Von der Klippe gestoßen

Absturz im Beruf. Turbulenzen in der Familie. Zu müde zum Berge versetzen.

Der 17. Januar 2012. Ich kann mir diesen Tag besser merken als manchen Geburtstag. Es war der Tag, an dem ich als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens in die Zentrale der ausländischen Muttergesellschaft bestellt wurde. Kein Grund wurde genannt, es sollte sich wohl einfach um ein Jahresauftaktgespräch handeln. In dem gläsernen Büro meines Vorgesetzten wurde mir dann eröffnet, dass ich die Position des Geschäftsführers meiner Firma aufgeben müsse, um Platz zu machen für einen anderen. Ich fiel förmlich von einer Klippe.

ROTATION ALS GESCHÄFTSMODELL
Noch im Büro meines Vorgesetzten sitzend, wollte ich den Grund wissen, was zu der Entscheidung meiner Abberufung geführt habe. Die Aussage, es gäbe keinen spezifischen Grund, es sei nur mal eine „Rotation“ in der Führungsriege notwendig, sollte ausreichen. Man führte mich in einen Konferenzraum, in welchem mein Nachfolger auf mich wartete: Ein Kollege aus einem ausländischen Schwesterunternehmen, der selbst verunsichert war, mir gegenüberzutreten, kannten wir uns doch schon über viele Jahre.

Ich erinnere mich, dass ich auf dem Rückweg am Flughafen kulinarische Dinge kaufte, um damit zu Hause meiner Familie die neue Situation zu eröffnen, die doch „eigentlich“ gar nicht so schlecht sei. Eine besondere Art der Verdrängung, welche ich schon immer gut beherrschte: Bloß nichts hochkommen lassen.

Im März 2012 trat ich dann selbst vor die versammelte Belegschaft, um die Veränderung bekannt zu geben und unterstützte meinen Nachfolger nach bestem Wissen und Gewissen tatkräftig bei seinen Aufgaben. In meiner zurückgestuften Position kümmerte ich mich wieder ausschließlich um den Vertrieb und die geschäftliche Entwicklung des Unternehmens im Außenverhältnis.

Im selben Jahr entwickelte sich gerade ein Sturm in unserer Familie zu einem Orkan. Unser jüngstes von drei Kindern, das wir im Alter von zehn Monaten als Pflegekind aufgenommen hatten, suchte nach seinen Wurzeln und kam damit selbst nicht klar. Wenn wir uns telefonisch bei der Polizeistation im Nachbarort meldeten und um Hilfe baten, brauchten wir unseren Familiennamen nicht zu buchstabieren, man kannte uns bereits. Der Eklat gipfelte in einem Einsatz mit zwei Polizeistreifen, die sich anstrengten, eine unerlaubte und außer Kontrolle geratene Party unserer Jüngsten in unserem Haus zu beenden, während meine Frau und ich zum ersten Mal seit Langem versuchten, in einem 300 km entfernten Wellness-Hotel übers Wochenende etwas Kraft zu tanken.

Zuhause und in der Gemeinde versuchte meine Frau, alle Bälle in der Luft zu halten, um dann erst einen Hörsturz zu erleiden und anschließend in einem Burnout zu landen, welcher ihr einen mehrmonatigen Klinikaufenthalt bescherte.

DER STURM IN MIR
Und in mir? Da tobte ein Sturm, dem ich nicht erlaubte, herauszukommen. Ich suchte schließlich eine professionelle psychologische Beratung auf. Nach vielen Wochen erlaubte ich mir nach einer morgendlichen Sitzung, mich für den Rest des Tages krankzumelden. Bei einem Spaziergang in den Weinbergen ließ ich meinem Frust und meinen Tränen freien Lauf. Ich war zutiefst frustriert. Von Gott erwartete ich keine Antwort mehr. Nicht, dass ich ärgerlich auf ihn gewesen wäre – es war schlimmer: Es war eine geistliche Apathie, fast schon eine Agonie, und meine stetige Frage an Gott war: Wozu?

Anderthalb Jahre nach der ernüchternden Nachricht kündigte ich, um wieder ganz klein anzufangen. Meine neue Aufgabe besteht darin, eine Niederlassung für ein ausländisches Unternehmen im deutschsprachigen Raum aufzubauen. Eine neue Erfahrung, dass man nicht einfach den Mitarbeiter aus der IT-Abteilung anruft und ihn bittet, den neuen Rechner einzurichten. Oder ohne die Unterstützung der Human Ressources- Abteilung Stellenanzeigen zu formulieren und Mitarbeiter einzustellen. Als vor wenigen Wochen dann die Agenda des internationalen Sales-Meetings kam und ich unter keinem der genannten Punkte als Referent genannt war, merkte ich, dass es mir guttat. Ich durfte in die zweite Reihe treten und einfach nur zuhören. Noch wenige Jahre zuvor hätte mich das verletzt, dass man nicht an meinem Wissen und meiner Kompetenz interessiert wäre.

THERAPIE DES ZWEIFELNS
Während ich diese Zeilen schreibe, merke ich, wie es mir guttut und mein Computermonitor therapeutischen Charakter entwickelt. Weitere Fragen tun sich auf: Ist es erlaubt, sich zu freuen, dass meine damalige Firma seit dem Wechsel nur noch rote Zahlen schreibt und im Jahr meines Weggangs einen Verlust von fast 25 % aufweisen musste? Oder widerspricht das der christlichen Nächstenliebe und ich sollte mich schämen, solche Gedanken zu haben? Ich weiß es nicht.

Mein Glaubensleben hat sich verändert. Früher noch über jeden Zweifel erhaben, lasse ich sie zu und erlaube die Konfrontation mit ihnen. Früher sagte ich anderen, dass sie einfach glauben sollten, da Zweifel nicht in der Lage sind, Berge zu versetzen. Heute lasse ich die Frage zu, ob der Berg überhaupt versetzt werden soll. Dabei hat mir sehr geholfen, dass selbst Jesus Zweifel hatte und seinen Vater fragte, ob das mit der Kreuzigung sein müsse oder ob es auch einen anderen Weg gäbe (Lk 22,42). Scheitern und Zweifel gehören zum Leben, um daraus etwas Besseres entstehen zu lassen.

Dirk Hendrik Kneusels lebt in der Nähe von Darmstadt. Er hat drei erwachsene Kinder und ist Mitglied in der Evangelisch freikirchlichen Gemeinde Mühltal. Er leitet die Niederlassung eines italienischen Unternehmens.

Was haben Sie erlebt? Unter welchen „Abstürzen“ haben Sie gelitten? Was sind Ihre Scheiter- und Lernpunkte des Lebens? Erzählen Sie uns Ihre Geschichte: info@MOVO.net