaltbereitschaft zu.

Was können wir gegen Antisemitismus tun?

Blume: Wir sind gefragt, zuzugeben, dass wir nicht alles wissen. Verschwörungsmythen geben eine scheinbar einfache Erklärung. Wenn ich sage, diese Verschwörer sind schuld, habe ich eine vermeintliche Erklärung für COVID-19, die Klimakrise, den Krieg in der Ukraine. Stattdessen zu sagen: Ich weiß, dass wir Männer die Wahrheit nicht mehr besitzen, sondern Unsicherheiten aushalten müssen – diese Stärke wünsche ich mir von uns Männern. Lebenslange Bildung macht uns stark gegen Antisemitismus.

Wann haben Sie als Beauftragter einen guten Job gemacht?

Blume: Wenn ich eingeladen werde, Menschen an diesem Thema Interesse zeigen, ich dafür sorgen kann, dass Menschen gar nicht erst zu Antisemiten werden. Jede Seele zählt.

„Die vernünftige Mitte bricht zusammen“

Sie differenzieren zwischen Verschwörungsmythen und Verschwörungstheorien. Warum?

Blume: Theorie ist ein Begriff aus der Wissenschaft. Verschwörungsmythen wollen nur Schuldige benennen. Das waren im Mittelalter die Hexen, heute werden die Zugewanderten als Invasoren betrachtet oder man wirft Frauen vor, dass sie für niedrige Geburtenraten sorgen. Wir müssen ertragen, dass sich die Welt nicht in gute und böse Gruppen spalten lässt, dass wir herausgefordert sind, das Böse in uns zu bekämpfen.

Warum haben Verschwörungsmythen und Fake News derzeit so Hochkonjunktur?

Blume: Immer dann, wenn neue Medien auftreten, haben wir eine Explosion von Verschwörungsmythen. Der Hexenwahn war nicht im vermeintlich finsteren Mittelalter, sondern fand vom 15. bis zum 18. Jahrhundert statt. Heute werden in 44 Ländern der Erde Frauen als Hexen verfolgt. Immer dann, wenn neue Medien wie Buchdruck oder elektronische Medien an Bedeutung gewinnen, ergeben sich unendliche neue Chancen für Bildung, aber es tauchen eben auch wieder alte Vorwürfe auf. Das erleben wir gerade mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit.

Sehen Sie einen Zusammenhang von zurückgehenden Kirchenmitgliedszahlen, einem schwindenden Glauben in der Gesellschaft und einer Zunahme von Mythen?

Blume: Ja. Unbedingt. Wir erleben leider in allen Religionen das Phänomen, dass die vernünftige Mitte zusammenbricht. Es wird die Religionslosigkeit propagiert. Es gibt immer mehr säkulare Menschen. Diese stehen den religiösen Dualisten gegenüber, die sich gegen den sogenannten Mainstream mit Verschwörungsmythen abgrenzen. Die vernünftige Mitte zerbröselt. Das ist der Teil, der mir am meisten Sorgen macht.

Blume geht gerichtlich gegen Hassnachrichten vor

Sind Männer anfälliger für Verschwörungsmythen als Frauen?

Blume: Ja! Bei Männern sehen wir öfter ein kämpferisches Weltbild. Da herrscht die Stimmung vor: Ich zerschlage jetzt die Verschwörer, wenn es sein muss auch mit Gewalt. Dies kickt vor allem jüngere Männer. Darin lassen sie sich dann gerne von älteren Männern bestätigen. Von daher sage ich, auch als ehemaliger Soldat: Liebe Mitmänner, die eigentlichen Helden stellen sich erst einmal ehrlich den Abgründen der eigenen Seele.

KI in Form von ChatGPT & Co. bringt nochmals eine ganz neue Herausforderung in puncto Fake News mit. Was wird in Zukunft wichtig(er) werden? Wie können wir Mythen oder Fake News entzaubern?

Blume: ChatGPT ist ein Werkzeug, welches unsere gesamte Welt verändern wird. Wir werden zukünftig mehrere KIs nutzen. Ob wir es wollen oder nicht, KI wird ein Teil unserer Mitwelt. Sie wird uns selbst verändern, wie uns auch das Smartphone verändert hat. Mein Ratschlag lautet: Mitmachen, aber auch nachdenken, was wir da eigentlich tun!

Hassnachrichten gehören zu Ihrem Tagesgeschäft. Wie gehen Sie damit um?

Blume: Am Anfang habe ich sie einfach ignoriert. Doch dann richteten sie sich gegen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und vor allem gegen meine Familie. Seitdem wehre ich mich auch gerichtlich.

Sie klagen gegen Twitter. Warum?

Blume: Viele Bürger haben gar nicht die Möglichkeit, gegen diesen Giganten vorzugehen. Das ist unglaublich teuer. Stellvertretend für die Menschen streite ich daher gemeinsam mit HateAid. Ich will nicht den Hass im Internet bejammern, sondern mich auch hinstellen und den Hetzern und Trollen die Stirn bieten! Es hat mich Überwindung gekostet, im Regierungskabinett solch eine an mich adressierte Hassnachricht vorzulesen.

Was ist der aktuelle Stand der Klage?

Blume: Twitter vertritt die Auffassung, dass die gesendete Hassnachricht gelöscht werden kann, doch die Kläger sollen jede einzelne Hassnachricht neu melden. Wir halten dagegen und haben vom Landgericht Frankfurt/Main Recht gesprochen bekommen, dass Twitter kerngleiche Inhalte selbst löschen muss. Wenn also gegen eine Person eine Kampagne läuft, ist Twitter gefordert, löschend einzuschreiten. Twitter kann sich nicht zurücklehnen nach dem Motto: Meldet es und wir schauen dann mal. Twitter wehrt sich sehr dagegen …

„Jede Religion kann man liebevoll oder auch feindselig leben“

Was ängstigt Sie? Was macht Ihnen Hoffnung?

Blume: Mich treibt die Sorge um, dass die Klimakrise zur Wasserkrise wird. Ich habe im Irak gesehen, wie ein Staat zerfällt, wenn es nicht mehr genügend Wasser für alle gibt. Wasser ist ein mächtigeres Element als Öl. Es ist übrigens auch das erste Element, welches in der Bibel genannt wird, noch vor dem Licht! Es werden immer weniger Teile der Erde bewohnbar sein. Ich bin überzeugt: Wir werden die Krise meistern, aber die vor uns liegenden Jahre werden hart. Es geht ums Überleben in unserer Mitwelt. Dafür braucht es Frauen und Männer, die über sich hinauswachsen.

Sie sind atheistisch aufgewachsen, haben dann zum christlichen Glauben gefunden. Was hat Sie überzeugt?

Blume: Ich war politisch sehr aktiv. Im Angesicht der Hungerkatastrophe in Somalia stellte ich als junger Mensch fest: Es gelingt uns trotz allem Engagement nicht, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Das brachte mich in eine Sinnkrise. Und in dieser frustrierenden Situation hat Gott mich aufgefangen und angesprochen in dem Sinne: Michael, wenn du tust, was du kannst, ist das genug. Du bist unendlich geliebt! Das hat mich unglaublich entlastet und bewahrt mich davor, mich selbst zu überfordern.

Sie und Ihre Frau entstammen einer Arbeiterfamilie. Sie sind ein glückliches Paar. Was sagen Sie Menschen, die Christen vor allem als Kreuzritter und Kolonisatoren und Muslime als Machos und Terroristen sehen?

Blume: Jede Religion kann man liebevoll oder auch dualistisch, feindselig, extremistisch leben. Das gilt fürs Christentum, den Islam und jede andere Glaubensrichtung. Zehra und ich haben jetzt unsere silberne Hochzeit gefeiert. Wir sind sehr glücklich miteinander. Wir haben drei gemeinsame Kinder, die sich in der evangelischen Kirche engagieren. Meiner Auffassung nach sollte sich Religion niemals gegen die Liebe stellen, sondern sie immer unterstützen.

Infolge der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie, des Krieges in der Ukraine erleben wir eine starke Polarisierung der Gesellschaft. Wie geht es weiter? Was ist Ihre Prognose?

Blume: Wir alle stehen vor der Charakterfrage. Gerade auch wir Männer. Große Teile der Welt werden unbewohnbar werden. Es wird sogenannte Archeregionen geben, in denen Menschen überleben können. Wir alle stehen da vor der Herausforderung, die Menschen zu beschützen, die uns anvertraut sind, aber eben auch ein großes Herz gegenüber denen an den Tag zu legen, die bei uns Schutz suchen. Dies wird die Herausforderung des 21. Jahrhunderts werden. Sind wir Männer fähig, echte Partner zu sein, zu lieben statt zu hassen? Das wird die Aufgabe von uns Männern sein!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Heißer Lesetipp für den Sommer:

„Eine Blume für Zehra – Liebe bis zu den Pforten der Hölle“ (bene!) Andreas Malessa erzählt eindrücklich die Liebes- und Familiengeschichte von Blumes. Ein packendes Stück deutscher Geschichte im Kleinformat.

Nelson Müller (Foto: Nina Stiller Photography)

Starkoch Nelson Müller ließ sich mit 34 Jahren adoptieren

Der Schwabe Nelson Müller ist bekannt als Gastronom, Sterne- und TV-Koch. Ein Gespräch über seine Leidenschaft für gutes Essen, seine Frikadelle für die Queen und seine Familiengeschichte.

Her Müller, was mögen Sie lieber: Maultaschen und Kartoffelsalat oder Linsen mit Spätzle und Saitenwürstchen?

Nelson Müller: (lacht) Schwierige Frage. Beides ist so lecker. Ich möchte auf beides nicht verzichten.

Welches Essen haben Sie als Kind gar nicht gemocht?

Müller: Erbsen und Möhren. Damals gab es dieses Gemüse allerdings auch nur aus der Dose und hatte nichts mit dem frisch gekochten Gemüse zu tun. Auch um Zucchini habe ich zum Leidwesen meiner Mutter einen großen Bogen gemacht.

Wurde Ihnen die Leidenschaft für gute Gerichte schon in die Wiege gelegt?

Müller: Kulinarik war Teil meiner Lebenskultur. Wir haben als Familie immer zusammen gegessen. Am Mittagstisch, beim Abendessen war gutes Essen immer ein Thema.

Das kocht Nelson Müller am liebsten

Wann war Ihnen klar: Ich werde Koch?

Müller: Mit sechs, sieben Jahren war der Wunsch eigentlich schon da.

Welche Gerichte kochen Sie am liebsten und warum?

Müller: Die klassische Küche steht bei mir ganz oben an. Hausmannskost ein bisschen upgegradet, ein bisschen schicker, finde ich spannend und lecker.

Was kocht sich Nelson Müller privat? Oder bleibt die Küche abseits des Berufes kalt?

Müller: (lacht) In der Tat bleibt der Herd zu Hause meist aus, da ich in der Küche mit meinem Team, meinen Gastgeberinnen und Gastgebern esse. Das macht Spaß. Wir kochen immer frisch.

„Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen“

Wann sind Sie als Koch glücklich?

Müller: Wenn es ein guter Abend war mit guten Gästen, wir gut als Mannschaft performt haben. Es beflügelt mich, wenn Energie in der Luft liegt, der Laden brummt, richtig was aus der Küche rausgeht, flotte Sprüche zwischen den Teams hin- und herfliegen.

Geht die Gleichung „lecker gleich aufwendig und kompliziert“ Ihrer Überzeugung nach auf? Verraten Sie uns mal Ihre Kochphilosophie.

Müller: Die Mischung macht’s. Es darf auch mal etwas Aufwendiges sein, dann aber auch wieder etwas überraschend Einfaches. Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen. Es gibt einfach Gerichte, die sind so, wie sie sind, lecker, da muss man sich eher in der Kunst des Weglassens üben.

Warum muss es Ihrer Überzeugung nach auch bei Männern nicht immer nur Fleisch, Fleisch, Fleisch geben?

Müller: Wir tun gut daran, wenn wir etwas für unsere Gesundheit tun. Wir essen zu viel Fleisch. Mit reduziertem Fleischkonsum können wir etwas zum Klima- und Umweltschutz beitragen. Mein Credo lautet: lieber weniger, dafür Qualität. Auch hier heißt es für mich: Abwechslung in die Mahlzeiten bringen. Ich bin so aufgewachsen, da gab es nicht jeden Tag Fleisch. Da kamen auch Pfannkuchen, Nudelgerichte, Suppen, Grünkohlbratlinge auf den Teller.

Die Queen zu Gast

Sie haben für Ihr Kochen einen Michelin-Stern erhalten. Wie fühlte es sich an, als Sie davon erfuhren?

Müller: Das war ein überwältigendes Gefühl! Ich habe lange Zeit in der Sternegastronomie gearbeitet und deshalb war es natürlich auch immer mein Ziel, das auch selbst zu erreichen. Ich hatte es gar nicht für möglich gehalten.

Ist es schwieriger, Sternekoch zu werden oder es zu bleiben?

Müller: Ich glaube, es ist schwieriger, es zu werden. Man muss ja erst mal die Tester überzeugen.

Sie haben auch schon für die jetzt verstorbene Queen gekocht. Wie war das?

Müller: Die Queen hatte sich für einen Besuch in Düsseldorf angekündigt. Klar, das riesige Buffet für solch einen hochkarätigen Gast musste mehr als perfekt sein. Wir haben uns eine Woche lang vorbereitet. Ich war unter anderem für die Frikadellen zuständig. Eine dieser Köttbullar hat die Königin gegessen. Ob es ihr geschmeckt hat, weiß ich nicht. Der Rummel um dieses Essen war jedenfalls gigantisch und aufregend.

Vater Müller als Vorbild

Als Sie auf Sylt die Ausbildung in einem Restaurant begannen, hat man Sie am ersten Tag an die Spüle geschickt, weil man Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe für einen Küchenhelfer hielt. Wie gehen Sie mit dieser Art Rassismus um?

Müller: Inzwischen rede ich nicht mehr über das Thema. Das schwebt bei mir nicht oben drüber. Wir sind eine bunte Gesellschaft. Das ist normal. Punkt. Ich spreche lieber über die Küche, gute Kochbücher, mein Unternehmersein.

Mit vier Jahren kamen Sie in eine deutsche Pflegefamilie. Wie haben Sie Ihren Pflegevater erlebt? Stand dieser auch am Herd?

Müller: Natürlich. Er stand am Herd und am Grill. Meine Eltern waren sehr aufgeklärt und modern. Dies wurde uns auch vorgelebt. Da lernte ich schon, dass Männer im Haushalt helfen, Staub saugen, Küche putzen, Müll rausbringen.

Was sind Eigenschaften, die Sie in erster Linie mit Ihrem Vater verbinden, Werte, die er Ihnen vermittelt hat?

Müller: Mein Vater ist ein sehr zurückhaltender Mensch. Er atmet das Credo: Wer etwas zu sagen hat, muss nicht laut sein. Er konnte sich auch in die zweite Reihe stellen und da etwas bewirken. Er ist Jahrgang 1935 und hat dadurch eine ganz andere Beziehung zu Lebensmitteln und dem Alltagsleben. Jedes Brot wurde gesegnet, vor jedem Essen wurde gebetet. Sauberkeit war für ihn ein wichtiges Thema. Er war als Junge in einem katholischen Knaben-Gymnasium und hatte deshalb schon eine genaue Vorstellung, wie ich mich benehmen sollte. Vater hat als Ingenieur viel Wert auf meine Bildung, mein Allgemeinwissen, meine Sprache gelegt. Das waren wichtige Gesprächsthemen am Essenstisch.

Konflikthemen zwischen Vater und Sohn

Gab es spezielle Sachen, die Sie nur mit Ihrem Vater gemacht haben?

Müller: Wir hatten einen Gemüsegarten. In dem haben wir viel zusammen gearbeitet. Das war für ihn ein Ausgleich zum Alltag. Sonntags sind wir gemeinsam in die Kirche gegangen. Und wir haben viel miteinander musiziert.

Vermutlich gab es in Ihrer Vater-Kind-Beziehung auch Konflikte. Woran haben Sie sich gerieben?

Müller: Ich bin mit der Hip-Hop-Kultur groß geworden. Das war meinem Vater manchmal zu modern. Ich bin zudem von meinem Naturell her Künstler und Musiker. Mein Vater hingegen der klassische Mathematiker. Das sorgte schon für Reibungsenergie, aber heute rettet mich sein Training. Gerade als Unternehmer benötige ich Struktur und kaufmännisches Wissen. Das zahlt dann auf das ein, was er gut findet. (lacht)

Und heute?

Müller: Ist er mir auch als 87-Jähriger ein wertvolles Gegenüber auf Augenhöhe. Er steht hinter mir, stärkt mir den Rücken. Ist stolz auf mich und sagt mir: Nelson, gut gemacht!

„Schwabe mit ghanaischen Wurzeln“

Mit 34 Jahren haben Sie sich von Ihren Eltern adoptieren lassen. Wieso war Ihnen das zu dem Zeitpunkt wichtig?

Müller: Ich habe mich immer von Herzen als ein Müller gefühlt. Wir haben es 30 Jahre gelebt, aber nicht auf dem Papier vollzogen. Mir war es wichtig, das jetzt auch in Form zu gießen und zu signalisieren: Ich gehöre ganz zur Familie.

Müller ist ja sozusagen der deutscheste aller deutschen Namen. Gibt es Eigenschaften, die Sie an sich erkennen, die Sie als typisch deutsch oder gar schwäbisch einschätzen – und umgekehrt Eigenschaften, die so gar nicht dem Klischee des Deutschen oder Schwaben entsprechen?

Müller: Ich bin Schwabe mit ghanaischen Wurzeln. Viele, die mich kennen, sagen: Du bist sehr deutsch. Aber auch die afrikanischen Wurzeln kommen mir zugute: Lockerheit. Sich mit anderen freuen, ihnen etwas gönnen. Dankbarkeit. Ich muss nicht alles so ganz genau nehmen.

Könnte aber beim Kochen schiefgehen …

Müller: (Lachen, gespielt energisch) Da halte ich mich natürlich ganz genau ans vorgegebene Rezept. Im Ernst: Beim Kochen kann ich es auch genau nehmen. Ich kann aber auch mal fünf gerade sein lassen.

„Ich bin Christ“

In der RTL-Aufführung „DIE PASSION“ haben Sie Fladenbrot und Currywurst fürs letzte Abendmahl verkauft. Spielt der christliche Glaube auch in Ihrem wirklichen Leben eine Rolle?

Müller: Ich bin Christ. Ich beschäftige mich damit. Es geht darum, dass wir gute Spuren hinterlassen. Ehrfürchtig sind, verantwortungsvoll vor Gott leben im Sinne von: Was wir von anderen erwarten, ihnen auch zu tun. (Anm. d. Red.: die Goldene Regel aus Matthäus 7,12)

Home-Office. 13:02 Uhr. In einer halben Stunde stehen die hungrigen Kinder vor der Tür. Was würde Nelson Müller auf den Tisch zaubern? Wobei könnte mir Ihr neues Kochbuch helfen?

Müller: (lacht) Verblüffen Sie Ihre Kinder mit Deutschem Döner. Döner einmal anders. Das schmeckt mega!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Nelson Müller hat sich schon einmal von der Nordsee bis zu den Alpen durch deutsche Restaurants gekocht. Seine aktuelle Heimat hat der Sternekoch in Essen gefunden. Dort führt er zwei Restaurants, macht nebenbei Musik und tritt in TV-Sendungen auf. Aufgewachsen ist der fröhliche Koch mit ghanaischen Wurzeln in Stuttgart und somit tief verwurzelt in schwäbischer Hausmannskost. nelson-mueller.de Sein aktuelles Kochbuch ist erschienen mit dem Titel „Gutes Essen – Nachhaltig, saisonal, bewusst“ (DK Verlag).

DEUTSCHER DÖNER

Döner Kebab, das »sich drehende Grillfleisch«, ist seit den 70er-Jahren auch in Deutschland ein beliebter Imbiss. Der Drehspieß mit gewürzten Fleischscheiben – ursprünglich Lamm, aber inzwischen oft auch Rind, Schwein oder Geflügelfleisch – ist ein fester Bestandteil der Fastfood-Szene geworden. Die Leberkäse-Variante ist ein Running Gag bei mir im Lokal – wenn’s schnell gehen soll, bestelle ich mir einen »Deutschen Döner« auf die Faust.

ZUBEREITUNG:

1. Für den Weißkohlsalat den Weißkohl in dünne Streifen schneiden und mit Salz, Pfeffer und Zucker würzen.
2. Essig und Öl zugeben und gut durchkneten. Eine halbe Stunde ziehen lassen.
3. Für die Mayonnaise den Sojadrink mit dem Senf und den Gewürzen in ein hohes Gefäß geben.
4. Mit dem Stabmixer gut durchmischen, nach und nach das Rapsöl untermixen.
5. Mit dem Bieressig abschmecken.
6. Für den Döner die Gurke fein hobeln, den Eisbergsalat in grobe Streifen schneiden, die rote Zwiebel schälen und in feine Streifen schneiden, die Tomate in Scheiben schneiden.
7. Den Leberkäse in Öl anbraten.
8. Die Laugenbrötchen halbieren, die untere Hälfte mit dem Eisbergsalat belegen und mit der Senf-Bier-Mayonnaise beträufeln.
9. Den Leberkäse auflegen, mit Weißkohlsalat, Tomate, Gurke und Zwiebelscheiben belegen und den Deckel auflegen.

WEISSKOHLSALAT

  • 120 g Weißkohl
  • 10 ml Bieressig
  • 30 ml Rapsöl
  • Salz, Pfeffer, Zucker

SENF-BIER-MAYONNAISE

  • 100 ml ungesüßter Sojadrink, zimmerwarm
  • 2 EL süßer Senf
  • 1 TL Senfpulver
  • Salz, Pfeffer
  • 1 Msp. gemahlener Kümmel
  • 1 Msp. Chilipulver
  • 3 Msp. Chiliflocken
  • 160 ml Rapsöl
  • 3 EL Bieressig

DÖNER

  • Salatgurke
  • 4 Blätter Eisbergsalat
  • 1 rote Zwiebel
  • 1 Tomate
  • 4 große Scheiben Leberkäse
  • 10 ml Rapsöl
  • 4 Laugenbrötchen
Symbolbild: shapecharge / E+ / Getty Images

Welcher Job passt zu mir?

Der Beruf ist nicht alles, aber er macht einen großen Teil des Lebens aus. Vier Fragen helfen bei der Suche nach dem Traumjob.

Von Michael Stief

„Seien Sie nett zu Ihren Nachbarn, vermeiden Sie fettes Essen, lesen Sie ein paar gute Bücher, machen Sie Spaziergänge und versuchen Sie, in Frieden und Harmonie mit Menschen jeden Glaubens und jeder Nation zu leben.“ So umreißt die englische Comedy Gruppe Monty Python den Sinn des Lebens in ihrem gleichnamigen Episodenfilm.

Diese launige Antwort ist für sich genommen schon ein attraktives Lebensprogramm; ob wir persönlich bewusst nach einem Sinn des Lebens streben oder nicht. Abgesehen davon, dass ich der festen Überzeugung bin, dass sich jedes Gericht mit Sahne verbessern lässt und man es deswegen mit dem fetten Essen nicht so eng sehen sollte.

5.000 Jahre auf der Suche nach dem Sinn

Die britischen Comedians greifen mit dieser Bestimmung des Sinns des Lebens ein Problem auf, das die Menschheit seit gut und gerne vier oder fünf Jahrtausenden umtreibt. Anders als die Tiere haben wir kaum Instinkte, die unser ganzes Leben von der Wiege bis zur Bahre bestimmen würden. Stattdessen sind wir – bei allen Beschränkungen – mit Freiheit begabt und geschlagen.

Wir müssen unseren Weg im Leben wählen: Ob wir nun aktiv eine Richtung einschlagen und uns Ziele setzen, oder uns treiben lassen. Je mutiger wir uns der Frage nach dem „Ziel des Lebens“ stellen, umso besser sind wir für kleinere oder größere Sinnkrise gewappnet.

Mehr Antworten als uns lieb sein kann

Schon die großen Philosophen von Sokrates über Aristoteles bis Kant haben sich an dieser Frage die Hirnwindungen wundgerieben. Auch die großen Religionsstifter Moses, Jesus oder Mohammed im Nahen Osten oder Buddha in Asien haben sich dieser Frage zumindest mittelbar gestellt.

Buddha etwa verortete das Ziel des menschlichen Lebens grob darin, Leiden und Leidenschaften zu überwinden und dadurch die Erleuchtung zu erlangen. Belesene Buddhisten mögen mir diese kühne Verkürzung verzeihen. Das Liebesgebot, das gleichlautend in der jüdischen Bibel wie dem christlichen Lukas-Evangelium auftaucht, lässt sich ebenfalls als eine solche Sinnbestimmung lesen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Lukas 10,26-27)

Warum?

Weniger religiös veranlagte Menschen finden in Geschichte und Gegenwart vielfältige Antworten in Philosophie und Wissenschaft: Beispielsweise als die Suche nach dem Wahren, dem Schönen und dem Guten bei Sokrates und Platon oder nach dem wahren Glück bei Aristoteles. Der wortgewaltige Friedrich Nietzsche schließlich behauptet knapp: „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie?“ („Götzen-Dämmerung: Sprüche und Pfeile“, § 12., 1888).

Dieses „Warum“ wählte der Psychiater Viktor Frankl zu seinem Lebensmotto und Kern der Sinn- oder Logotherapie. Der TED-Speaker Simon Sinek machte es zum zentralen Begriff seines Ratgebers „Start with Why“. Auch die Positive Psychologie sieht im Sinnerleben eine Säule für ein glückliches und gelingendes Leben – neben positiven Gefühlen, Flow, guten Beziehungen und Erfolgserlebnissen.

Wie finden wir dieses „Warum“?

Wenn wir die hohe Luft der Philosophen hinter uns lassen und uns in die „Niederungen“ des Arbeitsalltages begeben, dann begegnet uns in den sozialen und klassischen Medien immer öfter der Begriff „Purpose“. Eigentlich nur der englische Begriff für „Zweck“ oder „Ziel“ steht er für die Sinnhaftigkeit der Arbeit bzw. für sinnstiftende Arbeit.

In Unternehmen, die stark auf Gewinnmaximierung fokussiert sind, wird der eigentliche Unternehmenszweck oft durch die Jagd nach den Quartalszahlen verdeckt. Dementsprechend wird es zur Aufgabe für die Einzelnen und noch mehr für die Führungskräfte, diesen Unternehmenszweck und damit die Sinnhaftigkeit der Arbeit wieder sichtbar und erlebbar zu machen.

Es gibt auch Geschäftsmodelle, die für viele Menschen mehr oder weniger sinnfrei erscheinen. Entsprechend wächst bei manchen das Bedürfnis nach einer sinnvollen Betätigung, die Gutes für die Menschen und die Menschheit tut. Leider nicht so stark, dass sich die Menschen in Massen für eine Karriere als Kinder-, Kranken- oder Altenpflegekräfte entscheiden würden.

Die japanische Antwort

Jeder muss für sich entscheiden, was eine sinnstiftende Arbeit ist. Die Japaner haben als Hilfe Ikigai entwickelt. Ikigai bezeichnet grob auf Japanisch eben genau den „Sinn des Lebens“, wobei der zweite Wortteil „gai“ sehr pragmatisch auf Begriffe wie Effekt, Resultat, Frucht, Wert, Nutzen verweist.

Der Begriff existierte schon lange in der japanischen Kultur in unterschiedlichen Nuancen. Erst in den sechziger Jahren wurde er von der japanischen Psychologin Mieko Kamiya neu popularisiert. Schließlich fand er seinen Weg in den Westen, unter anderem durch die Erwähnung in einem TED-Talk von Dan Buettner über Langlebigkeit. Aber vor allem durch ein virales Kreisdiagramm, das der Blogger Marc Winn 2014 entwarf. Darin setzte er die Begriffe „Purpose“ und „Ikigai“ gleich.

Das Schöne an diesem Ansatz ist es, dass er bei uns selbst und den Menschen in unserem Umfeld ansetzt: Wir sind in dieses Leben gestellt und entdecken unser Umfeld, eigene Begabungen und Neigungen. Währenddessen stellt uns das Leben vor Herausforderungen, an denen wir wachsen oder zerbrechen können.

In vier Fragen zum Traumjob

Dementsprechend geht es bei der Suche nach dem eigenen Ikigai um vier Fragen im Zusammenhang mit dem, was wir im Leben tun:

  • Du liebst es? – Macht dir diese Tätigkeit Freude?
  • Du bist großartig darin? – Bist du wirklich begabt auf diesem Gebiet?
  • Du wirst dafür bezahlt? – Gibt es für diese Tätigkeit einen Markt?
  • Die Welt braucht es? – Braucht die Welt jemanden, der genau das tut?

Können wir alle vier Fragen bei einer konkreten Tätigkeit oder Aufgabe mit „Ja“ beantworten, hätten wir die zu uns passende sinnstiftende Arbeit gefunden. Klingt vielleicht trivial, ist es aber nicht. Unsere Fähigkeiten und die Angebote unserer Umwelt sind vielfältig. Nicht überall, wo wir hineinpassen würden, gehören wir auch hin.

Jeder Bereich zählt

Mehr noch: Auch wenn eine Tätigkeit oder eine Aufgabe kein solcher Volltreffer ist, kann sie zum Gefühl von Ikigai beitragen:

  • Wenn wir mit Geschick und Hingabe einer Sache nachgehen, leben wir eine Passion.
  • Wenn wir kompetent einer bezahlten Arbeit nachgehen, haben wir den passenden Beruf (Profession).
  • Wenn wir gegen Geld etwas tun, das die Welt braucht, gehen wir einer Berufung nach.
  • Wenn wir mit Hingabe etwas tun, das die Welt braucht, erfüllen wir eine Mission.

Eventuelle Unzufriedenheiten können wir leichter zuordnen, wenn wir erkennen, dass einer der vier Faktoren fehlt. Das ermöglicht, sich neu auszurichten und die fehlende Komponente auch noch zu integrieren. Der australische Coach Nicholas Kemp kritisiert die dargestellte Verkürzung von Ikigai auf den Arbeitskontext. Praktisch ist sie trotzdem. Zumindest, um die Sinnerfüllung in der Arbeit zu steigern.

Jenseits der Arbeitswelt

Bei allem Nutzen von Ikigai für den Beruf sollte nicht übersehen werden, dass jeder einzelne Bereich – Liebe, Geschick, Bedarf und Entlohnung – auf das Gefühl einzahlen kann, dass das Leben sich lohnt. Darin gleicht das Ikigai-Konzept dem PERMA-Modell der Positiven Psychologie. Demzufolge nimmt das Glück und das subjektive Wohlbefinden zu, wenn positive Gefühle, Flow, guten Beziehungen, Erfolgserlebnisse und eben auch Sinnerfahrungen häufig erlebt werden.

Ich zum Beispiel übe beharrlich mit einer Freizeitsport-Gruppe Judo. Mit wenig Geschick, aber viel Freude, Demut und dem Ziel, dies noch mit achtzig Jahren tun zu können. Auch wenn es dafür kein Geld gibt und ich niemanden in Not verteidigen könnte, das regelmäßige Üben in der Gemeinschaft macht das Leben immer wieder lebenswert.

Es muss also nicht immer die hohe Luft des Sinns des Lebens sein, die uns weckt, stärkt und für jeden neuen Tag belebt. Es dürfen auch die Freude und Gemeinschaft sein, die wir miteinander teilen. Und manchmal macht dies das Leben schon lebenswert genug.

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Kinder stehen vor einer der Tafel der Happy Child Schule, die von Cargo Human Care unterstützt wird. (Foto: Patrick Kuschfeld)

Kenia: „Wenn ein Kind keine Bildung bekommt, dann ist es verloren“

Fokko Doyen hat die Hilfsorganisation „Cargo Human Care“ mitgegründet. Das Projekt wuchs immer weiter, motiviert durch einen kleinen Jungen mit Herzklappenfehler.

Fokko, was hat es mit dem Namen „Cargo Human Care (CHC)“ auf sich?

Fokko Doyen: Ich habe das Hilfsprojekt 2002 mit Kollegen von Lufthansa Cargo initiiert, wo ich die letzten 20 Jahre als Kapitän gearbeitet habe. Der Vorstand von Cargo hat dann beschlossen, uns zu unterstützen – in Form von kostenlosen Flügen für unsere Ärzte und aktiven Mitarbeiter. Das sind 100.000 Euro, die wir jedes Jahr sparen.

Was motiviert dich bei deiner Arbeit für CHC?

Doyen: Ein Kind, das mir besonders am Herzen lag, war John Kaheni. Ich habe ihn 2004 kennengelernt. Er war damals zehn Jahre alt und lebte im Mothers’ Mercy Home, einem Waisenheim in Kenia. John hatte einen Herzklappenfehler und musste operiert werden. Die Kirche als Trägerin des Heims konnte sich das nicht leisten. Deshalb habe ich mit Freunden Geld auf dem Weihnachtsmarkt gesammelt und die Operation bezahlt.

John hat sich dann schnell erholt und die Schule abgeschlossen. Anschließend hat er eine Ausbildung angefangen, er wollte in die Filmindustrie. John war wie ein eigenes Kind für mich. Leider ist er 2014 gestorben, weil nicht erkannt wurde, dass er eine neue Herzklappe brauchte. Zu diesem Zeitpunkt haben wir ein Heim für Schulabgänger geplant und gebaut und dann nach ihm benannt. Das hat mich nach seinem Tod wieder neu motiviert.

„Wenn du in Afrika krank bist und kein Geld hast, musst du sterben“

Medizin und Bildung – warum diese Schwerpunkte?

Doyen: Diese beiden Bereiche werden von der Regierung in Kenia völlig vernachlässigt. Wenn ein Kind keine Bildung bekommt, dann ist es verloren und endet als Tagelöhner. Nur mit Bildung kommt man raus aus dieser Misere. Bezüglich Medizin: Sven Sievers, der Arzt, mit dem ich das Medical Center aufgebaut habe, hat gesagt: „Wenn du in Afrika krank bist und kein Geld hast, musst du sterben.“ Dem wollen wir entgegenwirken.

Wie hilft CHC konkret in Kenia?

Doyen: Mittlerweile haben wir ein Medical Center mit zwölf lokalen Angestellten und 46 deutschen Ärzten, die ehrenamtlich in kurzen Einsätzen vor Ort sind. Wir führen jedes Jahr über 30.000 Behandlungen bei 10.000 Patienten durch – für viele umsonst. Außerdem unterstützen wir das Mothers’ Mercy Home. Das haben wir Stück für Stück ausgebaut. Inzwischen haben wir auch zwei Schulen finanziert. Ein zweites Heim haben wir für Schulabgänger errichtet, die wir in der Berufsausbildung oder im Studium fördern.

Warum sollte jemand an euch spenden?

Doyen: Wir können sicherlich nicht die Welt retten und auch nicht ganz Kenia, aber wir können einer kleinen Anzahl von Menschen helfen, durch Bildung aus der Armut rauszukommen. Und diese können dann wieder Vorbilder für die nächste Generation sein. Meine Mitstreiter und ich sorgen auch durch häufige Präsenz vor Ort dafür, dass die Spenden wirklich bei den Menschen ankommen. Letztes Jahr hatten wir 0,3 Prozent Verwaltungskosten – wir arbeiten alle ehrenamtlich.

Die Fragen stellte MOVO-Volontär Pascal Alius.

Cargo Human Care arbeitet zusammen mit lokalen Partnern (vor allem Kirchen) in Kenia. CHC konzentriert sich gleichermaßen auf die medizinische Versorgung von Armut Betroffener sowie die Versorgung und Zukunftssicherung der Kinder im Mothers’ Mercy Home. cargohumancare.de

Sven Hannawald springt Ski vor der Kulisse der Zugspitze. (Foto: Christof Stache)

Sven Hannawald: Skisprungheld stürzt vom Siegerpodest in die Depression

Nach seinem Triumph bei der Vierschanzentournee 2002 holt ein Burnout samt Depression den Skispringer Sven Hannawald ein. Wenn er nicht rechtzeitig in eine Klinik gegangen wäre, würde er heute nicht mehr leben, ist Hannawald überzeugt.

Hallo Sven, nach dem Absprung fliegt ein Skispringer etwa drei Sekunden durch die Luft. Beim Skifliegen sind es sogar acht Sekunden. Wie fühlt sich das an?

Beim Fliegen ist das Schwerelose so besonders. Als Skispringer lebt man den Traum des Menschen, fliegen zu können – ohne Motor. Wir spielen mit den Lüften, das ist unheimlich toll und speziell. Ich wollte immer so weit fliegen wie möglich.

Warst du glücklich, nachdem dein Kindheitstraum in Erfüllung ging und du alle vier Springen der Vierschanzentournee 2002 gewonnen hattest? Vor dir war das noch keinem anderen Skispringer gelungen.

Ich habe jahrelang auf das Ziel, die Tournee zu gewinnen, hingearbeitet. Es war erlösend und befreiend, es geschafft zu haben. Als Erster einen Vierfachsieg zu holen, war unglaublich. Schon als kleiner Junge hatte ich den Traum, die Tournee zu gewinnen. Im Nachhinein habe ich aber auch gemerkt, was ich dafür meinem Körper antun musste. Nachträglich würde ich trotzdem nichts ändern. Der Gewinn war mir wichtiger als eventuelle körperliche Probleme.

„Nach dem großen Erfolg war mir alles zu viel“

Zwei Jahre nach dem Gewinn der Vierschanzentournee und einer Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City 2002 hast du die Diagnose Burnout mit mittelschwerer Depression bekommen. Nach einer Behandlung in einer Spezialklinik hast du 2005 deine Karriere als Skispringer beendet. Wie kam es zu deinem Burnout und der Depression?

Ich bin sehr perfektionistisch und ehrgeizig. Nach einem Springen oder dem Krafttraining habe ich meinem Körper zwar physische Pausen gegeben, aber keine psychischen. Ich habe immer ans nächste Springen gedacht. Das war wichtig, um zu gewinnen, aber es gab keine Balance in meinem Leben. Nach dem großen Erfolg war mir alles zu viel und ich habe mich unheimlich schwergetan, weiter dranzubleiben. Mein Körper hatte dem Erfolg zu viel Tribut gezollt.

Mit welchen Symptomen haben sich der Burnout und die Depression geäußert?

Es hat mit Müdigkeit angefangen. Normalerweise schläft man und geht in den Urlaub, um sich zu erholen. Ich habe mich nach zwei Wochen Urlaub aber immer noch so gefühlt, wie zu dem Zeitpunkt, als ich in den Flieger gestiegen und hingeflogen bin.

Früher hatte ich schon zwei Tage nach Saisonende wieder ein inneres Feuer, mit dem Training anzufangen – um mir einen Vorsprung zu erarbeiten. Von Saison zu Saison wurde der Zeitraum immer größer, bis ich wieder das innere grüne Licht bekommen habe. Da war ich dann in einer mir selbst auferlegten Bringschuld: Eigentlich müsste ich mit dem Training anfangen, aber ich hatte noch gar keine Lust.

Mein „Ich muss jetzt trotzdem trainieren“-Anspruch hat eine Unruhe in mich reingebracht. Ich war komplett überfordert, weil die Unruhe und Abgeschlagenheit sich nicht zurückzogen. Wenn ich nach oder vor einem Wettbewerb in meinem gewünschten Einzelzimmer war und eigentlich meine Ruhe hatte, kam ich mit der inneren Unruhe nicht klar.

„Ich habe anderthalb Jahre lang alle möglichen Ärzte aufgesucht“

Wie bist du mit dieser Unruhe umgegangen?

Ich wurde kirre im Kopf, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, damit es mir endlich besser ging. Egal, was ich gemacht habe, es wurde nicht besser. Ich hatte gar nicht die Ruhe, mich auszuruhen. Stattdessen bin ich der Unruhe gefolgt und habe eher wieder mehr gemacht, um das Gefühl der Unruhe zu übergehen.

Dann habe ich mich einen Moment gut gefühlt, weil ich was gemacht habe. Der Frust war für kurze Zeit weg, aber ich war dann noch müder. Das war ein Kreislauf, der stetig nach unten ging. Ich habe dann anderthalb Jahre lang alle möglichen Ärzte aufgesucht und keiner hat was gefunden.

Nach dem Ärztemarathon bist du in einer Klinik gelandet. Den Komiker Torsten Sträter hat es viel Überwindung gekostet, sich in Therapie zu begeben. Bei dir scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Warum?

Das lag daran, dass ich aus dem Einzelsport komme. Ich wusste dementsprechend, dass ich zu 140 Prozent fit sein muss oder keine Chance auf einen Sieg habe. Meine damalige Verfassung hat nicht mal für den Continental Cup, also die zweite Liga, gereicht. Ich war 30 und mir war klar, dass ich noch maximal bis 33 Skispringen kann und mir somit die Zeit davonläuft. Deshalb wollte ich keine Zeit verschwenden und das Problem direkt lösen.

„Es war tränenreich“

Wie war es in der Klinik?

Viele sagen: „Oh, bloß keine Klinik! Ich hab ja keinen an der Klatsche!“ Aber ich habe das gleich so gesehen, dass die Klinik wirklich eine neutrale Oase ist, wo ich wieder den Boden unter die Füße bekommen kann. Ich hatte dort viele gute Gespräche, wo auch meine Gefühlsebene zur Sprache kam, die ich in meiner Skisprungkarriere lange wegdrücken musste.

In der Klinik konnte ich meinem Körper und meiner Seele das geben, was sie gebraucht haben – ohne Leistungsdenken. Es war tränenreich, aber hat sich unglaublich gut angefühlt. Nach fünf Wochen war ich wieder bereit für die große weite Welt. Ich habe mich wieder gespürt und Lust gehabt, etwas zu unternehmen. Es war neues, frisches Leben in mir.

Welchen Wert misst du Freundschaften im Kampf gegen Depressionen bei?

Es ist unheimlich wichtig, Vertrauenspersonen wie Freunde und Familie zu haben, denen man sich öffnen kann. Man hat oft das Gefühl, ein Verlierer des Lebens zu sein, was aber überhaupt nicht so ist. Dementsprechend sind enge Vertraute wichtig, die einem Rückhalt geben. Meistens ist das Umfeld aber überfordert damit, alles aufzufangen und in die richtige Richtung zu arbeiten. Da gilt es dann, professionelle Hilfe zu suchen.

„Das kann nur jemand nachvollziehen, der eine Depression erlebt hat“

Der Fußball-Torwart Robert Enke nahm sich 2009 das Leben. Er hatte seit 2002 immer wieder Depressionen – hervorgerufen durch Versagensängste und Selbstzweifel. Hätte es bei dir ebenfalls so enden können?

Ja. Definitiv. Wenn ich 2004 noch mal sechs Jahre mit Skispringen weitergemacht hätte, dann wäre ich mit Sicherheit an diesen Punkt gekommen. Das kann nur jemand nachvollziehen, der eine Depression erlebt hat. Man will das ganze Psychische, was in einem rumfliegt, einfach nur loswerden. Bei mir war es nur eine kurze Zeit, wo ich das so extrem gemerkt habe. Ich bin dann zum Glück dem Rat meiner Ärzte gefolgt und in eine Klinik gegangen.

Nachdem du aus der Klinik raus warst, bist du noch einige Jahre in Therapie gegangen. Wann hast du dich wieder gesund gefühlt?

Mir hat es geholfen, mit dem Rennsport wieder eine Aufgabe zu finden. Skispringen konnte ich nicht mehr, weil mein Körper jedes Mal in der Nähe einer Schanze Stresssignale ausgesandt hat. Der Rennsport war das letzte Puzzleteil, um mich wieder glücklich zu fühlen.

Ich habe eine Aufgabe gebraucht. Davor hatte ich nichts, wo ich gemerkt habe, dass ich für etwas geschaffen bin. Ich bin morgens aufgestanden, habe den Tag genossen, gegessen und bin wieder ins Bett. Ohne Aufgabe ist es für einen Menschen einfach schwierig zu leben.

„Zeit mit meiner Familie hat Priorität“

In deinem Buch „Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“ schreibst du, dass du jetzt auf einem soliden Fundament stehst. Was ist dein Fundament?

Meine Familie. Meine Frau und meine beiden Kinder, die ich als meine Oase ansehe. Darauf baue ich jetzt alles auf. Zeit mit meiner Familie hat Priorität. Wenn Termine mit Familienzeit oder Urlaub kollidieren, sage ich sie ab oder verschiebe sie.

In einem Welt-Interview hast du gesagt, dass du gläubig bist. Welche Rolle hat der Glaube in deinem Heilungsprozess gespielt?

Und wie wichtig ist er für dich heute? Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, da war Kirche kein großes Thema. Trotzdem glaube ich, dass jemand auf mich aufpasst, mir so ein bisschen auf der Schulter sitzt und gewisse Dinge zulässt oder auch nicht. Das gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein, sondern meinen Weg gemeinsam mit jemand anderem zu gehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte MOVO-Volontär Pascal Alius.

 

Anlaufstellen bei Depressionen:

Grundsätzlich ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner für die Diagnostik und Behandlung von Depressionen. Bei Bedarf überweist er an einen Facharzt bzw. psychologischen Psychotherapeuten. In Notfällen, z. B. bei drängenden und konkreten Suizidgedanken, bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter der Telefonnummer 112 wenden. Der Sozialpsychiatrische Dienst bietet Beratung und Hilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörige an.

www.deutsche-depressionshilfe.de
www.143.ch
www.depression.at

Foto: traveler1116 / iStock / Getty Images Plus / gettyimages.de

Geschichtsstunde: Wie ein spanischer Mönch Menschenrechte für Indios erkämpfte

Der Mönch Bartolomé de Las Casas ist Militärgeistlicher der spanischen Eroberer Südamerikas. Als er ein Massaker an den Indios miterlebt, bricht Las Casas mit seinem bisherigen Leben.

„Sie wetteten darauf, wer einen Menschen mit einem einzigen Schwertstreich durchschlagen könne. Die Christen entrissen den Indianern ihre Weiber, bedienten sich ihrer und misshandelten sie. Neugeborene packten sie von den Brüsten ihrer Mütter und schleuderten sie gegen die Felsen. Sie bauten breite Galgen, an die sie zu Ehren des Erlösers und seiner zwölf Apostel immer dreizehn Indianer aufhingen und bei lebendigem Leib verbrannten. Dies habe ich mit eigenen Augen gesehen.“

In Mutters Bäckerei in Sevilla herrscht helle Aufregung, als Papa Pedro und Onkel Francesco im Juni 1496 zurückkehren. Von Christoph Kolumbus‘ zweiter Seereise. Sie waren dabei! In „Hispaniola“, dem heutigen Haiti, hatte Kolumbus 550 versklavte Einheimische an Bord geladen, die Hälfte starb bei der Überfahrt. Jetzt schenkt der berühmte Kapitän der Familie Las Casas einen 14-jährigen „Indianer“. Der Junge ist gleich alt wie Bartolomé. Die beiden freunden sich an.

Zur Strafe Hände abhacken

1502 reist Bartolomé selbst nach Haiti, weil jungen Siedlern dort Landbesitz und Goldfunde versprochen werden. Entsetzt sieht er mit an, wie lokalen Scouts, die ohne Gold aus den Bergen zurückkehren, die Hände abgehackt werden. Statt Bergbau und Landwirtschaft betreibt Bartolomé lieber Theologie und wird 1507 zum Priester geweiht.

Als Feldkaplan spanischer Truppen nimmt er an der Eroberung Kubas teil und hört 1511, wie ein Missionar dem zum Tode verurteilten Indio-Häuptling Hatuey anbietet, noch auf dem Scheiterhaufen getauft zu werden. „Komme ich dann in den Himmel?“, fragt der Todgeweihte. „Ja.“ „Zu den anderen derartig grausamen Christen? Nein, dann will ich lieber in die Hölle.“

Schlimmes Massaker sorgt für Sinneswandel

Als Bartolomé de Las Casas eins der schlimmsten Massaker am Volk der Taínos miterlebt, hört er am ersten Adventssonntag 1511 den Dominikanermönch Antonio de Montesinos predigen. „Mit welchem Recht haltet ihr die Indios in einer so grausamen Knechtschaft? Mit welcher Befugnis habt ihr dieses Volk in ungezählter Menge gemartert und gemordet?“ Der Militärgeistliche der spanischen Eroberer ist tief getroffen.

Bei der Vorbereitung einer eigenen Predigt zu Pfingsten 1514 liest Bartolomé einen Vers aus dem Buch Jesus Sirach 34,25-27: „Kärgliches Brot ist das Leben der Armen und wer es ihnen raubt, ist ein Blutsauger. Den Nächsten mordet, wer ihm den Lebensunterhalt entzieht und Blut vergießt, wer ihm den Lohn raubt.“ Ab jetzt ist ihm klar: Er wird als Priester niemandem die Beichte abnehmen und die Sündenvergebung zusprechen, der Sklaven hält. Die Konquistadoren und Plantagenbesitzer sind empört.

Für Rechte von Sklaven kämpfen

Las Casas „schenkt“ seine eigenen Sklaven dem Gouverneur von Kuba, reist 1515 nach Spanien zurück und erwirkt in einem Gespräch mit König Ferdinand ein neues Gesetz, das ausreichende Ernährung und medizinische Versorgung für die Indios vorschreibt. Ferdinands Thronfolger Kaiser Karl V. ernennt ihn 1516 zum „Prokurator aller Indios in Westindien“.

Karl V. übereignet Las Casas 1520 per Vertrag „das Festland südlich der Inseln“ – was mangels geografischer Kenntnisse so gut wie ganz Südamerika wäre. Als Bartolomé 1521 an der Küste von „Klein Venedig“ (Venezuela) ankommt, haben aufständische Indios nicht nur viele Siedler und Sklavenfänger, sondern auch alle Mönche ermordet. Sein Plan einer friedlichen Missionierung und Koexistenz der Völker ist gescheitert.

Großen Erfolg feiern

Die einzige Kopie des Bordbuchs von Christoph Kolumbus‘ Seereise 1492 besitzt – Bartolomé de Las Casas! Er beginnt, die verharmlosenden Berichte des gefeierten „Entdeckers“ zu kommentieren und eine „Geschichte der indigenen Völker Neuspaniens“ zu schreiben. 1521 zerstört Hernán Cortés das Aztekenreich, 1532 unterwirft Francisco Pizarro die Inkas in Peru.

Bartolomé kennt beide Völkermörder persönlich, reist nach Tenochtitlan und Machu Picchu und plädiert in seiner Schrift „Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder“ für vieles, was wir heute „Menschenrechte“ nennen. Endlich: 1542 erlässt Kaiser Karl V. das gesetzliche Verbot, Einheimische zu versklaven, und ernennt 1543 Las Casas zum „Bischof von Chiapas“ in Mexiko. Damit ist er zwar hochgeehrt, aber auch politisch kaltgestellt.

1546 kehrt er nach Spanien zurück, erwirkt ein gesetzliches Ende aller Eroberungsfeldzüge in Südamerika und stirbt am 18. Juli 1566 in Atocha bei Madrid. Als Chronist des Völkermords und erster Historiker und Theologe, der Sklaverei als Sünde und Verbrechen brandmarkte, wurde der „Apostel der Indios“ noch bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts von spanischen Rechten als „größenwahnsinniger Paranoiker und Beleidigung Spaniens“ bezeichnet.

Andreas Malessa ist Hörfunkjournalist in der ARD, Theologe, Buchautor satirischer Kurzgeschichten, Referent und Moderator auf Veranstaltungen mit religiös-kulturellen, kirchlichen und sozialethischen Themen. Aktuell sind von ihm erhältlich die Titel „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Am Anfang war die Floskel“ (bene!).

Die Gründer von Feuerwear, Martin und Robert Klüsener. (Foto: Feuerwear)

Upcyling von Feuerwehrschläuchen: „Es geht um das Überleben der Menschheit“

Die Brüder Martin und Robert Klüsener vom Kölner Modelabel Feuerwear hauchen gebrauchten Feuerwehrschläuchen neues Leben ein. Für die beiden geht es bei Nachhaltigkeit um Leben und Tod.

Feuer! Blaulicht. Sirenen heulen. Die Rauchwolke ist weithin sichtbar. Feuerwehrleute springen aus dem Löschgruppenfahrzeug. Beißender Rauchgeruch liegt in der Luft. Das Feuer knistert schon lange nicht mehr – es brüllt. Jetzt heißt es: Überblick verschaffen und Wasserversorgung sicherstellen.

Die Feuerwehrleute rollen Feuerwehrschläuche über den Asphalt und setzen ein Standrohr am nächstgelegenen Hydranten. Kein Wasser! Beim nächsten Hydranten: gleiches Problem. Das Wasser aus dem Tanklöschfahrzeug ist schon längst leer. Das Feuer breitet sich weiter aus. Geschafft: Beim dritten Hydranten kommt endlich Wasser. Der Feuerwehrschlauch dehnt sich aus und die Löscharbeiten können beginnen. So erging es der Feuerwache 2 in Bochum beim Dachbrand einer Turnhalle – zum Glück waren Ferien.

Alte Feuerwehrschläuche werden verbrannt

Damit das Wasser sicher vom Hydranten zum Feuer kommt, werden die Schläuche nach jedem Einsatz kontrolliert. Bei undichten Stellen oder wenn die vorgeschriebene Gebrauchszeit überschritten ist, werden sie aussortiert – meist nach acht bis zwölf Jahren. Die Reparatur ist teurer als die Entsorgung, weshalb die Schläuche normalerweise verbrannt werden. Manche haben das Glück, dieser Ironie des Schicksals zu entgehen.

Diese Feuerwehrschläuche landen im Kölner Nordosten beim Modelabel Feuerwear. In einem kleinen, gelben, unscheinbaren Gebäude schenken die Brüder Martin und Robert Klüsener diesen ausgemusterten Feuerwehrschläuchen ein zweites Leben. Aus ihnen entstehen seit 2005 Rucksäcke, Geldbeutel und (Fahrrad-)Taschen. Pro Jahr verarbeitet Feuerwear 15 Tonnen und 30 Kilometer an Schlauch – aneinandergereiht reicht das für die Strecke von Köln bis nach Bonn.

Es ist auf den ersten Blick erkennbar, dass Martin und Robert Brüder sind. Beide haben rötliches Haar sowie einen rötlichen Bart, tragen eine Brille und legere Kleidung. Seit 2008 arbeiten die beiden zusammen und genießen es: „Es ist halt dein Bruder. Der verzeiht dir auch mal, wenn du ‘nen schlechten Tag hast. Der weiß, wie er das einzuordnen hat, weil er dich schon länger kennt“, meint Robert. Er ist fürs Marketing zuständig und Martin für die Produktentwicklung.

„Mir hat Martin immer die Hosen gekürzt“

Martin experimentierte schon als Schüler mit der Nähmaschine seiner Eltern. „Mir hat Martin immer die Hosen gekürzt. Macht er heute nicht mehr!“, sagt sein Bruder Robert lachend. „Heute kostet es zehn Euro beim Änderungsschneider.“ Er sei schon immer mehr Praktiker als Theoretiker gewesen.

In seiner Diplomarbeit beschäftigte Martin sich mit dem Thema Upcycling und Mode. Anfangs dienten alte Windsurfsegel als Material – die waren jedoch schwer zu beschaffen und kamen oft aus aller Welt, was dem CO2-Fußabdruck wenig dienlich war. Schnell wechselte Martin auf ausrangierte Feuerwehrschläuche und fand darin das perfekte Ausgangsmaterial: robust, nachhaltig und einzigartig. Seine Mission: Zeigen, dass umweltbewusste Mode auch stylisch sein kann.

Material von Feuerwehrschläuchen untrennbar miteinander verbunden

Martin und Robert bekommen die alten Feuerwehrschläuche in großen Gitterboxen angeliefert – direkt aus einer der 98 Feuerwachen, mit denen sie zusammenarbeiten. Ein Feuerwehrschlauch besteht aus einem inneren Gummischlauch, Festkleber und einem gewobenen Mantel aus Polyesterfasern. Die Materialien werden untrennbar miteinander verbunden. Der Mantel verhindert, dass der innere Schlauch platzt.

Je nach Größe müssen die Schläuche einen Prüfdruck von 25 bar aushalten. Die meisten schaffen auch einen Wasserdruck von 50 bar, ohne zu platzen – 50 bar Druck herrschen in einer Wassertiefe von 500 Metern. Außerdem ist ein Feuerwehrschlauch 15-mal reißfester als ein Gartenschlauch: Mit ihm kann ein 15 Tonnen schwerer Feuerwehreinsatzwagen abgeschleppt werden.

Probieren geht über Studieren

Ein Jahr vergeht, bis Feuerwear ein neues Produkt ins Sortiment aufnimmt. In dieser Zeit wird „poliert, poliert, poliert“, wie Martin es nennt. Neben ihm ist vor allem Philomena dafür zuständig, Prototypen zu entwickeln. Direkt nach Abschluss ihres Studiums 2017 fing sie an, bei Feuerwear zu arbeiten. Während Philomena erzählt, steht sie an einem großen Holztisch. Darauf verteilt liegen verschieden große Stücke Feuerwehrschlauch sowie eine Fahrradtasche, an der sie gerade arbeitet. Rechts von ihr stehen zwei Nähmaschinen.

Philomena zeichnet kaum Entwürfe am Computer. Sie näht einfach drauflos und probiert aus. Bei einem so besonderen Material wie Feuerwehrschläuchen gehe das nicht anders, meint sie: „Man wird immer wieder überrascht. Sachen klappen nicht, wo man denkt, das sollte funktionieren. Es gibt immer wieder neue Herausforderungen. Langweilig wird es nie.”

„Ich hatte ein bisschen Angst, dass er piept“

Vor Kurzem sollte Philomena eine Meldertasche entwickeln und musste erst mal recherchieren, welche Melder genutzt werden. Melder sind kleine Geräte, die Feuerwehrleute von der Freiwilligen Feuerwehr am Gürtel tragen und über die sie im Brandfall alarmiert werden.

Ein Feuerwehrmann aus der Geräteprüfung der Feuerwache 4 in Köln erklärte ihr die gängigsten Melder: von Tetra Pager über Quattro S. Außerdem lieh er ihr einen Melder für zwei Stunden aus. „Ich hatte ein bisschen Angst, dass er piept. Ist aber nix passiert“, meint Philomena lachend. Anhand des Melders formte sie ein Modell der Meldetasche.

Gewichte scheuern mehrere tausend Mal über Produkte

Steht der Prototyp, kommt er ins Labor. Dort scheuern Gewichte mehrere tausend Male über ihn. „100.000 Scheuertouren nach Martindale halten unsere Produkte aus“, sagt Philomena. Sie nutzt die Produkte von Feuerwear auch selbst im Alltag. „Der Vorteil der Produktentwicklung ist natürlich, dass man die Produkte als Erstes testen muss“, meint sie lachend.

Ihr Lieblingsprodukt ist die Bauchtasche „Ollie“. Die bestehe im Vergleich zu anderen Produkten aus mehr Gewebe und weniger Schlauch. Oder in Martins Worten: Sie ist nicht so komplett „schlauchig“.

Über 500 Gitterboxen mit etwa 15.000 aussortierten Schläuchen

Hat der Prototyp die Testphase erfolgreich bestanden, beginnt die Produktion. Damit aus einem Feuerwehrschlauch ein Rucksack wird, muss er erst einmal in Stücke geschnitten werden. Dafür kommt der Schlauch in die Werkstatt für beeinträchtigte Menschen der Sozial-Betriebe-Köln (SBK). Dort stehen aktuell über 500 Gitterboxen mit etwa 15.000 aussortierten Schläuchen.

Ein Feuerwehrschlauch wird im Laufe seines Lebens durch jede Menge Dreck gezogen, deshalb reinigt die SBK die Schlauchstücke mit umweltverträglichen Waschmitteln aus nachwachsenden Rohstoffen. Die Industriewaschmaschinen sitzen in einem speziellen Betonsockel, der in den Hallenboden eingelassen ist, um die Wucht des Schleuderwaschgangs abfangen zu können.

Ist Upcycling nachhaltig?

In den Anfangszeiten von Feuerwear war noch nicht bekannt, wie nachhaltig Upcycling von Feuerwehrschläuchen wirklich ist. Es gab keinerlei Studien. Deshalb erstellte der TÜV Rheinland 2012 eine Ökobilanz für Feuerwear. „Wir waren ganz erleichtert, als wir gesehen haben, dass die Theorie stimmt und wir sogar ‘ne ganze Menge an CO2 einsparen. Das war gar nicht so klar am Anfang“, sagt Robert. Trotzdem versuchen sie, noch nachhaltiger zu werden.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Der größte Hebel sei die Bausubstanz eines Hauses und die Energie, meint Robert. Demnächst wird die Feuerwear-Zentrale umgebaut, dann besteht dort die Chance auf nachhaltige Veränderung. Strom und Gas bezieht die Firma von Green Energy, einem Greenpeace-Tochterunternehmen.

Produkte sollen noch nachhaltiger werden

Ein weiterer Hebel, um die Ökobilanz von Feuerwear zu verbessern, sind die Zusatzmaterialien des Rucksacks: PVC-Planen, Gurtbänder, Schnallen. „Unser Ziel ist es, möglichst viele Bestandteile unserer Produkte aus nachhaltig gefertigten und recycelten Rohmaterialien herzustellen – angefangen bei den Materialien mit dem größten Einfluss auf die Ökobilanz“, sagt Robert.

Es sei wichtiger, erst mal recycelte PVC-Plane für die Rückseite des Rucksacks zu finden, als nach nachhaltigem Nähgarn Ausschau zu halten. Die PVC-Plane und die Gurtbänder kommen aus der Autoindustrie.

Zu faul zum Autofahren

Die Zusatzmaterialien werden zusammen mit den Schlauchstücken zu den Nähereien nach Serbien geliefert. In Deutschland gibt es keine Nähereien mehr, die mit handgeführten Nähmaschinen arbeiten. Da Feuerwehrschläuche besonders robust sind, ist das aber nötig. CO2-Emissionen, die durch Transport und Versand entstehen, gleicht Feuerwear über Klimaprojekte aus.

Privat setzen Martin und Robert beim Transport ebenfalls voll auf Nachhaltigkeit: Beide fahren mit dem Fahrrad zur Arbeit. „Ganz ehrlich, ich bin eigentlich nur zu faul, in der Stadt mit dem Auto zu fahren“, erzählt Robert. Den Dienstwagen seines vorherigen Arbeitgebers hat er damals freiwillig zurückgegeben. Auf der Suche nach einem Parkplatz ist Robert zwei Wochen lang jeden Abend eine halbe Stunde um den Block gefahren – und nachher trotzdem im Halteverbot gelandet. Das wurde ihm zu teuer.

Klimaschutz: „An den süßen Robbenbabys, da sind wir schon lang dran vorbeigeschrammt“

Aus den Nähereien in Serbien kommen die fertigen Rucksäcke ins Zentrallager und dann zum Kunden. Ein großer Teil der Käufer hat selbst häufig mit Feuerwehrschläuchen zu tun: Sie sind Mitglieder von Freiwilligen Feuerwehren. „Das ist ein Typ Mensch, der sich echt für andere reinhängt“, sagt Robert.

Reinhängen ist seiner Meinung nach auch beim Klimaschutz nötig. Für Robert ist es eine Frage von Gerechtigkeit, in welchem Zustand er die Welt seinen Kindern hinterlässt. „Das ist das Gleiche, wie wenn ich jemandem meinen Mist in den Vorgarten kippe“, sagt er. Die Politik muss reagieren, findet er. Nachhaltigkeit ist für ihn und seinen Bruder Martin eine Frage von Leben und Tod: „Ganz ehrlich: An den süßen Robbenbabys, da sind wir schon lang dran vorbeigeschrammt. Es geht um das Überleben der Menschheit.“

Roy Gerber mit seinen Hunden. (Foto: Reto Schlatter)

Roy schmeißt sein Millionärs-Dasein hin – und wird Therapiehundeführer

Roy Gerber besitzt einen BMW, eine Yacht und drei Firmen. Durch seine Golden Retriever-Hündin Ziba verliert er alles – und ist glücklicher als zuvor.

Als Inhaber von drei gutgehenden US-Firmen fährt er einen 7er-BMW, wohnt an der südkalifornischen Pazifikküste, lebt aber meist auf seiner Yacht in Huntington Beach. Er hat den Pilotenschein, besucht gern Pferderennen und lässt bei Frauen nichts anbrennen. Seine Chauffeur-Agentur „Private Driver“ ist in Hollywood beliebt und so feiert Roy Gerber bisweilen mit Sandra Bullock, Cameron Diaz oder den Spielerstars der Baseball- und Football-Szene. Bis er zufällig eines Samstagnachmittags einer alten Dame hilft, Heliumgas-Flaschen in ihren Kofferraum zu wuchten.

Im zweiten Anlauf schafft Gerber das Therapiehundeführer-Zertifikat

„Mit dem Helium blasen wir Luftballons auf. Unsere Gemeinde feiert eine Geburtstagsparty für sexuell missbrauchte Kinder. Kommen Sie doch mit“, sagt die Oma. Als Roy dort seine junge Golden Retriever-Hündin Ziba aus dem Auto springen lässt, ist sie bei den Kindern sofort der Star des Nachmittags.

Ein Hundetrainer fragt, ob er das Tier auf seine Eignung als Therapiehund testen dürfe. Roy ist einverstanden, nimmt an der Prüfung teil. Ergebnis: „Ziba könnten wir sofort gebrauchen. Sie nicht.“ Der ehrgeizige Unternehmer und gebürtige Schweizer nimmt das als Kampfansage. Im zweiten Anlauf macht er das Therapiehundeführer-Zertifikat.

Er lernt Leute der „Mariners Church“ kennen, im Gottesdienst singt ein Gospelchor, der Pastor predigt über Ehekrach und Vergebung. Roy Gerber hat eine geplatzte Verlobung hinter sich und wurde vor Kurzem von seiner neuen Freundin verlassen. „Meine Tränen flossen nur so und doch war ich dabei zutiefst glücklich. Der Gesang des Chores ließ eine geistliche Atmosphäre entstehen, die mich ins Herz traf und meine Sehnsucht nach Gott weckte.“

„Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“

Auf einer Sommerfreizeit für sexuell missbrauchte Kinder im Schulalter – organisiert vom Verein „Ministry Dogs“ der „Mariners Church“, die Mitarbeitenden sind Kinderärzte, Traumatherapeutinnen, ein ehemaliger Undercover-Ermittler des FBI und viele Ehrenamtliche – dürfen die Kinder und Teenies „Briefe an Ziba“ schreiben und die Umschläge offen lassen oder zukleben. In zugeklebten Umschlägen liest sie niemand, auch nach der Freizeit nicht.

Die Briefe in den offenen Kuverts darf Roy Ziba „vorlesen“. Was da an Elend und Schmerz, Demütigungen und sexuellem Sadismus angedeutet wird oder zu lesen ist, reißt ihn endgültig heraus „aus dem ganzen Unternehmer-Tralala und Karriere-Bling-Bling“. Am Abfahrtstag des Sommerlagers – keins der Kinder will nach Hause – steckt ein Mädchen eine rote Feder in Zibas Halsband und sagt zu Roy: „Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“ Es ist sein Berufungserlebnis. „I promise, I promise!“, ruft er heulend dem abfahrenden Bus hinterher.

Vom Millionär zum Tellerwäscher

Roy und sein Hund werden bei Überlebenden kalifornischer Waldbrände, in der Notfallseelsorge der Verkehrspolizei, in Altersheimen und Krankenhäusern therapeutisch eingesetzt. Was für ihn mehr Sinn macht, als Luftfilteranlagen und orthopädische Betten zu importieren oder Promis durch L.A. kutschieren zu lassen.

Mister Gerber verschenkt seine Betten-Importfirma und die „Private Driver“-Agentur an seine Mitarbeiter, weil er weiß: Der Verkauf der Luftfilter-Firma wird ihm Millionen bringen. Doch obwohl seine Anwälte und Banker wasserdichte Kaufverträge ausarbeiten, wird „Air Cleaning Solutions“ nach vier Jahren Rechtsstreit ein Raub mexikanischer Wirtschaftskrimineller.

„Ich hatte als 23-Jähriger in der Schweiz manchmal 35.000 Franken im Monat verdient. Jetzt, mit 39, waren die Millionen futsch und ich ganz unten angekommen.“ Er jobbt bei einer Cateringfirma, studiert Theologie, wird zum „Chaplain“ seiner Gemeinde ordiniert – „Krankenbesuche kannte ich ja, aber Trauungen und Beerdigungen musste ich erst lernen“ – und gründet das „Chili Mobile“ für Obdachlose und Drogenabhängige, eine fahrende Essensausgabe.

Zurück in die Heimat

„Gott bläst einem ja nicht mit dem Alphorn ins Ohr. Er bevorzugt leise Töne“, sagt Roy, als er während einer Gebetszeit dem Impuls folgt, für „Pennerpfarrer“ Ernst Sieber in Zürich zu beten. In den 90er-Jahren ist das „Sozialwerk Ernst Sieber“ ein medienpräsent angesehenes Hilfswerk für Obdachlose, Prostituierte und Drogensüchtige in der Schweiz. Roy ruft ihn an. Einfach so. Und Sieber sagt: „Wir suchen einen Stellvertreter für mich. Komm rüber!“

Es wird das Ende einer bewegten US-Karriere, der Anfang eines neuen Lebens im alten Herkunftsland. Vier Jahre arbeitet Roy Gerber in der „Sonnenstube“ Zürich, hat aber in Gesprächen mit Hilfsbedürftigen oft das Gefühl, nur den Symptomen und nicht den Ursachen abzuhelfen. Der eigeninitiative Gründer in ihm, der Start-up-Unternehmer, scharrt innerlich mit den Hufen.

„Jährlich 50.000 Minderjährige in der Schweiz sexuell missbraucht“

Ihn irritiert, warum in der Schweiz das Thema sexueller Missbrauch so oft mit Schweigen belegt wird. Auch und gerade in christlichen Kreisen. „Laut Medicus Mundi-Studie werden hier jährlich rund 50.000 Minderjährige sexuell missbraucht, ins öffentliche Bewusstsein ploppt das erst, wenn wieder mal ein Kinderporno-Ring entdeckt wird. 55 Prozent der bipolaren Störungen, 80 Prozent der Borderline-Störungen, Magersucht, dissoziative Störungen, Lern- und Konzentrationsschwächen sind oft auf Missbrauch zurückzuführen.

Der wird aber erst vermutet, wenn physische Gewalt nachweisbar ist? Dann sollten die Opfer eine geschützte Gelegenheit bekommen, zu reden. Was sie nicht tun, solange ihre Angst bedrohlicher ist als ein Messer. Aber auch die Angst der Mitarbeitenden muss aufhören, in Kitas, Schulen, Vereinen und Kirchen verdächtige Beobachtungen zu melden. Es geht nicht um Generalverdacht, sondern um qualifizierte Hilfe für verstummte Opfer.“

„Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler“

Roy Gerber, eine Kinderärztin, ein Staatsanwalt, drei Polizisten, zwei Sozialpädagoginnen, ein Treuhänder und etliche beratende Experten gründen 2012 den Verein „Be unlimited“ und dessen „Kummer-Nummer“, eine schweizweite Telefon-Hotline, anonym und kostenlos, täglich rund um die Uhr mit geschulten Zuhörenden besetzt. „Wir sehen keine Nummer auf unseren Displays, es wird nichts aufgezeichnet, wir geben keine Infos an die Polizei, weil das zunächst die Opfer gefährden könnte.

Wir sagen auch nie ’sexueller Missbrauch‘, sondern fragen nach ‚Kummer‘ und nach ‚Ermutigung‘. Wenn ein Kind oder Jugendlicher es wünscht, fahren wir auch hin. Immer zu zweit, immer mit Therapiehunden. Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler. Kommt es zu polizeilicher Strafverfolgung, können wir helfen, Kinder in sicheren Pflegefamilien unterzubringen.“

Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt

„Der 17. Dezember 2013 war einer der traurigsten Tage meines Lebens.“ Als Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt, ist Roy Gerber todunglücklich. „Sie lag im Helikopter neben mir, wenn wir zu Waldbränden flogen. Sie begleitete mich zu Gefängnisbesuchen und Ferienlagern. Sie tröstete unzählige Kinder in Krankenhäusern und Heimen. Durch Ziba hatte ich meine Berufung gefunden. Jetzt musste ich sie gehen lassen.“ Das Mädchen vom Sommerlager in Kalifornien hat er nie wiedergesehen. Ihre rote Feder aus Zibas Halsband aber, die hat er immer noch.

Andreas Malessa ist Journalist. Aktuell von ihm erhältlich sind die Titel: „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Am Anfang war die Floskel“ (bene!).

Kummer-Nummer: Hast Du Kummer … und bist dir nicht sicher, wohin damit? Und schämst dich, darüber zu sprechen? Weil du unsicher bist, ob etwas, das du erlebt hast, normal ist? Wir können dir weiterhelfen: Tel: 0800 66 99 11; E-Mail: Help@kummernummer.org Anonym, diskret, kompetent, gratis, rund um die Uhr. www.kummernummer.org

Mehr zu Roy Gerber: „Mein Versprechen“ (Fontis)

Symbolbild: miniseries / iStock / Getty Images Plus

„PERMA-Modell“: Diese fünf Wege führen zu dauerhaftem Glück

Positive Gefühle, Flow-Erleben, gute Beziehungen, Sinn und Erfolgserlebnisse: Coach Michael Stief hat für jeden Weg einen Tipp parat.

Gibt es permanentes Glück oder ist das Science-Fiction? Ist Glücksstreben nicht Zynismus angesichts einer Welt in der Krise? Keineswegs! Gerade in Krisenzeiten gilt es, das Positive im Blick zu behalten, um mental fit und dadurch handlungsfähig zu bleiben. Wie aber finden Sie dauerhaftes Glück?

Fünf Wege zum Glück

Beim permanenten Glück geht es um das Glück des Augenblicks. Das beschreibt Glücksmomente, Gipfelerfahrungen oder in der Rückschau die Erkenntnis: „Ich bin glücklich.“ Intuitiv scheinen alle zu wissen: Glück ist etwas ganz Individuelles. Wirklich ganz individuell? Die Vielfalt menschlicher Genüsse, Dutzende von Eissorten, Pizzavariationen und Parfummarken legen die Vermutung nahe.

Im Gegensatz dazu hat der Psychologe Martin Seligman fünf universelle Wege identifiziert, wie Glück zu finden ist, nämlich durch positive Gefühle, Flow-Erleben, gute Beziehungen, Sinn und Erfolgserlebnisse. Zusammengenommen sind diese Wege die größtmögliche Annäherung an permanentes Glück. Dementsprechend nennt Seligman seine Glückformel das PERMA-Modell; nach den Anfangsbuchstaben der fünf englischen Entsprechungen Positive Emotions, Engagement, Relationships, Meaning und Accomplishment.

Eigenes Glück testen

Die fünf Wege zum Glück klingen nur vordergründig trivial. Sie sind wissenschaftlich gesichert und messbar. Die Psychologinnen Julie Butler und Margaret Kern haben dafür einen Test entwickelt (ippm.at/perma-profiler). Mit 23 Fragen gibt er Auskunft, welche dieser fünf Wege schon gut beschritten werden und wo noch Steigerung möglich ist.

Ähnlich wie ein Check-up beim Arzt gibt der Test Orientierung und hilft das Verhalten bewusster zu steuern. Dabei gibt es Raum für persönliche Vorlieben: So finden manche durch positive Gefühle und Erfolgserlebnisse zum Glück und die anderen im Flow sinnvollen Tuns.

Was macht wirklich glücklich?

Doch eines ist immer gleich: Das nachhaltige Glück fällt nicht in den Schoß wie ein Lottogewinn und selbst der macht nicht nachhaltig glücklich. Nach wenigen Monaten sind auch Lottogewinner nicht glücklicher als zuvor.

Wirklich glücklich macht nur eine große Zahl glücklicher Momente. Deswegen sollten Sie wie bei einem Sparbuch konsequent auf die fünf „Konten“ des permanenten Glücks „einzahlen“, um das Kapital an Glücksmomenten zu mehren.

Fünf Übungen für dauerhaftes Glück

Wie funktioniert das konkret? Wahrscheinlich hat jeder eine Liste von Dingen, die ihn im Alltag glücklich machen: die gute Tasse Kaffee am Morgen, der gemeinsame Spaziergang bei Sonnenuntergang oder eine „Bucket List“, was er noch erleben möchte. Letzteres ist hilfreich, wenn es ohne Zwang geschieht.

Darüber hinaus haben die Positiven Psychologen viele Übungen gefunden, die das Glücksempfinden steigern. Folgende fünf Übungen unterstützen jeweils einen Faktor des permanenten Glücks.

1. Positives sammeln

Manche werden aus der Zeit vor iPhone & Co. Fotoalben kennen. Darin konnte man auch an trüben Tagen in sommerlichen Erinnerungen schwelgen. Ähnlich funktioniert das Positive Portfolio. Dazu sammeln Sie Sprüche, Fotos, Musiktitel oder Filmsequenzen, die gezielt Freude oder Heiterkeit auslösen. Diese Sammlung ist dann parat, wenn Ihre Stimmung einen positiven Push braucht.

2. Stärken stärken

Flow-Erlebnisse entstehen, wenn Sie etwas tun, was Sie sehr gut können und was Sie gleichzeitig voll fordert. Dann brauchen Sie Ihren ganzen Fokus für diese eine Sache und gehen in dieser Tätigkeit auf. Die Voraussetzung ist, dass Sie Ihre Stärken kennen und sich gezielt Herausforderungen suchen. Neben praktischen Stärken verfügt jeder über Charakterstärken wie Fairness, Disziplin, Lernfähigkeit, Mut oder Menschlichkeit. Wenn Sie sich neue Gelegenheiten suchen, um Ihre Talente und Charakterstärken auszuleben, steigern Sie Ihr Glücksempfinden.

3. Gutes tun

Glücklich ist, wer Gutes tut. Überlegen Sie sich gezielt fünf positive Gesten für eine bestimmte Person. Es spielt keine Rolle, ob diese Gesten klein oder groß sind. Wichtig ist nur, dass diese frei und kreativ sind und nicht die Erwiderung eines Gefallens oder die Erfüllung einer längst geäußerten Bitte.

4. Sinn erleben

„Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“ war das Lebensmotto des Psychiaters und Holocaust-Überlebenden Viktor Frankl. Er machte den Sinn zur Grundlage seiner Logotherapie. Dementsprechend können Sie mit der großen Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest starten oder ganz einfach für andere da sein. Denn verschiedene Studien zeigen: Schon die Sorge für eine Zimmerpflanze genügt, das Glücksempfinden (und die subjektive Gesundheit) zu steigern.

Eigene Antworten finden

Sie können Sinn erleben durch Engagement für die großen Menschheitsziele, durch den Trost der Philosophie oder die Hingabe an einen persönlichen Glauben. Oder Sie finden eigene Antworten auf die Frage nach dem Sinn:

  • Machen Sie sich klar, was für Sie persönlich wertvoll und wichtig ist.
  • Überlegen Sie, was Sie selbst dafür im Kleinen wie im Großen tun können.
  • Setzen Sie sich dementsprechend konkrete Ziele.

5. Erfolgserlebnisse ernten

Manchmal landen Sie einen Glückstreffer, doch sonst braucht es Ziele, wenn Sie Erfolge erleben wollen. Für manche hat der Begriff „Ziel“ einen unangenehmen Beigeschmack, denn im Berufsleben sind sie oft mit Zielvorgaben konfrontiert. Selbstgesetzte Ziele aber motivieren und machen persönliche Entwicklung und Erfolge sichtbar. Und je konkreter sie sind, desto wirkungsvoller sind sie auch:

  • Täglich 10.000 Schritte gehen.
  • Bis Jahresende eine neue Fähigkeit erlernen.
  • Regelmäßig Zeit für die besten Freunde nehmen.

Tag für Tag glücklicher werden

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und nicht zuletzt können Sie auch die fünf Wege zum Glück selbst als Grundlage für Ihre Ziele verwenden:

  • Täglich etwas unternehmen, das Ihre Laune hebt.
  • Regelmäßig etwas tun, was Sie in den Flow bringt.
  • Zeit in Beziehungen investieren.
  • Energie in sinnvolle Projekte stecken.
  • Neue, lohnenswerte und wertvolle Ziele verfolgen.

Auf diese Weise werden Sie vielleicht nicht sofort und endgültig glücklich, aber Tag für Tag ein bisschen glücklicher und das in jeder Beziehung.

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork & Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de)