Den Taktstock schwingen – so leicht wie es aussieht?
Dirigent Rainer Mühlbach zeigt, dass sein Job mehr ist, als mit den Armen herumzufuchteln. Es ist eine hohe Kunst, harte Arbeit und viel Gespräch.
Von Sven-Erik Tornow
Hand aufs Herz: Wer von uns stand nicht schon mal als Kind vor dem Lautsprecher und hat dirigiert? Die kleinen Ärmchen schwangen im Rhythmus in der Luft. Wir fühlten uns großartig. Aber nur die wenigsten von uns wollten später tatsächlich Dirigent werden. Umgekehrt überlebte der Wunsch, den Takt anzugeben, bei den meisten von uns. Dabei ist der Alltag eines Dirigenten weit mehr als das, wie mich die Begegnung mit Rainer Mühlbach, dem Leiter des Internationalen Opernstudios der Oper Köln sowie dem Musikalischen Leiter der Kinderoper Köln, lehrte.
Pünktlichkeit ist gefragt
Schon einen passenden Termin zu finden für die Stippvisite im Berufsleben des Familienvaters, war nicht so einfach. Spielzeiten, Proben und ein passendes Stück mussten abgestimmt werden. Im Oktober war es endlich so weit. Die Wiederaufnahme der Kinderoper „Die Bremer Stadtmusikanten“ stand auf dem Plan. „Wiederaufnahme heißt, wir haben das Stück bereits im Programm gehabt“, erklärt Rainer. Wir treffen uns auf dem Parkplatz direkt vor dem Bühneneingang des Ausweichquartiers der Kinderoper. Die ist, wie die ausgewachsene Oper, ins Staatenhaus gezogen, da das Gebäude am Offenbachplatz seit Jahren saniert wird. Rainer ist wie immer mit dem Rad unterwegs und kommt kurz vor unserem Termin an. „Pünktlichkeit ist wichtig“, hatte er mir vorher eingebläut. „Wer spätestens 15 Minuten vor Probenbeginn nicht da ist, wird angerufen. Denn schließlich ist man aufeinander angewiesen.“
Brigitta Gillessen, eine Kollegin von Rainer, lotst mich am Pförtner vorbei in den unspektakulären Hinterbühnenbereich. Im Ausweichquartier ist alles provisorisch. Denn man wartet und hofft auf den Umzug ins angestammte Haus in der Kölner Innenstadt. Container reihen sich aneinander, dazwischen breite Gänge. Durch offene Türen erhasche ich einen Blick auf Kostüme, Requisiten und ein Büro. Schon geht es treppauf in den eigentlichen „Bühnenraum“. Noch erhellen die Neonröhren an der Saaldecke die Szene: Bühne und Zuschauerraum sind in die viel größere Halle hineingesetzt. Begrenzt von schwarzen Wänden. Die MusikerInnen des Orchesters stimmen ihre Instrumente, im Hintergrund höre ich das typische Trällern einer sich einsingenden Darstellerin. Das Technikpult am hinteren Ende der tribünenartig ansteigenden Sitzreihen ist besetzt. In der szenischen Probe mit Orchester sollen auch alle Licht- und Bühneneffekte geübt werden.
„Talent ist gut. Übung ist besser. Sein Können auf der Bühne im Zusammenspiel mit dem gesamten Ensemble umzusetzen, ist das Beste“
Rainer Mühlbach
„Bis es zu solchen gemeinsamen Proben kommt, ist schon sehr viel Arbeit getan“, weiht mich Rainer in der späteren Mittagspause ein. „Einzelproben mit den Sängerinnen und Sängern, Orchesterproben ohne Gesang, szenische Proben ohne Orchester.“ Jede Rolle ist mehrfach besetzt. Ein Großteil der DarstellerInnen der Kinderoper ist im Opernstudio unter Vertrag. Das ist gewissermaßen die Talentschmiede der Kölner Oper. Manche haben ihr Studium noch nicht beendet oder setzen es in Köln fort. Andere sind bereits mit ihrer Hochschulausbildung durch. Allen gemeinsam ist, dass sie über das Opernstudio erste Bühnenerfahrung sammeln können. Und dass sie ganz individuell von Rainer betreut und geschult werden. Einige schaffen es später auch ins Ensemble der Kölner Oper. Oder erhalten ein Engagement an einem anderen Haus. „Talent ist gut. Übung ist besser. Sein Können auf der Bühne im Zusammenspiel mit dem gesamten Ensemble umzusetzen, ist das Beste“, macht Rainer deutlich.
Alles hört auf sein Kommando
Einige Musiker bekommen von den Orchesterwarten schnell noch LED-Pultleuchten, damit sie ihre Noten lesen können, nachdem die Neonlichter ausgegangen sind. Die Bühne erstrahlt im Aufführungslicht, der Saal hüllt sich in Schwarz. Rainer steht am Pult, die Partitur vor sich. Eng beschrieben sind die Doppelseiten, alle Stimmen des Orchesters sind hier notiert. Sein Taktstock hat am Griffende eine murmelgroße Korkkugel. Damit liegt er besser in der Hand. Endlich startet die erste Szene, noch ohne Musik. Der Darsteller des Esels spricht mit Rainer, die Grenze zwischen Bühne, Orchester und Publikum wird durchbrochen. Kurz bevor das Orchester einsetzt, hebt Rainer seinen Taktstock. Dann wird der Saal mit Musik erfüllt. Gesang kommt hinzu, das Stück nimmt seinen Lauf.
Plötzlich bricht Rainer ab. Etwas passt nicht. Ich habe nichts Falsches gehört, er schon. Darüber spreche ich später mit ihm. Jetzt gibt er erst einmal Anweisungen, er erklärt, worum es ihm geht. Mal passt der Rhythmus nicht, mal der musikalische Ausdruck. Im Laufe der Probe gibt es immer wieder solche Unterbrechungen – klar, ist ja auch eine Probe. Rainer spricht ruhig und entspannt mit den MusikerInnen und SängerInnen. Korrigiert auch eine Phrase, die man in der Orchesterprobe bisher anders einstudiert hatte. Ein paar Mal singt er auch die aus seinem Verständnis richtige Version vor. Dann gibt Rainer die Taktzahl an, an der Orchester und SängerInnen einsetzen sollen. Sein Taktstock gibt mal den Rhythmus vor, mal den Einsatz. Aber dirigiert wird mit beiden Händen. Alle hören auf Rainers Kommandos, die sich gar nicht wie Kommandos anhören.
„Mit der Routine kommt die Sicherheit. Und mit der Sicherheit erweitert sich der Raum für die künstlerische Interpretation.“
Rainer Mühlbach
In der Probenpause werden einige Details noch einmal angesprochen. Und während Rainer sich mit mir unterhält, gesellt sich einer der Sänger zu uns. Ein gebürtiger Ire, der im Stück den Hund verkörpert. Er und Rainer sprechen Englisch miteinander. Sie vereinbaren einen Probentermin für später. „Er ist auch im Opernstudio“, sagt Rainer. „Wir werden noch mal ein paar Dinge nacharbeiten.“ Was für mich so spielerisch einfach aussieht, ist letztlich harte Arbeit. In der Probe sind alle hoch konzentriert. Wird eine Szene wiederholt, sind alle Abläufe auch zu wiederholen. „Es ist spannend zu beobachten, wie sich ein Stück im Laufe der zahlreichen Aufführungen auch verändert. Mit der Routine kommt die Sicherheit. Und mit der Sicherheit erweitert sich der Raum für die künstlerische Interpretation“, weiß Rainer aus seiner 14-jährigen Erfahrung an der Kölner Oper.
Kinder für die Kunst gewinnen
Gleich mehrmals wird Rainer als Darsteller in das Stück eingebunden. Hilft, ein Schild aufzuhängen oder sitzt mit den vier Tieren an der Bühnenkante. Auch das Publikum, also die Kinder, werden in die Handlung einbezogen. Ich staune über die spielerische Art, wie Kinder an klassische Musik, an Operngesang und szenische Dialoge herangeführt werden. Bei mir springt der Funke auch über. Obwohl es nur eine Probe ist. Zum Schluss ist auch mein Rat gefragt. Es geht darum, ob den Kindern eine Frage gestellt werden soll oder nicht. Häufig antworten die intuitiv, aber nicht so wie erhofft. Gemeinsam finden wir eine Lösung, die ausprobiert werden soll. Während wir noch diskutieren, haben die Musiker ihre Instrumente eingepackt. Der neonbeleuchtete Saal leert sich, der Zauber ist vorbei. Bühnenarbeiter räumen auf. Für die kommende Probe muss alles wieder auf Anfang.
Rainer und ich gehen in die Kantine. „Für viele der schönste Raum im Staatenhaus“, meint Rainer. Und beim Blick durch das große Bogenfenster auf den sonnenbeschienenen Tanzbrunnen kann ich nur zustimmen. Wir stellen uns an und treffen einige der SängerInnen wieder. Sie stärken sich auch mit dem täglich frisch und selbst gekochten Essen. Selbst als wir uns zum Gespräch etwas abseits setzen, werden wir immer wieder unterbrochen. Mal grüßt jemand, mal gibt es kurz etwas zu besprechen. Wie wird man denn Dirigent?, will ich jetzt wissen. Rainer erzählt, dass er in seiner Geburts- und Heimatstadt Dresden Klavier und Dirigieren an der Hochschule „Carl Maria von Weber“ studiert hat. 1988 führte ihn der Gewinn eines Förderpreises nicht nur nach Schleswig-Holstein, sondern auch in den Wirkungsbereich des weltberühmten Komponisten, Dirigenten und Pianisten Leonard Bernstein. Der hatte zugesagt, die Förderpreisträger in eine seiner Produktionen einzubinden. Daraus entwickelte sich eine Assistenz bei dem US-amerikanischen Dirigenten. Über Engagements an der Semperoper Dresden, dem Theater Basel, der Hamburgischen Staatsoper, dem Theater Bremen und der Stadt Münster gelangte Rainer schlussendlich nach Köln.
Es kommt darauf an, wie man den Takt angibt
Kein Wunder, dass er Fehler hört, die ich nicht einmal wahrnehme. In der Vorbereitung von Opern oder Konzerten setzt sich Rainer intensiv mit dem jeweiligen Werk auseinander. Am Ende kann er es sogar auswendig. Die Partitur ist dann nur noch eine Gedankenstütze für vereinbarte Akzente oder Interpretationen. Und doch ist es nicht nur das Hören, sondern auch die eigene Vorstellung von dem Werk im Rückbezug auf das, was der Komponist einst zum Ausdruck bringen wollte. Klingt nach sehr viel Kopfarbeit, ist aber mindestens genauso viel körperliche Arbeit. „Ein Dirigent gibt zwar den Takt vor, und sicher auch die Interpretation eines Stückes, aber er versteht es auch, die beteiligten MusikerInnen und SängerInnen mit ihren Stärken einzubeziehen. Einerseits gibt er den musikalischen Ton an, andererseits schafft er Raum für das Orchester und die DarstellerInnen.“
Am Ende dieses Besuches weiß ich: Dirigieren ist mehr, als mit den Armen herumzufuchteln. Und dass ein Taktstock höchstens die Luft „schlägt“, aber nicht die MusikerInnen. Jedenfalls ist das bei Rainer so. Er vermittelt klar und deutlich, aber nie entblößend oder verletzend. Er dirigiert mit einem hohen musikalischen Anspruch, aber nicht als Alleinherrscher mit Starallüren.
Sven-Erik Tornow arbeitet als Fachjournalist, Fotograf und Kommunikationsberater in Köln. Neben seinem kirchlichen Engagement ist er ein begeisterter Langläufer, Leser, Cineast, Jazzliebhaber und Labradorbesitzer.