Tankwart Martin Weimer

Geläutert: Gestern Tankstellenräuber, heute Tankwart

Martin Weimer überfiel eine Tankstelle und landete hinter Gittern. Nach der Haft machte er eine Lehre zum Tankwart. Mit seiner fahrenden Werkstatt ist er der einzige mobile Tankwart Deutschlands.

Der eiskalte Fahrtwind fühlt sich an wie 1.000 stechende Nadeln. Es ist elf Uhr vormittags und minus zwei Grad kalt – gefühlt sind es minus zehn. Zum Glück ist es nicht glatt. Der Nebel hängt wie ein Bühnenvorhang in den Straßen Osnabrücks und lässt nur erahnen, was nach der nächsten Ampel kommt. Durch meinen Helm zieht der Wind durch und schlägt mir ins Gesicht. Ich sitze als Beifahrer auf einem Roller und halte mich an Martin fest, der sicher und routiniert die Strecke fährt. Ihn begleite ich heute bei seinem Job. Martin ist 41 Jahre alt. Er hat kurze, schwarze Haare und ein sicheres Auftreten. Er ist eigentlich ein ruhiger Typ, aber trotzdem nicht auf den Mund gefallen und hat einen trockenen Humor. Diese Fahrt ist Teil seiner Arbeit, denn Martin ist mobiler Tankwart – der Einzige in Deutschland.

Er steht nicht hinter der Kasse und fragt nach der Zapfsäulennummer, sondern ist selbstständig. Er fährt zu den Kunden hin und sucht mit seinem Roller im Straßenverkehr nach Aufträgen, ganz nach dem Motto: Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten kommen. Durch den Nebel sind die Lichter der Autos etwas matt, aber er zeigt mir während der Fahrt einige Autos mit defekten Lampen. Für mögliche Kunden hat Martin ein sehr wachsames Auge und stets einen Koffer mit Lampen und Werkzeug parat. Vor der Fahrt hat mir Martin seine Lebensgeschichte erzählt.

Der Tankstellenraub

Ich kann es mir kaum vorstellen, aber der ruhige Mann vor mir saß vor 21 Jahren im Gefängnis – wegen eines Tankstellenraubs. Dafür musste er drei Jahre in Haft. Martin hatte damals Schulden und wusste nicht, wie er sie begleichen sollte. So kamen er und seine damaligen Freunde auf die Idee, die Tankstelle in der Nähe „plattzumachen“. Nach seiner Haftzeit und vielen Jobs bei Zeitarbeitsfirmen machte er schließlich eine Ausbildung zum Tankwart. Auf die Idee kam er durch eine Pizza, die er ausliefern musste: „In der Tankstelle hing ein Zettel mit der Aufschrift ‚Lehrling gesucht‘. Da dachte ich mir: Gut, ich habe eh nichts zu tun, dann mache ich das mal.“ Seine Geschichte ist tragisch – mit einer Prise Humor. Martin ist dankbar für seinen Lebensweg: „Ich bin froh, dass ich direkt beim ersten Mal erwischt wurde. Vielleicht hätte ich sonst noch etwas Schlimmeres gemacht.“

Von den deutschen Gefängnissen ist er jedoch nicht sehr überzeugt. Er findet, dass die Häftlinge dort keine Perspektive bekommen und einander eher zu kriminellen Handlungen ermutigen: „Ich habe im Knast gelernt, wie man Alarmanlagen kurzschließt, Fenster geräuschlos öffnet und andere krumme Dinge. Es ist wie eine kriminelle Community, die sich austauscht – über Verbrechen und wie man Verbrechen begeht. Viel sinnvoller wäre es, einen offenen Vollzug mit Therapien anzubieten.“

Vom Spiegel bis zur Autobatterie

Wir kommen beim Auto-Teilehändler an und steigen ab. Martin trägt eine helle Warnweste mit dem Logo seiner Firma. Die hat er vor ein paar Jahren gegründet. Nach seiner Ausbildung hat er lange als Angestellter gearbeitet. Nach einem Pächterwechsel wurde er gekündigt und kam schnell auf die Idee, sich selbstständig zu machen. Da die Frist für einen Förderungsantrag ablief, trug er sich kurzerhand als „mobiler Tankwart“ ein – ein Konzept, das er selbst vorher nicht kannte … Martin braucht beim Händler neue Teile für eine Reparatur: „Heute bestelle ich zwei Spiegel, bei einem Kunden wurden beide Spiegel abgefahren.“ Wie konnte das denn passieren? „Ein LKW hat den linken Spiegel abgefahren. Dann ist der Kunde vor Schreck zu weit nach rechts gegen die Leitplanke gefahren und der andere Spiegel ist dadurch demoliert worden.“

Wir gehen in den Laden. Der Verkäufer am Tresen erkennt Martin und sie unterhalten sich ein wenig. Er bestellt die Spiegel und kauft sich noch einen Werkzeugkoffer. Die Spiegel sind ein gutes Beispiel dafür, was Martin als mobiler Tankwart reparieren darf und was nicht. Vereinfacht gesagt darf er Kraftfahrzeuge pflegen, warten und kleinere Reparaturen wie diese durchführen. Er erklärt es mir so: „Nehmen wir einmal an, ein Kunde kommt zu mir mit einem PKW, der eine Beule in der Tür hat. Ich dürfte die Schadstelle ausbeulen. Wenn ich aber für diese Arbeit die Tür ausbauen müsste, dürfte ich das nicht. An die Bremsen darf ich beispielsweise auch nicht gehen.“ Wir gehen aus dem Laden. Die Sonne zeigt sich und es ist nicht mehr ganz so neblig.

„Vorher war er fast obdachlos, jetzt ist er ein Unternehmer“

Wir schwingen uns wieder auf den Roller und fahren zu einer Tankstelle ganz in der Nähe. Dort sind wir mit einem Kunden verabredet. Heute ist die Innen- und Außenreinigung eines Wagens dran. Wir kommen auf dem Hinterhof der Tankstelle an. Diesmal ist der Fahrtwind nicht so stechend, vor einer Stunde war es definitiv kälter. Ich frage ihn, ob er bei jedem Wetter unterwegs ist. Jetzt im Januar könnte es ja auch schneien. Kein Problem für Martin: „Wenn es schneit, fahre ich einfach langsamer. Wenn es mir zu kalt wird, fahre ich nach Hause. Das ist meistens um die Mittagszeit, dann werden die Finger aufgewärmt und es geht weiter.“ Warum noch mal mit dem Roller? Wäre ein Auto nicht wärmer und schneller? Er hat sich bewusst für den Roller entschieden: „Wenn ein Auto zwei oder drei Reihen vor mir an der Ampel ist, würde ich als Autofahrer viel zu lange brauchen, um das Fahrzeug zu erreichen. Mit dem Roller kann ich direkt ranfahren, klopfen und meine Dienste anbieten. Das ist eine Flexibilität, die der Roller mir gibt, die ich mit dem zweispurigen Fahrzeug niemals hätte.“

Wir treffen den Kunden. Es ist Martins ehemaliger Pastor. Die beiden verstehen sich sehr gut und tauschen sich erst mal über die letzten Wochen aus. Dann beginnt Martin mit der Außenreinigung, und ich komme mit Fidan ins Gespräch. Dabei sprechen wir auch über Martins Lebensgeschichte. Dazu meint er: „Martins Geschichte zeigt, dass Gott Humor hat. Vorher war er arbeitslos und fast obdachlos, jetzt ist er ein Unternehmer.“ In einer Gemeinde haben sie sich näher kennengelernt. Martin ist nach seiner Haftzeit und einem mehrjährigen Aufenthalt bei einer Gefährdetenhilfe Christ geworden. Auch das Fisch-Symbol auf seiner Jacke zeigt deutlich, woran Martin glaubt. Der Fisch und die gesamte Jacke sind allerdings bei der Wäsche etwas dreckig geworden – kein Problem, etwas abputzen und fertig. Martin ist mit der Außenwäsche fertig. Er feilscht zum Spaß mit Fidan um den Arbeitspreis. Unter viel Gelächter einigen sie sich beim „Schnick, Schnack, Schnuck“. Wir fahren zu einer Halle, die Martin gemietet hat. Dort steht die Innenreinigung von Fidans Wagen an. Der Vermieter der Halle gehört zu Martins Stammkunden, die er sich über die Zeit aufgebaut hat. Damit es schneller geht, fahre ich diesmal bei Fidan mit.

War er nach dem Überfall nochmal dort?

An der Halle angekommen, sehe ich am Straßenrand das Auto mit den abgefahrenen Spiegeln. Martin inspiziert den Schaden noch mal und zeigt mir, was er in ein paar Tagen genau austauschen und reparieren wird. Wir gehen in die Halle. Hier gibt es alles, was das Schrauber-Herz begehrt: eine Werkbank mit Werkzeugen, Schrauben und sehr viel Platz. Jetzt ist die Innenreinigung dran. Die passenden Geräte dafür hat Martin natürlich parat. Er reinigt das Auto von innen und poliert die Armaturen. Das frisch gereinigte Auto glänzt jetzt von außen, und von innen sieht es wieder aus wie neu. Ein Licht scheint kaputt zu sein. Er fährt den Wagen aus der Halle und prüft noch mal alle Lampen. Doch alles in Ordnung. Nach einem gemeinsamen Mittagessen fahren wir zu Martins Wohnung, wo wir uns verabschieden.

Eine Frage bleibt noch: War Martin jemals wieder bei der Tankstelle, die er überfallen hat? Nach seiner Haftzeit war er nicht dort – bis vor ein paar Monaten. Da hat ihn ein Fernsehteam bei seiner Arbeit begleitet, und sie sind dorthin gefahren. Die Tankstelle sieht heute völlig anders aus, weil es einen Besitzerwechsel gab. Dadurch, dass bei Tankstellen auch das Personal sehr häufig wechselt, hat er auch nicht die Person angetroffen, die er damals bedroht hatte. Von außen und von innen hat sich sehr viel verändert. Im Grunde ist es eine neue Tankstelle. Martin hat sich in den 21 Jahren auch sehr verändert. Nun ist er als mobiler Tankwart unterwegs und tauscht vielleicht in diesem Moment eine defekte Birne aus – oder eine Batterie.

Tim Bergen arbeitet im SCM Bundes-Verlag bei der Zeitschrift MOVO. 

Josia Topf

Er schwamm zur Goldmedaille – ohne Arme und Kniegelenke

Der Para-Schwimmer Josia Topf gewann bei den Paralympics in Paris 2024 Gold, Silber und Bronze. Er möchte Menschen mit körperlichen Einschränkungen eine Stimme geben.

Wasser plätschert und schwappt über den Beckenrand. Es riecht nach Chlor. Frauen und Männer ziehen entspannt ihre Morgenrunden im Erlanger Röthelheimbad. Die Atmosphäre auf und neben Bahn 1 atmet nichts von diesem Gemütlichkeitsfaktor. Gnadenlos springt der rote Zeiger der großen Wettkampfuhr von Sekunde zu Sekunde. Meter um Meter tigert Trainer Christian Thiel am Beckenrand über die Fliesen mit. In seiner Hand: die Stoppuhr. In seinem Blickwinkel: Josia Topf, dreifacher Paralympics-Medaillengewinner von Paris 2024.

Ohne Arme wie ein Delfin

Josia Topf hat das sogenannte TAR-Syndrom. Er kam ohne Arme, ohne Kniegelenke und mit unterschiedlich langen Beinen zur Welt. Der Prognose „Dieses oder jenes wird Josia nie können“ lebt er selbstbewusst und fröhlich ein „Geht nicht, gibt’s nicht!“ im Wasser und an Land entgegen. Die Wende absolviert er flüssig tauchend wie ein Delfin. Anschließend rattert er mechanisch wie die Nähmaschine meiner Großmutter 4 x 100 m durchs Nass. Josia ist schnell, aber für seinen Geschmack nicht schnell genug. Prustend parkt er neben seinem Trainer. „Sieht flüssig aus. Deine Konstanz ist gut“, sagt ihm dieser. Josia spuckt einen Schwall Wasser aus. „Konstanz ist scheiße!“ Christian lacht. „Hey, du bist noch jung, wir müssen dich langsam aufbauen!“ Der 21-Jährige atmet tief durch. Seine Augen blitzen. „Ich habe doch fast keine Jahre mehr!“, entfährt es ihm entrüstet. Die beiden schauen sich an, die Spannung entlädt sich in einem Lachen. Josia zieht sich die Brille zurecht. Der Trainer zählt runter: 5, 4, 3, 2, 1 … Und schon pflügt Josia wieder los. Auf der Jagd nach Bestzeiten, Olympiasiegen und persönlichen Quantensprüngen. Es gilt, die ideale Körperhaltung im Wasser zu finden, die Renneinteilung zu optimieren, Hundertstelsekunden herauszuholen, um auch bei der WM in Singapur im September 2025 ganz oben zu stehen. Ich sehe: Geht nicht, gibt’s nicht!

Auf Bahn 2 lärmen inzwischen Fünftklässler. Die Lehrerin weist sie an, einander mit Schwimmnudeln durchs Wasser zu ziehen. Doch deren Aufmerksamkeit gilt der Bahn nebendran. „Da trainiert Josia Topf. Der hat keine Arme und Beine und schwimmt trotzdem schneller als wir!“ Ein Leben lang braucht Josia helfende Hände. Beim Duschen, Haareföhnen, Hose-Anziehen. Beim Zähneputzen, auf die Toilette gehen, um einen Text aufzuschreiben, die Scherben eines heruntergefallenen Glases aufzukehren. Doch Josia ist ehrgeizig. „Seit einer Woche kann ich selbstständig meinen Pullover anziehen!“ Im Wasser blüht Josia auf. Hier kommt er ohne Hilfe klar. Kraft holt er sich aus dem Rumpf: „Ich kann Purzelbäume und Salti machen, mich frei bewegen. Im Wasser bin ich unabhängig, tanke Optimismus und Selbstbewusstsein.“ Das Element Wasser schenkt ihm Freiheit. Er macht die Erfahrung: Das Wasser trägt ihn.

Er fährt selbst ein Auto?

8:34 Uhr. Josia steigt aus dem Becken. Das erste von acht Schwimmtrainings in dieser Woche ist absolviert. Mutter Wiebke übernimmt. Sie ist Josias Managerin, Mutmacherin und Ermöglicherin. Seine Eltern entscheiden sich in der Schwangerschaft trotz der niederschmetternden Diagnose für seine Geburt. Bewusst wählten sie den Namen Josia. „Das bedeutet im Hebräischen: Gott heilt, Gott unterstützt.“ Sie lieben und unterstützen ihn. Sie nehmen sehr viel auf sich in finanzieller und zeitlicher Hinsicht, um ihren Sohn zu fördern und voranzubringen. Ich ahne die Kraft der Elternliebe hinter „Geht nicht, gibt’s nicht!“.

„Bist du mit dem Auto da?“, fragt mich der frisch geföhnte Schwimmprofi. „Nein, ich bin mit der Bahn gefahren.“ „Dann kannst du gerne bei mir einsteigen“, sagt der 21-Jährige fröhlich. Selbstbewusst steuert er auf einen BMW zu. Von Mutter Wiebke als Fahrerin keine Spur. Im Armstumpf klemmt ein Schlüssel. „Echt jetzt?“, schießt es mir durch den Kopf. Schwups sitzt der junge Mann hinter dem Lenkrad. „Willst du noch ein Bild machen? Von der Beifahrerseite aus ist die Steuerung nicht sichtbar …“ Ich laufe ums Auto herum. Spüre ich da in mir ein Zögern? Kaum habe ich mich angeschnallt, höre ich Josia sagen: „Startknopf betätigen. Blinker setzen, links!“ Wie von Geisterhand bewegt, dreht sich das Lenkrad, ohne dass Josia es berührt. Seine Hände sind dafür viel zu kurz. Das Auto rollt los. Ich bin völlig verwundert. Der Schwimmer lacht mich unbekümmert an. Sekunden später drückt mich die Beschleunigung in den Sitz. Er fährt, wie er schwimmt: Vollgas!

Josia erzählt mir den steinigen Weg zu seinem Führerschein. Mit zwei Joysticks steuert er das Fahrzeug: Links lenkt er, rechts beschleunigt und bremst er. Den Blinker setzt er per Sprachsteuerung. „Blinker rechts!“ Er weiht mich in die technischen Details seines Wunderautos ein. Wir haben uns an der Ampel falsch eingespurt. „Macht nix!“ Es wird grün. „Blinker links!“ Warum gehen meine feuchten Hände plötzlich Richtung Armaturenbrett? Warum tritt mein Fuß auf die nicht vorhandene Bremse? Josia spürt meine Verunsicherung. Er lacht auf. „Beug dich mal nach vorne.“ Ich sehe auf „Restfinger“ an der linken Schulter. Diese bedienen einen Joystick in Mario-Kart-Manier. Die Freiheit feiernd. Und ich erlebe auf dem Beifahrersitz: „Geht nicht, gibt’s nicht!“

Jurastudium und Hantelbank

Wir sitzen im Wohnzimmer. Josia kaut einen Energieriegel. Er wirkt zufrieden. Wir reden über die Mühe und den Schmerz. „Wenn ich nicht bereit bin, an meine Grenzen zu gehen, dann brauche ich auch nicht diese Art von Leistungssport zu betreiben. Der Sport lebt davon, dass man seine Grenzen verschiebt, sie austestet, sie überwindet.“ Das Gefühl „Da geht noch was“ gibt ihm Kraft, treibt ihn an. „Mich befriedigt es, mich abends im Spiegel anzuschauen und mir zuzusprechen: Heute hast du alles gegeben!“, so der Schwimmer. „Man braucht 10.000 Übungsstunden, bis man ein Instrument gut bis sehr gut beherrscht. So ist es auch mit der Technik beim Schwimmen. Ich habe noch keine 10.000 Stunden im Becken verbracht. Ich kann mir daher noch ein bisschen Zeit geben“, erklärt er lachend. Weniger spaßig ist für ihn das Thema Anschlagen im Ziel. Da er keine Arme hat, kracht Josias Kopf mit Vollgas gegen den Beckenrand, um den Sensor in der Anschlagmatte auszulösen und die Uhr zu stoppen. Das zieht massive Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und auch mal Gedächtnislücken nach sich. Er stöhnt: „Manchmal sind da für mich richtige schwarze Löcher.“ Der Antrag, die Badekappe oder die Anschlagswand zu polstern, wurde bisher abgelehnt. Offizielle Begründung: Die Körpergröße würde künstlich erhöht, die Chancengleichheit für die anderen dadurch herabgesetzt. „Wir kämpfen weiter für eine Regeländerung beim Weltverband, auch wenn es ein mühsamer Weg ist“, schiebt Josia nach. Der Ärger ist ihm abzuspüren, aber auch eine anwaltliche Hartnäckigkeit, denn „Geht nicht, gibt’s nicht!“.

Eine Hantelbank im Zimmer nebenan. Hier warten Gewichte auf die nun folgende schweißtreibende Trainingsrunde, bevor er am Nachmittag mit seinen Kommilitonen im Hörsaal der Vorlesung in Jura lauscht. Aus der Kiste holt Josia die Olympiamedaille in Gold über 150 m Lagen. Sie ist ihm Mutmacher in den Niederungen des Trainings- und Lebensalltags, aber „am Ende des Tages möchte ich damit auch nicht angeben. Nicht erst die Medaillen machen mich zu einem wertvollen oder gar wichtigen Menschen.“ Der Student ist dankbar für seinen Glauben. Römer 8,31 gibt ihm Kraft in guten und in schlechten Zeiten. „Wenn Gott für mich ist, wer kann dann gegen mich sein?“ Dieses Wissen verleiht ihm Wert, Stabilität und Ruhe, gibt ihm aber auch Energie in seinem Kampf für gelingende Inklusion. Josia saugt seine gewachsene Popularität nicht nur für sich selbst auf. Er verleiht auch denen eine Stimme, „die nicht das Privileg haben, so eine Aufmerksamkeit zu erlangen“. Er drückt mir seine Medaille in die Hand. „Ich würde mich freuen, wenn Menschen mit körperlichen Einschränkungen von meiner Goldmedaille in Paris profitieren und wir nachhaltig etwas für alle Beteiligten verändern können.“

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. 

Oberstaatsanwalt Hoffmann

Politiker aus Moskau bald auf der Anklagebank?

Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann dokumentiert Kriegsverbrechen im Ukrainekrieg. Im Interview berichtet er, wie er den Opfern eine Stimme gibt. Er ist überzeugt: Die Verantwortlichen werden irgendwann vor Gericht stehen.

Herr Hoffmann, wie sind Sie aus dem beschaulichen Freiburg zu dieser Aufgabe in Kiew gekommen?
Ich habe einige Jahre als Staatsanwalt beim Jugoslawien-Tribunal in Den Haag mitgearbeitet. Direkt nach dem Beginn der Invasion der russischen Streitkräfte in die Ukraine kam ein ehemaliger Kollege auf mich zu und fragte mich, ob ich bereit wäre, die Erfahrungen und Erkenntnisse von damals in die Beratung der ukrainischen Kolleginnen und Kollegen einzubringen.

Sie arbeiten als Generalstaatsanwalt in der Ukraine und dröseln die Schrecken des Krieges auf. Wie muss man sich Ihren Arbeitsalltag vorstellen?
Wir sind ein Team von internationalen Ermittlern, Militärexperten und Staatsanwälten. Wir stehen der dortigen Generalstaatsanwaltschaft beratend zur Seite. Zu unseren Aufgaben gehört die juristische Beratung. Wir trainieren die Kolleginnen und Kollegen in den Grundlagen von Völkerstraftaten. Wir klären mit ihnen Fragen wie: Was sind Kriegsverbrechen? Was ist ein Völkermord? Was sind Tatbestandsnachweise? Wir zeigen den Frauen und Männern, wie man Ermittlungen korrekt durchführt, wie man Zeugen von Verbrechen, aber auch Opfer von sexueller Gewalt vernimmt, ohne sie zu retraumatisieren.

Mit welchem Ziel?
Um später einmal vor Gericht Täter, aber eben auch die Kommando-Ebene sauber anklagen und rechtsstaatlich verurteilen zu können.

Von wie vielen russischen Kriegsverbrechen gehen Sie derzeit aus?
Stand Juni 2024 sind rund 130.000 einzelne Ermittlungsverfahren registriert worden.

Das ist eine wirklich große Anzahl.
Die ukrainischen Kollegen werden im Augenblick von der Masse der Fälle förmlich erschlagen. Da ist ein systematisches Herangehen gefragt. Da müssen Schwerpunkte gesetzt und Fälle zusammengeführt werden.

Was ist Ihre Motivation für diese Sisyphusarbeit?
Es ist eine Antwort auf meine gefühlte Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ich war am 22. Februar 2024 geschockt von diesem Angriff mitten in Europa. Es wollte nicht in meinen Kopf, dass so etwas fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einem Land verbrochen wird, welches selbst 24 Millionen Menschen in den Schrecken des Krieges verloren hat. Dass ich jetzt der ukrainischen Staatsanwaltschaft mit meinem Knowhow zur Seite stehe, gibt den Kollegen dort moralischen Beistand. Sie spüren und erleben: Wir stehen mit dieser Herausforderung nicht alleine da.

Den Opfern ihre Würde zurückgeben

Wem wollen Sie eine Stimme verleihen?
Ganz klar den Opfern dieser völkerrechtswidrigen Annexion. Wir wollen die Geschichten der Opfer erzählen, ihnen ihre Würde und Rechte zurückgeben.

Bestehen da Aussichten auf Erfolg?
Derzeit ist nicht absehbar, welche Täter irgendwann mal vor Gericht stehen werden. Umso wichtiger ist es jetzt, die Taten akribisch festzuhalten, stichfest zu ermitteln, damit die Beweise möglicherweise in späteren Gerichtsverfahren verwendet werden können.

Was sind Ihrer Einschätzung nach die schlimmsten Kriegsverbrechen bislang?
Jedes einzelne Kriegsverbrechen ist schlimm und eines zu viel. Auch wenn man solche Verbrechen nicht miteinander vergleichen kann, so stechen doch vor allem die Verbrechen gegen Kinder (Deportation und planmäßige, langjährige Indoktrination), die systematische sexuelle Gewalt und Folter gegen Zivilisten sowie seit Oktober 2022 die massive und landesweite Zerstörung der zivilen Infrastruktur mit massiven Folgen für die gesamte Zivilbevölkerung heraus.

In Deutschland hat die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht eine Kontroverse ausgelöst, indem sie behauptete, die UN-Menschenrechtskommissarin hätte „immer wieder darauf hingewiesen, auch in diesem Krieg: Kriegsverbrechen werden von beiden Seiten begangen.“ Wie beurteilen Sie das?
Es kommt dabei immer auf den Kontext und die Perspektive an. Auch wenn es in der Ukraine sehr vereinzelt Vorwürfe gegen ukrainische Soldaten gibt, ist doch zu betonen, dass diese Tatvorwürfe in keiner Relation zu den massiven und planmäßigen Kriegsverbrechen der russischen Föderation stehen. Das genannte Zitat kann nur als Relativierung, ja schon fast als Entschuldigung für die russischen Kriegsverbrechen verstanden werden. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel und negiert vollkommen die Geltung des Internationalen Humanitären Völkerrechts.

Beschränkt sich Ihre Arbeit nur auf den Schreibtisch, das Anlegen von Akten – oder begeben Sie sich auch an die Tatorte?
Tatsächlich beschränkt sich meine primäre Arbeit auf die am Schreibtisch, auf das Gespräch mit den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen, das Veranstalten von Trainingskursen, Schulungsreisen und den Erfahrungsaustausch. Persönlich war ich aber auch schon an den Tatorten in Irpin und Butscha. Im Letzteren wurden nach der Rückeroberung durch die ukrainische Armee 458 Leichen gefunden. 419 der Toten trugen Anzeichen, dass sie erschossen, gefoltert oder erschlagen worden waren.

Putin vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal?

Wie bewerten Sie es, dass der Internationale Strafgerichtshof (englische Abkürzung: ICC) Haftbefehl gegen Putin wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine erlassen hat?
Das ist ein echter Meilenstein. Erstmals ist nun ein Haftbefehl gegen einen amtierenden Präsidenten einer der fünf UN-Vetomächte ergangen. Dieser Haftbefehl ist nicht nur ein Appell an die Mitgliedsstaaten des ICC, sondern an die gesamte Welt, weitere Kriegsverbrechen effektiv zu unterbinden und die Täter der strafrechtlichen Verantwortung zuzuführen.

Russland ist jedoch kein Mitglied des Strafgerichtshofes, muss daher dessen Urteile nicht fürchten …
Das ist richtig, aber man darf das politische Zeichen dieser Anklage nicht unterschätzen. 124 Länder dieser Erde signalisieren damit: So nicht, Putin! Und wie wir sehen, schränkt es ja Putin in seiner Reisefreiheit gewaltig ein. Er hätte sicher gerne am BRICS-Gipfel 2023 in Südafrika teilgenommen. Doch da ihm dort die Verhaftung drohte, reiste er nicht an.

Werden wir Putin jemals auf der Anklagebank in Den Haag sehen?
Im Moment ist das nicht absehbar, doch ich sage den Ukrainern mit meiner Erfahrung durch die Aufarbeitung des Jugoslawienkrieges: 1993 hätte auch niemand gedacht, dass einmal der serbische General Ratko Mladić angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt wird, Politiker wie Radovan Karadžić oder Slobodan Milošević sich für ihre Taten vor Gericht verantworten müssen. In zehn, fünfzehn Jahren kann sich der politische Wind auch drehen.

Sie hoffen auf einen „Wind of change“?
(leidenschaftlich) Ja! Das wäre ja nicht das erste Mal in der Weltgeschichte.

Sie wühlen in den Abgründen des Menschseins. Was macht das Elend mit Ihnen als Mann?
(Schweigen) Dieser Frage darf ich mich nicht jeden Tag stellen. Da würde ich verzweifeln. Es ist manchmal schon schwer zu verkraften, wozu Menschen in der Lage sind. Ja, es gibt Verbrechen, die mich als Staatsanwalt an der Menschheit verzweifeln lassen, doch die entscheidende Frage ist: Lasse ich mich von dem Bösen besiegen oder setze ich dieser Entmenschlichung Gutes entgegen? Ich will mich nicht davon abbringen lassen, mich für Gerechtigkeit, Wahrheit, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Frieden einzusetzen.

Wie gehen Sie mit Emotionen um? Müssen Wut und Trauer außen vor bleiben, hinter den trockenen Paragrafen verschwinden? Schießen Ihnen auch mal Tränen in die Augen?
Ich bin Ehemann, Vater, Mensch. Auch mich packt manchmal das Entsetzen, der Schmerz, die Trauer. Vor Kurzem sah ich mir den mit einem Oscar ausgezeichneten Dokumentarfilm „20 Tage in Mariupol“ an. Dieser Film lässt mich nicht kalt, da musste ich schlucken, mir standen Tränen in den Augen. Das Entscheidende für uns Juristen ist jedoch: Es gilt, sich im Blick auf die Verbrechen den eigenen Emotionen zu stellen, aber dann doch professionell zu handeln. Dazu gehört es dann auch, einen russischen Soldaten als Jurist freizusprechen, wenn diesem die Taten nicht nachgewiesen werden können.

Wo der Glaube an Grenzen stößt

Die Gewalttaten, in denen Sie ermitteln, sind zu wie viel Prozent männlich?Nahezu 100 Prozent. Es wäre in der Tat spannend zu sehen, was passieren würde, wenn mehr Frauen unter den Streitkräften oder auch in den politischen Führungspositionen wären. Ich könnte mir vorstellen, dass Auseinandersetzungen da nochmals einen anderen Weg nähmen.

Was gibt Ihnen Kraft und was hilft Ihnen, im ständigen Umgang mit dem Grausamen positiv zu bleiben, die Lebensfreude zu behalten?
Ganz klar der Kontakt mit den ukrainischen Kollegen. Sie melden mir zurück: Deine Präsenz, deine Unterstützung hilft uns, nicht aufzugeben, zeigt uns, dass wir diesen Kampf nicht alleine führen müssen. Helfen tut mir aber auch das gelegentliche Zusammentreffen mit den Opfern. Da erlebe ich eine große Dankbarkeit, weil wir ihnen eine Stimme geben. Natürlich kann ich das erfahrene Leid nicht wiedergutmachen oder die toten Angehörigen zurückbringen. Doch ich kann sie ihre Geschichte erzählen lassen, die dann hoffentlich einmal vor Gericht die Täter auf die Anklagebank bringt. Gerade in der Aufarbeitung des Jugoslawienkrieges habe ich unheimlich starke Frauen erlebt, die es als unendlich befreiend erlebt haben, als die Täter auf der Anklagebank Platz nehmen mussten und sie der Weltöffentlichkeit ihre leidvollen, dokumentierten Geschichten erzählen konnten. Ansonsten wende ich mich auch schönen Dingen wie Sport und Kultur zu, genieße Zeiten mit der Familie, gehe in die Kirche.

Sie sind Christ, Prädikant in der Evangelischen Kirche. Bohrt in Ihnen nicht manchmal trotzdem auch die Frage nach dem Leid?
Auch mein Glaube stößt hier und dort an Grenzen. Es gibt viele Antworten auf die alte Frage: „Wie kann Gott das alles zulassen?“ Doch allesamt lassen sie mich unbefriedigt zurück. Ja, ich kenne das Bohren im Blick auf das Leid. Mir tut es gut, diese Not, die aufsteigende Wut an Gott abzugeben, ihm im Gebet zu sagen: Herr, erbarme dich!

Sie wollen nicht aufgeben. Wann hat sich die Arbeit von Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann gelohnt?
Ich freue mich über jeden kleinen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit. Bei der Arbeit, die ich jetzt tue, sind die Ergebnisse leider nicht so schnell sichtbar. Was ich jedoch bereits sehe, ist eine positive Veränderung der Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine. Ich sehe, dass die Gespräche, Fortbildungen und Schulungen Früchte tragen. Und klar: Die Ermittlungsarbeiten basieren (noch) auf Hoffnung. Doch ich bin der festen Überzeugung: In einigen Jahren werden wir Generäle und vielleicht auch Politiker aus Moskau auf der Anklagebank sitzen haben.

Herzlichen Dank für das eindrückliche Gespräch!
Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO.

Erik Händeler

Wirtschaftsforscher fragt: Rettet uns die KI aus der Wirtschaftskrise?

Die deutsche Wirtschaft ist in den letzten beiden Jahren geschrumpft. Wirtschaftsforscher Erik Händeler spricht im Interview über die Gründe und zeigt einen Weg aus der Krise. Künstliche Intelligenz sieht er dabei nicht als Heilsbringer.

Herr Händeler, was ist der Grund für die Wirtschaftskrise?

Es scheint dafür viele Gründe zu geben, doch ich sehe eine Kernursache: Die Zeit ist vorbei, in der uns Computer in einem so großen Stil Kosten senkten und insgesamt produktiver machten wie zwischen den 90er- und den 2010er-Jahren. Das ist kein deutsches Problem – alle Volkswirtschaften geraten unter Druck und wachsen nicht mehr so stark wie früher, siehe China. Historisch ist das ganz normal. Es gibt einfach Zeiten, in denen eine Wirtschaft sehr stark wächst, weil eine grundlegende Erfindung wie die Dampfmaschine, Eisenbahn oder zuletzt eben der Computer uns produktiver macht. Wenn die sich weitgehend ausgebreitet haben, dann schmilzt die Gewinnmarge gegen null, Mitarbeiter und Zulieferer werden ausgequetscht. Es gibt Verteilungskämpfe und der Außenhandel wird erschwert. Solche 40 bis 60 Jahre langen Strukturzyklen sind nach dem russischen Ökonomen Nikolai Kondratieff benannt. In den langen Aufschwüngen wird alles liberaler, man kann es sich leisten, Neues auszuprobieren, die Handelsgrenzen werden geöffnet. Wenn die Produktivität aber stagniert, dann geht das alles rückwärts.

Aber stehen wir nicht vor einem großen Aufschwung durch Künstliche Intelligenz?

Wo KI selbstfahrende Logistikroboter in der Produktion unterstützt, wo sie Kundenverhalten analysiert und die Bestellung vorbereitet, wo sie schneller Daten analysiert – überall da steigert sie die Produktivität. Aber wer stellt der KI die Fragen? Wer füttert sie mit welchen Daten? Wer bestimmt, welchen Output wir davon verwerten? Die wichtigste Folge der KI ist doch eine andere als bisher: Die Maschinen übernehmen den Großteil der materiellen Produktion und KI verrichtet die Arbeit mit strukturiertem Wissen – was bleibt für uns an Arbeit übrig? Dass wir uns streiten: über die Ziele, über die Verwendung der Ressourcen, über die Wege zu Lösungen. Neulich meinte ein KI-Redner, seine Kinder müssten doch in der Schule kein Fachwissen mehr lernen, weil die KI in Zukunft alles wisse. Der soll mal einen Wissenschafts-Kongress besuchen: Fachleute streiten über Theorien und die Interpretation von Wirklichkeit. Das kann uns keine KI abnehmen.

Wie kommen wir aus der Krise heraus?

Bisher haben wir mit technischen Innovationen die materiellen und energetischen Arbeitsprozesse produktiver gemacht. Doch was jetzt an Arbeit wächst, ist Arbeit am Menschen und das Anwenden von Wissen: beraten, Probleme lösen, unterschiedliche Interessen und Kompetenzen zusammenbringen. Was uns Technik noch an Fortschritt bringt, wird im Arbeitsalltag längst aufgefressen von schlechter Kommunikation, egoistischem Verhalten und einer unproduktiven Art zu streiten. Der entscheidende Unterschied wird die Fähigkeit der Menschen vor Ort sein, mit Wissen umzugehen. Und das meint den Umgang mit anderen Menschen, die ich unterschiedlich gerne mag und kenne, und mit denen ich berechtigte Interessenskonflikte habe. Wer das am produktivsten hinbekommt, der überlebt am Markt und schafft mit der wirtschaftlichen auch eine neue politische Stabilität.

Was bedeutet die Krise für den Wohlstand in Deutschland?

Dass die Amerikaner uns mit ihrem teuren Militärapparat absichern, die Russen billige Energie liefern und die Chinesen unsere Autos in Masse abkaufen – das ist vorbei. Weil unsere Vorteile wegfallen, trifft uns die Krise zunächst stärker. Auf der anderen Seite sind wir nicht so gruppenethisch wie die meisten anderen Regionen dieser Welt, und nicht so individualistisch wie die Amerikaner. Die Balance zu finden zwischen Individualismus und Gemeinwohl: Das könnten wir von unserer Geistesgeschichte her mit am besten hinbekommen.

Wie würden Sie Wohlstand definieren?

Da gibt es aufeinander aufbauende Schichten. Zuerst die Grundbedürfnisse, wie Nahrung und Unterkunft. Dann Mobilität: Ein Land ist nicht dann reich, wenn auch die Unterschicht sich noch einen Gebrauchtwagen leisten kann, sondern dann, wenn auch die Reichen Bus und Bahn fahren, weil das Netz so gut ausgebaut ist. Danach kommt Bildung, und die bringt irgendwann auch individuelle Freiheit. Man braucht sich nicht mehr seiner Dorfgemeinschaft, seiner Religion oder Großfamilie zu fügen, sondern man trifft Leute, die dieselben Interessen und Ideen haben. Wir hatten die vergangenen 50 Jahre auch deswegen so ein starkes Wohlstandswachstum, weil wir mehr individuelle Freiheit hatten. Doch jetzt kommen wir in eine Zeit, in der noch mehr Individualismus nicht noch mehr Wohlstand bringt. Zwar brauchen wir den Menschen, der seine Gaben frei entfalten kann. Aber eben nicht mehr für seine Kostenstelle und seine Karriere, sondern für das Gelingen des Gesamtprojektes. Statt ein dickes Auto und eine Villa mit Pool ist Wohlstand jetzt: Gesundheit, Kontakte und Beziehungen, eine intensiv erlebte, erfüllte Zeit, Zeit für Reflexion. Wir haben es zunehmend mit immateriellen Gütern zu tun.

Welche Verbindung gibt es zwischen Wirtschaft und Religion?

Was wir in unseren Köpfen an Vorstellungen haben, was in unserem Leben wichtig und wünschenswert ist, das hängt von den vorherrschenden Religionen, säkular von den Weltanschauungen ab. Nur eine Haltung, die anderen Menschen dieselbe Würde zumisst, führt zu einem Verhalten, in dem ich Informationen ehrlich und transparent weitergebe, das Gesamtprojekt und nicht meine Eigennutzen verfolge, fair um bessere Lösungen ringe. Das Christentum ist der realen Welt zugewandt, deswegen hat sie die Krankenpflege gebracht, das Mitleiden mit anderen, die Suche nach den Gesetzen Gottes in der Schöpfung, Bildung. Das Himmelreich kann sich zwar keiner verdienen, aber es ist wichtig, wie man in diesen vielschichtigen Beziehungen lebt, wie fair man streitet, wie sehr man egoistische Ziele verfolgt oder aber das Recht des anderen achtet.

Was ist für den Arbeitsmarkt wichtig? Wer wird in Zukunft erfolgreich sein?

Es geht um den produktiven Umgang mit Wissen: Erfolgreich werden die Leute sein, die in ihrer Kommunikation produktiv sind, die sich vernetzen können, die schnell Chancen entdecken und verstehen, wie es dem anderen geht, die fair streiten und auf unterschiedliche Persönlichkeitstypen eingehen können – egal, in welcher Branche sie sind. Der Computer-Chip ist beispielsweise eine Querschnitttechnologie, die in allen Branchen bis heute auftaucht, ob in der Küchenwaage, dem Schweißroboter oder dem Textverarbeitungs-Notebook. So ist die Fähigkeit, zu kooperieren und produktiv mit Wissen umzugehen, auch eine Querschnitttechnologie, um zukünftig auf dem Arbeitsmarkt weiterzukommen. Das ist eine neue Anforderung, die ganz große Fragen an den Einzelnen stellt, an welche Werte er glaubt. Und wir antworten darauf mit unserem Leben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Tim Bergen führte das Interview. Er ist Volontär des Männermagazins MOVO und des Nachrichtenportals jesus.de.

 

Erik Händeler, *1969, ist als Buchautor und Zukunftsforscher vor allem Spezialist für die Kondratieff-Theorie der langen Strukturzyklen. Nach einem Tageszeitungsvolontariat und der Tätigkeit als Stadtredakteur in Ingolstadt studierte er in München Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik. 1997 wurde er freier Wirtschaftsjournalist und Speaker. Er schrieb mehrere Bücher, darunter: »Die Geschichte der Zukunft – Sozialverhalten heute und der Wohlstand von morgen.«

SET KinderOper mit Rainer Mühlbach

Den Taktstock schwingen – so leicht wie es aussieht?

Dirigent Rainer Mühlbach zeigt, dass sein Job mehr ist, als mit den Armen herumzufuchteln. Es ist eine hohe Kunst, harte Arbeit und viel Gespräch.

Von Sven-Erik Tornow

Hand aufs Herz: Wer von uns stand nicht schon mal als Kind vor dem Lautsprecher und hat dirigiert? Die kleinen Ärmchen schwangen im Rhythmus in der Luft. Wir fühlten uns großartig. Aber nur die wenigsten von uns wollten später tatsächlich Dirigent werden. Umgekehrt überlebte der Wunsch, den Takt anzugeben, bei den meisten von uns. Dabei ist der Alltag eines Dirigenten weit mehr als das, wie mich die Begegnung mit Rainer Mühlbach, dem Leiter des Internationalen Opernstudios der Oper Köln sowie dem Musikalischen Leiter der Kinderoper Köln, lehrte.

Pünktlichkeit ist gefragt

Schon einen passenden Termin zu finden für die Stippvisite im Berufsleben des Familienvaters, war nicht so einfach. Spielzeiten, Proben und ein passendes Stück mussten abgestimmt werden. Im Oktober war es endlich so weit. Die Wiederaufnahme der Kinderoper „Die Bremer Stadtmusikanten“ stand auf dem Plan. „Wiederaufnahme heißt, wir haben das Stück bereits im Programm gehabt“, erklärt Rainer. Wir treffen uns auf dem Parkplatz direkt vor dem Bühneneingang des Ausweichquartiers der Kinderoper. Die ist, wie die ausgewachsene Oper, ins Staatenhaus gezogen, da das Gebäude am Offenbachplatz seit Jahren saniert wird. Rainer ist wie immer mit dem Rad unterwegs und kommt kurz vor unserem Termin an. „Pünktlichkeit ist wichtig“, hatte er mir vorher eingebläut. „Wer spätestens 15 Minuten vor Probenbeginn nicht da ist, wird angerufen. Denn schließlich ist man aufeinander angewiesen.“

Brigitta Gillessen, eine Kollegin von Rainer, lotst mich am Pförtner vorbei in den unspektakulären Hinterbühnenbereich. Im Ausweichquartier ist alles provisorisch. Denn man wartet und hofft auf den Umzug ins angestammte Haus in der Kölner Innenstadt. Container reihen sich aneinander, dazwischen breite Gänge. Durch offene Türen erhasche ich einen Blick auf Kostüme, Requisiten und ein Büro. Schon geht es treppauf in den eigentlichen „Bühnenraum“. Noch erhellen die Neonröhren an der Saaldecke die Szene: Bühne und Zuschauerraum sind in die viel größere Halle hineingesetzt. Begrenzt von schwarzen Wänden. Die MusikerInnen des Orchesters stimmen ihre Instrumente, im Hintergrund höre ich das typische Trällern einer sich einsingenden Darstellerin. Das Technikpult am hinteren Ende der tribünenartig ansteigenden Sitzreihen ist besetzt. In der szenischen Probe mit Orchester sollen auch alle Licht- und Bühneneffekte geübt werden.

„Talent ist gut. Übung ist besser. Sein Können auf der Bühne im Zusammenspiel mit dem gesamten Ensemble umzusetzen, ist das Beste“

Rainer Mühlbach

„Bis es zu solchen gemeinsamen Proben kommt, ist schon sehr viel Arbeit getan“, weiht mich Rainer in der späteren Mittagspause ein. „Einzelproben mit den Sängerinnen und Sängern, Orchesterproben ohne Gesang, szenische Proben ohne Orchester.“ Jede Rolle ist mehrfach besetzt. Ein Großteil der DarstellerInnen der Kinderoper ist im Opernstudio unter Vertrag. Das ist gewissermaßen die Talentschmiede der Kölner Oper. Manche haben ihr Studium noch nicht beendet oder setzen es in Köln fort. Andere sind bereits mit ihrer Hochschulausbildung durch. Allen gemeinsam ist, dass sie über das Opernstudio erste Bühnenerfahrung sammeln können. Und dass sie ganz individuell von Rainer betreut und geschult werden. Einige schaffen es später auch ins Ensemble der Kölner Oper. Oder erhalten ein Engagement an einem anderen Haus. „Talent ist gut. Übung ist besser. Sein Können auf der Bühne im Zusammenspiel mit dem gesamten Ensemble umzusetzen, ist das Beste“, macht Rainer deutlich.

Alles hört auf sein Kommando

Einige Musiker bekommen von den Orchesterwarten schnell noch LED-Pultleuchten, damit sie ihre Noten lesen können, nachdem die Neonlichter ausgegangen sind. Die Bühne erstrahlt im Aufführungslicht, der Saal hüllt sich in Schwarz. Rainer steht am Pult, die Partitur vor sich. Eng beschrieben sind die Doppelseiten, alle Stimmen des Orchesters sind hier notiert. Sein Taktstock hat am Griffende eine murmelgroße Korkkugel. Damit liegt er besser in der Hand. Endlich startet die erste Szene, noch ohne Musik. Der Darsteller des Esels spricht mit Rainer, die Grenze zwischen Bühne, Orchester und Publikum wird durchbrochen. Kurz bevor das Orchester einsetzt, hebt Rainer seinen Taktstock. Dann wird der Saal mit Musik erfüllt. Gesang kommt hinzu, das Stück nimmt seinen Lauf.

Plötzlich bricht Rainer ab. Etwas passt nicht. Ich habe nichts Falsches gehört, er schon. Darüber spreche ich später mit ihm. Jetzt gibt er erst einmal Anweisungen, er erklärt, worum es ihm geht. Mal passt der Rhythmus nicht, mal der musikalische Ausdruck. Im Laufe der Probe gibt es immer wieder solche Unterbrechungen – klar, ist ja auch eine Probe. Rainer spricht ruhig und entspannt mit den MusikerInnen und SängerInnen. Korrigiert auch eine Phrase, die man in der Orchesterprobe bisher anders einstudiert hatte. Ein paar Mal singt er auch die aus seinem Verständnis richtige Version vor. Dann gibt Rainer die Taktzahl an, an der Orchester und SängerInnen einsetzen sollen. Sein Taktstock gibt mal den Rhythmus vor, mal den Einsatz. Aber dirigiert wird mit beiden Händen. Alle hören auf Rainers Kommandos, die sich gar nicht wie Kommandos anhören.

„Mit der Routine kommt die Sicherheit. Und mit der Sicherheit erweitert sich der Raum für die künstlerische Interpretation.“

Rainer Mühlbach

In der Probenpause werden einige Details noch einmal angesprochen. Und während Rainer sich mit mir unterhält, gesellt sich einer der Sänger zu uns. Ein gebürtiger Ire, der im Stück den Hund verkörpert. Er und Rainer sprechen Englisch miteinander. Sie vereinbaren einen Probentermin für später. „Er ist auch im Opernstudio“, sagt Rainer. „Wir werden noch mal ein paar Dinge nacharbeiten.“ Was für mich so spielerisch einfach aussieht, ist letztlich harte Arbeit. In der Probe sind alle hoch konzentriert. Wird eine Szene wiederholt, sind alle Abläufe auch zu wiederholen. „Es ist spannend zu beobachten, wie sich ein Stück im Laufe der zahlreichen Aufführungen auch verändert. Mit der Routine kommt die Sicherheit. Und mit der Sicherheit erweitert sich der Raum für die künstlerische Interpretation“, weiß Rainer aus seiner 14-jährigen Erfahrung an der Kölner Oper.

Kinder für die Kunst gewinnen

Gleich mehrmals wird Rainer als Darsteller in das Stück eingebunden. Hilft, ein Schild aufzuhängen oder sitzt mit den vier Tieren an der Bühnenkante. Auch das Publikum, also die Kinder, werden in die Handlung einbezogen. Ich staune über die spielerische Art, wie Kinder an klassische Musik, an Operngesang und szenische Dialoge herangeführt werden. Bei mir springt der Funke auch über. Obwohl es nur eine Probe ist. Zum Schluss ist auch mein Rat gefragt. Es geht darum, ob den Kindern eine Frage gestellt werden soll oder nicht. Häufig antworten die intuitiv, aber nicht so wie erhofft. Gemeinsam finden wir eine Lösung, die ausprobiert werden soll. Während wir noch diskutieren, haben die Musiker ihre Instrumente eingepackt. Der neonbeleuchtete Saal leert sich, der Zauber ist vorbei. Bühnenarbeiter räumen auf. Für die kommende Probe muss alles wieder auf Anfang.

Rainer und ich gehen in die Kantine. „Für viele der schönste Raum im Staatenhaus“, meint Rainer. Und beim Blick durch das große Bogenfenster auf den sonnenbeschienenen Tanzbrunnen kann ich nur zustimmen. Wir stellen uns an und treffen einige der SängerInnen wieder. Sie stärken sich auch mit dem täglich frisch und selbst gekochten Essen. Selbst als wir uns zum Gespräch etwas abseits setzen, werden wir immer wieder unterbrochen. Mal grüßt jemand, mal gibt es kurz etwas zu besprechen. Wie wird man denn Dirigent?, will ich jetzt wissen. Rainer erzählt, dass er in seiner Geburts- und Heimatstadt Dresden Klavier und Dirigieren an der Hochschule „Carl Maria von Weber“ studiert hat. 1988 führte ihn der Gewinn eines Förderpreises nicht nur nach Schleswig-Holstein, sondern auch in den Wirkungsbereich des weltberühmten Komponisten, Dirigenten und Pianisten Leonard Bernstein. Der hatte zugesagt, die Förderpreisträger in eine seiner Produktionen einzubinden. Daraus entwickelte sich eine Assistenz bei dem US-amerikanischen Dirigenten. Über Engagements an der Semperoper Dresden, dem Theater Basel, der Hamburgischen Staatsoper, dem Theater Bremen und der Stadt Münster gelangte Rainer schlussendlich nach Köln.

Es kommt darauf an, wie man den Takt angibt

Kein Wunder, dass er Fehler hört, die ich nicht einmal wahrnehme. In der Vorbereitung von Opern oder Konzerten setzt sich Rainer intensiv mit dem jeweiligen Werk auseinander. Am Ende kann er es sogar auswendig. Die Partitur ist dann nur noch eine Gedankenstütze für vereinbarte Akzente oder Interpretationen. Und doch ist es nicht nur das Hören, sondern auch die eigene Vorstellung von dem Werk im Rückbezug auf das, was der Komponist einst zum Ausdruck bringen wollte. Klingt nach sehr viel Kopfarbeit, ist aber mindestens genauso viel körperliche Arbeit. „Ein Dirigent gibt zwar den Takt vor, und sicher auch die Interpretation eines Stückes, aber er versteht es auch, die beteiligten MusikerInnen und SängerInnen mit ihren Stärken einzubeziehen. Einerseits gibt er den musikalischen Ton an, andererseits schafft er Raum für das Orchester und die DarstellerInnen.“

Am Ende dieses Besuches weiß ich: Dirigieren ist mehr, als mit den Armen herumzufuchteln. Und dass ein Taktstock höchstens die Luft „schlägt“, aber nicht die MusikerInnen. Jedenfalls ist das bei Rainer so. Er vermittelt klar und deutlich, aber nie entblößend oder verletzend. Er dirigiert mit einem hohen musikalischen Anspruch, aber nicht als Alleinherrscher mit Starallüren.

Sven-Erik Tornow arbeitet als Fachjournalist, Fotograf und Kommunikationsberater in Köln.  Neben seinem kirchlichen Engagement ist er ein begeisterter Langläufer, Leser, Cineast, Jazzliebhaber und Labradorbesitzer.

 

Förster Alexander Clauss

Förster Alexander Clauss: „Ich bin kein Knecht der Holzindustrie“

Der Förster aus dem Erzgebirge setzt sich in seinem Revier für die nachhaltige Nutzung des Waldes ein – mit Unternehmergeist und dem Herz eines Baumschützers.

Von Rüdiger Jope

Frische Luft. Blauer Himmel. Tauben gurren. Ich bin angekommen, in Eibenstock, im Erzgebirgskreis auf knapp 700 m Höhe. „Glück auf!“ Leicht sächselnd streckt mir Förster Alexander Clauss strahlend auf dem Parkplatz des Staatsbetriebes Sachsenforst seine Hand entgegen. Einen Augenblick später sitze ich mit einer Tasse „Gaffee“ in seinem Büro. Papierwild kommt der Schreibtisch daher. Über dem Beamten thronen Holzproben und Geweihe. Der 40-Jährige checkt gerade seine E-Mails.

Medizin Mischwald

Er ist zuständig für das Revier Schönheide, „eine Fläche von rund 3.000 Fußballfeldern“. Vom ersten Moment an spüre ich: Hier ist einer waldverliebt. Hier lebt einer seinen Job. Hier trägt einer mit Herzblut Sorge dafür, „dass die Enkel noch einen Wald haben“. Der Wald hat für ihn eine Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktion. Dafür kniet er sich rein. Sein Albtraum: „Ich komme in den Wald und entdecke 30 Bäume, die der Borkenkäfer befallen hat.“ Kahlschläge – wie sie derzeit deutschlandweit sichtbar sind – begegnen mir an diesem Tag nicht. Mit spürbarem Stolz in der Stimme erklärt mir der Förster: „Unser Team hat hier in den letzten Jahren einen wirklich exzellenten, gemeinschaftlichen Job gemacht. Befallene Bäume wurden sofort rausgemacht.“ Zudem setzte schon sein Vorgänger auf die „beste Medizin“, eine Mischung von Fichten, Buchen und Weißtannen. Diese Weitsicht zahlt sich jetzt im Klimawandel aus.

Der nagelneue VW ID schnurrt sich auf verschlungenen Wegen über bewaldete Hänge. Grün so weit das Auge blickt. Google Maps bleibt stumm. „Anfänger müssen hier noch Faltkarten nehmen. Selbst damit verfranzt du dich in dem Gewirr“, sagt’s, lacht und bringt das Auto vor einem Absperrband zum Stehen. „Baumfällarbeiten!“ Mit einem Helm und einer Weste in Orange nähern wir uns einem lärmenden „Computer auf Ketten“. Dann steht er vor uns: der Harvester. Kostenpunkt 750.000 Euro. Per Joystick sägt, packt und zerkleinert er scheinbar federleicht 150 Bäume an einem Tag, ersetzt damit die Arbeitskraft von zehn Waldarbeitern. „Glück auf!“ Alexander gibt der ehemaligen Konditorin die Hand, fragt nach: Wie geht’s dir? Die Schließung des Cafés während Corona spülte die junge Frau auf den Sitz des Ungetüms. Ich frage sie, was sie an diesem Job begeistert. „Ich bin den ganzen Tag draußen und kann mich hier selbst verwirklichen.“ Sie klettert hoch und lässt die Maschine wieder an.

Technik schützt Leben und erleichtert den Beruf

Auf dem Rückweg erzählt Alexander mir kopfschüttelnd von radikalen Umweltschützern, die diese Holzvollernter sabotieren. „Es ist Unsinn, den technischen Wandel zurückzudrehen. Der Harvester schützt das Leben der Menschen, die im Wald arbeiten!“ Clauss weist mich auf die weichen Spuren hin, die die breiten Ketten hinterlassen. Diese verhindern das Verdichten des Bodens. Wie zum Beweis huschen zwei Zauneidechsen vorbei. Wir stehen vor einem Holzhaufen. 60 Festmeter. Wert etwa 40.000 Euro. Nebenbei lerne ich, dass ein Festmeter Holz eine Masse von 1 x 1 x 1 m ohne Zwischenräume ist und ein Raummeter Holz in etwa 0,7 Festmetern Holz entspricht, sich also rund 30 % Luft in Form von Hohlräumen zwischen den Stämmen befinden. Mit Überzeugung setzt sich Alexander für nachhaltige Waldwirtschaft ein. Wenige Kilometer von hier erfand Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz vor über 300 Jahren diesen Ansatz. Die Gegend war fast baumlos. Ausgeblutet für Grubenholz, die Glasherstellung, das Verhütten des Eisenerzes. Carlowitz setzte auf eine nachhaltige Nutzung des Waldes. „Darum geht’s auch heute. Wir können nur so viel Holz ernten, wie nachwächst“, so Clauss.

„Glück auf!“, grüßt uns der große Schwibbogen am Dorfrand. Wir sind unterwegs zu Alexanders Lieblingsgebiet „Kuhberg“. Er hat sein Revier in fünf Tortenstücke aufgeteilt. Jedes Jahr widmet er sich einem Abschnitt. Menschen sollen sich in den Ökosystemen wohlfühlen. Dafür hat er im Winter einen alten zugeschlammten Tümpel, der früher die Wernesgrüner Brauerei mit Wasser versorgte, wieder hübsch gemacht. Neue Sitzbänke laden zum Verweilen ein. Rechts des Weges hat er eine Heckenrose und zwei Apfelbäume gepflanzt. Ein kleiner Hochstand für Kinder, von dem es Wildtiere zu entdecken gibt, verrät mir: Hier macht jemand nicht nur Dienst nach Vorschrift, hier kämpft sich auch einer durch den Dschungel an Förder- und Beschaffungsanträgen. Alexander reicht mir die Nadeln einer Douglasie. Sie gilt als ein widerstandsfähiger Zukunftsbaum. „Zerreib sie mal!“ Es duftet nach Zitrone. Im Gegensatz zur Weißtanne. Deren zerdrückte Nadeln riechen nach Orange. Dann nähern wir uns einer grauen Borkenkäferfalle. Etwa 1.000 „Buchdrucker“ wimmeln in ihr. Alex ist beruhigt. „Ab 40.000 Insekten müsste ich mir Sorgen machen“, sagt er, kippt sie in einen Eimer und schiebt nach, dass der Mischwald die „beste Medizin gegen Schädlinge und den Klimawandel“ sei.

„Ich bin kein Knecht der Holzindustrie, will aber aus jedem Euro Steuermittel, die hier investiert werden, zehn Euro Wertschöpfung hervorbringen.“

Alexander Clauss

Geburtsort des „Glück auf!“-Rufes

„Glück auf!“, „Glück auf!“, „Glück auf!“ schlägt es uns im Imbiss von allen Seiten freundlich entgegen. Wir setzen uns mit den goldgelben, knusprigen Pommes in den Schatten. „Ich dachte eigentlich, dass das ‚Glück auf!‘ nur ein Gruß im Ruhrgebiet ist.“ Alexander lacht und doziert. „Nein! Dieser Gruß wurde vom Erzgebirge in den Westen exportiert!“ Ich lerne in der Mittagspause: Eibenstock ist der Geburtsort dieses Rufes. Das schlägt sich sichtbar nieder: „Glück auf!“-Oberschule, „Glück auf!“-Aussichtsturm, „Glück auf!“-Pizzeria.

Alexander hat sich einen Gürtel mit Astsäge und Sprühdosen umgehängt. Er grinst. „Ich bin kein Knecht der Holzindustrie, will aber aus jedem Euro Steuermittel, die hier investiert werden, zehn Euro Wertschöpfung hervorbringen.“ Clauss hat das Gen eines Unternehmers und das Herz eines Baumschützers. Wir stapfen durch einen Lärchenwald. Alexander hantiert mit Farben. Er sprüht einen gelben Ring aufs Holz. Das ist Zukunftskapital, wertvoll, ohne Äste. Harzende oder von Pilzen befallene Stämme werden als Winterfutter für den Harvester mit einem orangenen Kreuz gezeichnet. Ein schräger Strich zeigt an: Dieser Baum wird in zwei Metern Höhe abgesägt und dient dann als Wohnort für Spechte und Ameisen. Alexander ringt um jedes einzelne Gewächs. Er prüft die Stämme, schaut in die Kronen, kratzt Flechten – ein Zeichen für sehr gute Luft – von der Rinde. Auf seinem Smartphone hält er fest, wo Waldarbeiter neue Bäume pflanzen sollen. „An diese lichte Stelle passt ein Feldahorn, in den Schatten gehört eine Tanne.“ Auf einer Lichtung entdecken wir das seltene Bärlapp. Plötzlich stehen wir vor einer alten, großen Fichte. Durchmesser 60 cm. Das Schmuckstück nötigt uns Ehrfurcht ab. „Die wird auch für viel Geld nicht von mir gefällt! Das ist ein Samen- und Lebensträger“, flüstert Alexander. An diesem Arbeitsplatz wird in Generationszyklen gedacht, gelebt und gearbeitet, denn Bäume säen sich erst nach fünfzig Jahren von selbst aus. Pro Jahr werden hier 40.000 Bäume entnommen, 30.000 bis 50.000 Setzlinge neu gepflanzt. Eine echte Mammutaufgabe verbunden mit Mückenstichen, Zeckenbissen und viel Schweiß.

Waidmannsheil!

Später Nachmittag. „Glück auf!“ Zwölf Jäger begrüßen sich am Waldrand in einer Runde zur Ansitzjagd. Während der Forstbezirksleiter eine Sicherheitsbelehrung gibt, auf die erfolgreiche Ansiedlung von vier Luchsen und deren striktes Abschussverbot verweist, prescht ein dunkler VW-Bus über den Schotter. Förster Clauss tritt ihm in den Weg, spricht den Fahrer freundlich auf das Fahrverbot im Wald an. „Ich erlasse Ihnen die 35-Euro-Strafe, wenn Sie umkehren.“ Er reagiert patzig, weigert sich, seine Papiere zu zeigen. Alexander fotografiert das Kennzeichen, sein Vorgesetzter tritt herzu. Dem Mann brennen die Sicherungen durch. Der Motor heult auf, die beiden treten zur Seite. Die Strafe fürs Abkürzen wird zusätzlich eine Anzeige der Nötigung nach sich ziehen.

„Waidmannsheil!“ Wir haben den Hochsitz erklommen. Flüstern. Die Waffe ist geladen. Das Zielfernrohr montiert. Alexander knabbert noch an dem Vorfall. Als Förster ist er auch Polizist. Wenige Monate vorher wurde er im Beisein seiner Kinder aus dem Haus geklingelt und von einem Uneinsichtigen bedroht. An den Tränen seiner Tochter kaut er lange.

Warten. Flüstern. Kleine Bäume kommen hier im Forstbezirk ohne Zäune und Plastikschutz aus. „Mein Chef sagt, das sieht dann aus wie ein Soldatenfriedhof.“ Lachen. „Wir setzen hier auf konsequente Jagdpolitik“, so der 40-Jährige. Ich hake leise nach. „Wie vereinbarst du das Töten mit deinem Christsein?“ Alexander ist wach. Es ist ein Schöpfungsauftrag. „Wir haben die Natur zu bewahren. Die Jagd ist nötig, weil das Wild keine natürlichen Feinde mehr hat. Wir sitzen hier, um den Wald für die Menschen zu bewahren. Tiere schießen ist nicht schön, daher ist es auch notwendig, dass ich das Tier möglichst genau ins Herz treffe.“ Eine SMS verrät dem Förster: Sein Berufsanfänger im Anerkennungsjahr hat zwei Böcke geschossen. In der Schonung, wo er mir am Nachmittag den Wildverbiss gezeigt hat.

Wir warten. „Hat ein Förster eigentlich auch Hobbys?“ Langes Schweigen. „Die letzten zehn Jahre habe ich unseren 200 Jahre alten Hof umgebaut, bin Vater von drei kleinen Kindern …“ Alexander schaut durchs Nachtsichtgerät. Durchs Jagdhornblasen ist er zum Posaunenchor der evangelischen Kirche gekommen, wird vom sonntäglichen Gottesdienstbesucher zum Mitarbeiter. In dieser „coolen Gemeinschaft“ ist alle politische Couleur vertreten. „Wir sagen uns gegenseitig die Meinung, halten aber zusammen.“

Traumjob

Ein Eichelhäher flattert vorbei. Der Wind frischt auf, weht uns die kalte Abendluft in die Gesichter. „Würdest du nochmals diesen Beruf erlernen?“ Ich schaue in ein strahlendes Gesicht. „Unbedingt! Förster ist mein Traumberuf. Ich finde es unglaublich spannend und beglückend, in Gottes Schöpfung arbeiten zu dürfen, für andere den Wald in seinen ganzen Facetten erhalten zu dürfen.“ 21:35 Uhr. Wir warten immer noch. Kein Wild tritt auf die Lichtung. Der Hintern schmerzt. Es ist dunkel im Wald. Wir packen zusammen. „Glück auf!“

 

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO.

Ketten und Hände

Verurteilt und doch frei?

Rückblick: Wir schreiben das Jahr 1992. Heiko Bauder verwundet bei der Bundeswehr einen jungen Kameraden tödlich. Im Interview berichtet er über seinen Weg zurück ins Leben und wie er ein freier Mensch wurde.

Herr Bauder, der Unfall bei der Bundeswehr ist inzwischen über 30 Jahre her. Wie oft werden Sie noch auf den Vorfall angesprochen?

Von meinem direkten Umfeld eigentlich gar nicht, das hat dort schon lange aufgehört. Allerdings ist es auch so, dass ich damit nicht hausieren gegangen bin. Wenn jemand mich gefragt oder mich näher kennengelernt hat, dann habe ich das schon erzählt, aber dass jetzt jemand von sich aus auf mich zugekommen ist, ist eher nicht vorgekommen.

Was war der Schlüssel, um mit diesem Erlebnis abzuschließen?

Ich würde sagen, dass es nie ganz abgeschlossen sein wird. Es wird immer noch offene Fragen geben. Am Ende geht es um ein Menschenleben, und die Frage bleibt, welchen oder ob das überhaupt einen Sinn hatte. Die Frage steht für mich noch offen. Das klingt erst mal merkwürdig, aber diese Fragen haben mich im Glauben gehalten, weil ich von Gott wissen wollte: Was soll das? Ich glaube, die Fragen nehme ich am Ende mit in den Himmel. Ich hoffe, dass es dort Antworten darauf geben wird. Ein Schlüssel in der Akutphase war auf jeden Fall Pfarrer Langer, der mich begleitet hat. Er hat diese anfängliche Verzweiflung sehr gut aufgefangen und hat mich ins Leben zurückgeholt.

„Ich bin zwar verurteilt worden, aber ich konnte vor mir selbst geradestehen, weil ich mir bewusst war, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.“ Heiko Bauder

Sie schreiben, dass Sie den Gerichtssaal trotz Verurteilung als freier Mensch verließen. Was meinen Sie damit?

Ich hatte ja im Buch beschrieben, dass ich entgegen der Maßgabe meines Rechtsanwalts bei dem geblieben bin, was ich in der Vernehmung gesagt hatte. Das war für mich in dem Sinne Befreiung. Ich bin zwar verurteilt worden, aber ich konnte vor mir selbst geradestehen, weil ich mir bewusst war, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Das war für mich eine innerliche Freiheit. Ich habe ein Strafmaß bekommen, das ich auch so akzeptiert habe, weil ich mir bewusst war, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich konnte aber in dem Gefühl, die Wahrheit gesagt zu haben, als „freier Mann“ den Gerichtssaal verlassen.

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Wenn wir es schaffen, aus dem Warum ein Wozu zu machen, bekommt das, was wir erlebt haben, eine neue Perspektive.“ Was hat das für Sie persönlich verändert?

Die Frage nach dem Warum hat mich irgendwann an den Punkt gebracht, dass ich immer nur nach hinten geschaut habe – also immer nur in die Vergangenheit. Daran kann ich nichts mehr ändern, egal, wie emotional aufgewühlt und laut ich nach dem Warum schreie. Ich bekomme darauf einfach keine Antwort, weil das Dinge sind, die waren, und ich kann sie nicht mehr beeinflussen. Irgendwann stellte ich mir die Frage: Wie kann ich mit dem, was passiert ist, in die Zukunft gehen? Dann kam mir plötzlich der Gedanke: Jetzt kann ich an der Vergangenheit nichts mehr ändern, aber ich kann die Zukunft gestalten. Wenn man dann auf die persönlichen Katastrophen zurückblickt, stellt man irgendwann auch mal fest, dass man Resilienz entwickelt hat. Das ist auch eine Stärke für mich und so dann wiederum auch für andere hilfreich.

All die Schicksalsschläge, die Sie erlebt haben, hätten laut Ihrer Aussage das Potenzial gehabt, Sie zu zerstören. Haben die Erlebnisse dazu geführt?

Nein, definitiv nicht. Sonst wäre ich heute nicht hier. Es kam nicht dazu, weil ich ganz tief drin Gott nie verlassen hatte. Ich wollte das damals nach der Bundeswehr tun, aber ich konnte es nicht. Mir war die Zunge festgenagelt. Ich konnte Gott nicht absagen. Ich hatte mich einige Jahre vor dem Unfall bei der Bundeswehr für Jesus entschieden und er hatte seinen Teil des Versprechens immer eingehalten. Sein Tod am Kreuz war für mich felsenfest versiegelt. Das hat mich getragen. Egal, in welches Loch wir als Familie gefallen sind, wir sind immer wieder in Gottes Hände gefallen – das ist jetzt keine Floskel, es war und ist tatsächlich so.

In so mancher Situation fragt man sich schon: Das kann doch alles nicht wahr sein, warum? Warum trifft es immer uns? Und dann klagt man Gott auch wieder an, aber im Rückblick sieht man dort auch die Segnungen. Dann sieht man die Menschen, die plötzlich da waren und geholfen haben, wie damals der Pfarrer Langer – Leute, mit denen man gar nicht gerechnet hat. Die haben mich und uns eine Zeit lang begleitet und sind dann vielleicht auch wieder weg gewesen – wie Lichtstrahlen, die an einem vorübergehen, in denen Gott sich zeigt und sagt: Ich bin da.

Sind Sie jetzt froh darüber, das Buch geschrieben zu haben?

Ja, absolut. Ich hatte schon so viele Rückmeldungen, die unendlich positiv waren. Viele Menschen haben mir gesagt: „Das war so wichtig, dass du das Buch geschrieben hast, genau das haben wir gebraucht.“ Das hat mir gezeigt, dass dieses Thema Schuld viel größeren Raum einnimmt, aber sich auch niemand traut, wirklich darüber zu reden. Ich bin regional bei einigen Lesungen gewesen und das war wirklich phänomenal, was da zurückkam.

Hat sich die Familie Ihres damaligen Kameraden auf das Buch hin nochmal gemeldet?

Ich durfte mich nochmal mit der Familie treffen. Es ging um Persönlichkeitsrechte im Buch. Ich glaube, dass es für beide Seiten nochmal ein sehr wichtiger Punkt und kein Zufall war.

Sie haben geschildert, dass Sie lange nach dem Unfall bei der Bundeswehr nicht so richtig lachen konnten. Später haben Sie weitere Schicksalsschläge und noch eine Verurteilung aufgrund eines Autounfalls erlebt. Würden Sie sagen, dass Sie heute wirklich wieder befreit lachen können?

Ja, definitiv. Ich bin ein sehr lebensbejahender Mensch, das war ich schon immer. Ich kann mich wieder am Leben freuen und bin voller Tatendrang. Ich habe schon oft gedacht: Ich bin jetzt 53 Jahre alt, aber habe noch so viele Ideen im Kopf – ich müsste nochmal 30 Jahre alt sein.

 

Heiko Bauder (Jg. 1971) lebt in einer kleinen Gemeinde am Fuße der Schwäbischen Alb. Beruflich arbeitet er als Ausbilder angehender Industriemechaniker.  Im Buch „Mein Gott, warum?“ beschreibt er seinen Umgang mit Schuld.

Tim Bergen führte das Interview. Er ist Volontär des Männermagazins MOVO und des Nachrichtenportals Jesus.de.

Hebamme

Allein unter Frauen: Hebamme, 33, männlich

Kilian Lanig selbst hat keine Kinder, war aber schon bei etlichen Geburten dabei. Er ist Hebamme, eine von nur rund 50 männlichen in ganz Deutschland.

Von Nathanael Ullmann

Mittwochabend gegen 18 Uhr. Im Stützpunkt, dem Hebammen-Dienstraum des Uniklinikums Essen, herrscht Pausenstimmung. Kilian Lanig klönt mit einer Kollegin darüber, wie ihr Job ihnen keine Zeit für feste Hobbys lässt. Plötzlich gellt ein Schrei über den Flur: „Kilian!“ Ohne ein weiteres Wort springt er auf, rennt in Kreißsaal 2. Minuten der Unruhe. Dann drückt irgendwer den roten Knopf in der Mitte des Flures. „Das ist so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann“, raunt eine Kollegin.

Wenige Stunden früher, bei Dienstbeginn um 14 Uhr, weiß Kilian Lanig noch nicht, wie stressig sein Tag heute werden wird. Der 33-Jährige würde in einem Fitnessstudio nicht weiter auffallen. Haar und Bart trägt er kurz. Die fehlenden Zentimeter Körpergröße macht er durch die kräftigen Arme wieder wett. Was ihn zum Medienstar macht, ist sein Beruf: Er ist Hebamme. Und damit ein echtes Unikat. Gerade einmal 0,2 Prozent aller Hebammen in Deutschland sind männlich.

Allein mit sechs Frauen

Gerade sitzt Lanig im Hebammen-Stützpunkt des Kreißsaals im Essener Universitätsklinikum. Der Stützpunkt ist der Dreh- und Angelpunkt der Station. Bildschirme hängen überall an den Wänden, darauf etliche Graphen und Sperrbildschirme. Ein Schiebefenster dient als Rezeption. An der Rückwand hängt eine Plexiglasscheibe. Mit Filzstift haben die Mitarbeitenden hier die Daten der Patientinnen eingetragen: Alter, Schwangerschaftsmonat, verabreichte Medikamente und mehr. Eine glückliche Mutter hat als Dankeschön Muffins fürs Personal auf den Tisch gestellt. Ballende Hitze drückt durch die Fenster.

Mit Lanig sitzen sechs Frauen im Raum. Die Besprechung zum Dienstwechsel steht an. Im Schnelldurchlauf gehen die Anwesenden die werdenden Mütter durch. Für den Laien ist das Kauderwelsch. Von Simslage, RFI und präexistentem Hypertonus ist da die Rede. Der 33-Jährige nickt wissend.

80 Bewerbungen bis zum Ausbildungsplatz

Um seinen Beruf ausüben zu können, war es ein langer Weg. Eigentlich möchte Lanig die Praxis seines Vaters übernehmen. Vier Jahre lang studiert er Humanmedizin in Ungarn und der Slowakei. Zurück in Deutschland wird sein Studium nicht anerkannt. Er absolviert eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Auf der Wochenbettstation merkt er: Das ist seine Berufung. Also bewirbt er sich initiativ an Hebammenschulen. Über 80 Bewerbungen schreibt er, bis er in Bochum einen Platz erhält. Nun ist er seit einem Jahr voll examiniert. Er arbeitet selbstständig – aber fest mit der Uniklinik zusammen.

Der Weg hat sich gelohnt. Hier kann er Familien bei einer der wichtigsten Lebensphasen begleiten: „Da ist genau der Scheidepunkt“, sagt er. Denn nach einer Geburt sei nichts mehr so wie vorher. In seinem Job prägt er Familien für ein Leben.

Von Geburten scheint der heutige Tag allerdings weit entfernt zu sein. Lanigs Aufgaben bestehen erst einmal darin, Kardiotokografien, kurz CTGs, durchzuführen. Bei dem Verfahren misst er den Puls der Frau, den Puls des Kindes und die Wehentätigkeit. Das CTG-Zimmer liegt schräg gegenüber dem Stützpunkt. Der kleine Raum ist mit Ledersesseln und Liege rudimentär eingerichtet. Es riecht – wie überall sonst im Krankenhaus – nach Desinfektionsmittel. Hier versorgt Lanig die ersten Frauen. „Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“, fragt er – und legt mit gezielten Handgriffen die Sensoren auf den Bauch auf. Routine. Auch für die Frauen, die vor der Geburt regelmäßig zu der Untersuchung müssen.

Immer wieder steuert er zwischen den Visiten den Stützpunkt an. Hier dokumentiert er, welche Auffälligkeiten sich bei den Untersuchungen ergeben. Oder er quatscht mit den Kolleginnen. „Für uns ist das kein Unterschied, dass er ein Mann ist“, erzählt eine der Hebammen. Lanigs Geschlecht scheint auch bei den zu behandelnden Frauen keine Rolle zu spielen. Für Lanig ist das ein Erfolg: Er will einfach nur eine Hebamme sein und keinen Sonderstatus als Mann innehaben. Ein paar mehr seiner Art würde er sich in dem Beruf trotzdem wünschen. „Aber viele merken erst bei der Geburt ihres ersten Kindes, dass es diesen Job gibt. Und dann ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Umschulung.“

Zwischen Stress und Langeweile

Der Rhythmus im Kreißsaal ist außergewöhnlich. Immer wieder gibt es Phasen der Ruhe. Dann flirrt plötzlich die Luft. „Hier wird ein Arzt gebraucht“, heißt es dann im Flur. Wenige Minuten später ein erleichtertes: „Das Kind ist da!“ Mal hallen in den Fluren die Schreie der Mütter in Wehen wider. Mal ist es still. Geburten lassen sich eben nicht planen.

Kilian Lanig kennt auch andere Tage. Ganze Schichten hat er schon damit verbracht, bei einer Geburt zu unterstützen. Als Hebamme muss er darauf achten, dass sich Mutter und Kind so wohl wie möglich fühlen. Doppelte Verantwortung also. Auch zu den Vätern hat er oft einen besonderen Draht – ein Vorteil männlicher Hebammen. Er hat ein Auge darauf, dass das Kind weder zu langsam noch zu schnell den Weg nach draußen findet. Und er hat den Blick auf die Nachgeburt und die Nachblutungen. Wenn Schmerz sich in Euphorie wandelt und das Kind da ist, ist das immer ein erhebender Moment: „Das sind Situationen, die mich zu Tränen rühren.“

Aber die Hebamme begleitet auch die Eltern, bei denen die Geburt nicht so fröhlich verläuft. Sternenkinder sind immer noch ein Tabuthema – zu Unrecht, wie Lanig findet. Das große Unglück hat er schon gesehen. Kinder, die noch leben, wenn sie aus dem Mutterleib kommen, aber nur zehn oder 20 Minuten auf dieser Welt haben. Oder ein kleiner Spatz, kaum größer als seine Hand, der vergeblich nach Luft ringt. „Dann heule ich selbst mit“, sagt er. Weihwasser für Bedarfstaufen steht im Kreißsaal bereit. Auch die Kontaktdaten ehrenamtlicher Sternenkindfotografen haben die Hebammen. Nach solchen Fällen geht der Katholik in eine Kirche – und zündet eine Kerze für die Verstorbenen an.

Mittlerweile ist es Abend und nichts deutet darauf hin, dass solche Schicksalsschläge heute der Fall sein könnten. Lanig hat mehrere CTGs bei den Müttern durchgeführt, ein paar Medikamente verabreicht, ein Bett neu bezogen. Die eigentlichen Kreißsäle – drei an der Zahl entlang eines langen Flurs – sind besetzt. In einem wird gerade eine Mutter per CTG überwacht, in einem anderen wartet eine Frau verzweifelt darauf, dass sich ihr Muttermund weiter öffnet. Wer vorbeigeht, sieht die Damen durch einen Spalt in der Tür. Mal sitzen sie auf ihren Sesseln, mal liegen sie auf dem voluminösen Stuhl, der dem eines Gynäkologen gleicht.

Die Hebamme sitzt wieder im Stützpunkt und wartet auf den Sushi-Lieferanten. Eigentlich würde heute nichts Aufregendes mehr passieren, sagt er gerade noch. Wie falsch er liegt. Denn wenige Momente später ist die Luft urplötzlich eine andere. Sobald der Schrei „Kilian“ ertönt, schlägt die Atmosphäre um. Menschen in Kitteln laufen hektisch über die Flure. In Kreißsaal 2 werfen sich Expertinnen und Experten schnelle Anweisungen zu. „Aus dem Weg!“, raunt eine Ärztin. Vier Minuten der Anspannung. Dann hallt es: „Drück den Knopf!“ Und noch einmal: „Positiv!“

Plötzlich Notkaiserschnitt

Vor einigen Stunden hat Lanig noch erklärt, was der rote Buzzer in der Flurmitte zu bedeuten hat, über dem „Notfall – Missbrauch strafbar“ steht. Wenn er gedrückt wird, heißt das: Notsectio – Kaiserschnitt. Binnen 180 Sekunden sei das Kind dann aus dem Leib der Mutter geholt, lobt die Hebamme. Sie hat nicht gelogen.

Sobald der rote Knopf gedrückt ist, beginnen die Telefone im Stützpunkt wie wild zu läuten. Wenige Sekunden später wird die Mutter auf einer Liege durch den Flur geschoben. Um sie herum laufen mehrere Menschen – unter anderem Kilian Lanig. Das Team verschwindet im OP-Saal. Hier hat nur das Klinikpersonal Zutritt. Wenige Minuten der höchsten Anspannung. Dann taucht die Hebamme wieder im Stützpunkt auf. Die Erschöpfung steht Lanig ins Gesicht geschrieben. „Dem Kind geht es gut“, sagt er. Im Hintergrund ist Babygeschrei zu hören. Der neue Erdenbürger ist jetzt bei seinem Vater in Kreißsaal 2. Jetzt erfolgt die detaillierte Erklärung: Der Herzschlag des Kleinen war plötzlich stark verringert – und das vier Minuten lang. Laut Protokoll heißt das: Kaiserschnitt. Für die Anwesenden ist das kein glücklicher Moment. Denn die Mutter erlebt das wichtige Ereignis nur unter Vollnarkose. Aber hier ging es um Lebensgefahr für das Kind.

Trotz solcher Momente will Kilian Lanig unbedingt selbst noch Vater werden. Vier Kinder, das ist sein Traum. „Kinder sind das Schönste auf der Welt“, sagt er. Und „auf alle Fälle ein Schöpfungswunder“. Mit seiner Partnerin habe er den Kinderwunsch auch direkt beim ersten Date geklärt. Nur, ob er die Geburten selbst durchführen will, weiß er noch nicht so recht. Können täte er es zumindest.

Nathanael Ullmann (32) ist Referent für Medien und Öffentlichkeitsarbeit im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland und ausgebildeter Theaterpädagoge.

Autofans aufgepasst: Das neue PS-Mekka liegt in Ewersbach!

Vergiss München, Monza oder Stuttgart! Die wirklich tollen Karren stehen im Nationalen Automuseum, The Loh Collection, in Ewersbach. MOVO-Redakteur Rüdiger Jope geriet beim Anblick von Chrom, Lack und Karbon ins Schwärmen.

„Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen“ heißt es im Märchen, aber wo genau das ist, das verraten die Brüder Grimm uns nicht. Ob sie damit die Gemeinde Dietzhölztal im mittelhessischen Lahn-Dill-Kreis meinten? Vielleicht. Die Abfahrt von der A45 führt uns ins grüne und hügelige Nichts. Auf dem Smartphone verschwinden die Verbindungsbalken. Der Tesla schnurrt durch Dörfer, die noch den Charme der Siebziger atmen. Dann stehen wir in Ewersbach auf einem großen Parkplatz. Eine Art Märchenschloss für kleine und große Jungs tut sich vor uns auf. Weiß auf rot schlägt es uns entgegen: Nationales Automuseum – The Loh Collection.

Das neue Mekka der Autofans

An der Pforte zu diesem geheimnisvollen Märchenland der PS begrüßt uns Florian Urbitsch. Er ist die gute, ordnende Fee in dieser benzin- und dieselgeschwängerten Welt der Autohistorie aus Chrom, Lack, Blech und Karbon. Urbitsch versteht es, mit Fakten zu zaubern. Dabei ist er ganz Profi, detailverliebt, absolut drin im Stoff. Er hat auf alle Fragen der zwei Väter und zwei Jungs zu diesen einzigartigen Kutschen auf vier Rädern eine Antwort parat. Schon nach den ersten zwei Schlitten ist mir klar: Vergiss Stuttgart! Vergiss München! Vergiss Monza! Das traumhafte Märchenland der Auto-Enthusiasten befindet sich seit Juli 2023 abseits der Metropolen. Dort in Ewersbach stehen sie poliert im Original, die Zwerge und Riesen von Porsche, Ferrari, Daimler, Ford, Bugatti & Co.

35 Jahre hat der Industrielle Friedhelm Loh Autos zusammengesucht, getauscht und gekauft, wie kleine Jungs Matchbox-Autos – aus 135 Jahren Automobilgeschichte. 150 dieser Unikate hat er jetzt in dieser Schatzkammer zugänglich gemacht. Dafür wurde eine alte Fabrikhalle ummantelt, ein Kino der Sechziger und eine historische Kfz-Werkstatt eingebaut, die schräge Pistenarena von Indianapolis nachempfunden, eine Art Setzkasten für fahrbare Schmuckstücke an die Wand geschraubt. Die dazugehörige Aura von roten Ziegeln, alten Stahlträgern, einer rostigen Kranbahn und blitzenden Karossen verfehlt ihre Wirkung nicht. Sie fesselt sogar einen Autoverschmäher wie mich. Jonathan (12) macht große Augen. Joshua (13) noch größere. Die Jungs sind geflasht. Sie stehen den Favoriten ihrer Autokartenspiele gegenüber. Zum Anfassen. Fast.

Autos mit besonderer Vita

Während sich die Jungs nach dem Besuch der Sonderausstellung „100 Jahre Paris – Le Monde“ mit der Kamera auf Motivjagd in der weitläufigen Halle der Dauerausstellung verlieren, entlocken Stefan und ich dem Hüter der Schätze noch einige Details. Dabei verrät er uns die Philosophie von Prof. Dr. Loh. Dieser sammele nicht wahllos, sondern „jedes Auto hat hier seine ganz besondere Geschichte“. Gleich am Eingang steht der Benz Victoria Phaeton (5 PS, 1895): Erstbesitzer die Familie Benz, dann Henry Ford, dann Friedhelm Loh. Auf dem Marktplatz glänzt der Ferrari 288 GTO (1985, 400 PS) von Asterix-Zeichner Albert Uderzo neben dem Porsche von Herbert von Karajan. Wenige Schritte davon entfernt findet sich der Lincoln Continental „Limo One“, das letzte Auto, das Präsident Kennedy lebend verließ. Hinter der Steilkurve parkt der Ferrari F1-2000, in dem Michael Schumacher zu seinem ersten WM-Titel raste, der McLaren MP4-5A von Ayrton Senna, mit dem dieser den Grand Prix 1989 gewann, der Peugeot, in dem Enzo Ferrari urlaubte,…Märchenhafter Moment

Wenige Meter davon entfernt strahlt eines der teuersten Autos der Welt, der Bugatti Veyron, 8,0-Liter-W16-Motor mit Vierfach-Turboaufladung. „Er verkörpert in Form, Funktion und Schönheit eine Philosophie, das Lebenselixier von Bugatti, die hier Hand in Hand geht“, so Urbitsch strahlend, um dann noch eins draufzusetzen. „Heute ist die Firma Bugatti draußen mit einem französischen Filmteam vor Ort.“ Sie nehmen Szenen mit dem alten Bugatti aus dem Museum auf, zusammen mit „einem Erlkönig, einem getarnten neuen Prototyp des Bugatti Veyron“. Knirschender Kies, ein röhrender Wagen. Ein Märchen für die Jungs. Sie haben feuchte Augen. Sie sind plötzlich echte Car-Spotter, werden zu Geheimnisträgern, denn die Bilder von diesem PS-Giganten dürfen zu dem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht werden.

Ehrfürchtiges Staunen vermischt sich mit Magenknurren. Der Museumsbesuch macht hungrig. Doch das Smartphone und der Tesla finden keine Verbindung. Wir rollen offline vom Parkplatz. In einer Kurve finden wir eine Imbissbude. Dort „hinter den sieben Bergen“ gefühlt „bei den sieben Zwergen“ lassen wir uns Pommes, Schnitzel und das Gesehene auf der Zunge zergehen, ganz im Sinne der Gebrüder Grimm: „Und wenn sie nicht verschrottet sind, leben sie noch heute – im Nationalen Automuseum.“

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO.

Nationales Automuseum – The Loh Collection

Das Nationale Automuseum in Dietzhölztal-Ewersbach öffnet jeweils von Mittwoch bis Freitag, 11 bis 18 Uhr, sowie Samstag und Sonntag von 10:30 bis 18 Uhr. Der Eintritt beträgt 19 Euro für Erwachsene, 15 Euro für Kinder. Das Familienticket kostet 50 Euro. Aktuell kann die Sonderausstellung „Ferrari“ angesehen werden. nationalesautomuseum.de

Ernährung, Schlaf und Sport helfen, Körper und Geist fit zu halten.

Essen, Schlafen und Bewegen – So kommst du zu einem ausgewogenen Leben

Um gut durch das Leben zu kommen, müssen wir Körper und Geist pflegen. Michael Stief erklärt, wie drei Standbeine für einen gesunden Körper und Geist sorgen.

„Du bist nicht du, wenn du hungrig bist!“ Dieser Werbeslogan für einen bekannten Schokoriegel bringt es auf den Punkt: Wir sind keine Geister in einer Maschine aus Fleisch und Blut. Stattdessen sind unser Körper und Geist aufs Engste miteinander verwoben. Wie aber funktioniert ein gutes Zusammenspiel von Körper und Geist und was können wir unserem Körper Gutes tun, damit auch unser Geist profitiert?

Nahrung für den Geist

Nicht nur Bücher sind „Nahrung für den Geist“, unser Essen ebenso. Es sorgt dafür, dass wir – neben der körperlichen – die geistige und seelische Energie haben, die wir täglich brauchen. Den engen Zusammenhang zwischen körperlicher und mentaler Verfassung bestätigt die empirische Wissenschaft: Wenn wir nicht genug essen, sinkt unweigerlich unser Blutzuckerspiegel und dadurch werden wir „hangry“, also hungrig und zornig zugleich, wie es auf Englisch heißt. So berichtet der US-Biologe Robert Sapolsky, dass Richter strengere Urteile fällen, wenn sie hungrig sind, als wenn sie gerade gegessen haben. Ebenso sprichwörtlich sind der „Hungerast“ oder das „Suppenkoma“, die beide beschreiben, wie zu wenig oder zu viel Nahrung uns gleichzeitig physisch und mental schwächt. Und nicht nur die Ernährung schlägt sich auf die Laune nieder. Der Kabarettist und Mediziner Eckart von Hirschhausen liefert dazu einen Fünf-Finger-Kurzcheck:

1. Wann habe ich zuletzt was gegessen?

2. Wann habe ich mich zuletzt unter freiem Himmel bewegt und durchgeatmet?

3. Wann habe ich zuletzt geschlafen?

4. Mit wem?

5. Und warum?

(Quelle: Glück kommt selten allein, S. 87)

Essen und Trinken, Bewegung und Schlaf sind in komplexe Stoffwechselkreisläufe eingebunden, die nicht nur unseren Körper funktionstüchtig halten, sondern auch unseren Geist. Die Idee, dass ein gesunder Geist einen gesunden Körper braucht, ist nicht neu – sie geht auf den griechischen Philosophen Platon zurück und wurde als Sinnspruch „mens sana in corpore sano“ („ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“) sprichwörtlich.

Der Mensch ist kein Geist in der Maschine

Dabei war diese Vorstellung immer wieder umstritten. Im Zuge der technischen Entwicklung gipfelte die Trennung von Geist und Körper bei dem französischen Philosophen René Descartes in der Erklärung: „Ich denke, also bin ich!“ Damit bahnte er der Vorstellung den Weg, dass der Mensch ein rein geistiges Wesen in einem uhrwerkgleichen Körper sei. Doch schon Jahrhunderte zuvor hatte sein griechischer Berufsgenosse Sokrates die Ideen für wirklicher erklärt als die Erscheinungen der Wirklichkeit. Damit begann die Überbewertung des Geistes und eine letztendliche Geringschätzung des Körpers (trotz des Körperkultes bei den Olympischen Spielen).

Unsere westlich-europäische Kultur hat so über die Jahrhunderte einen immer größeren Gegensatz zwischen Körper und Geist aufgetürmt und auf Kosten des Körpers aufgelöst: Der Körper ist lange Zeit zu einem Instrument, zu einem Lasttier degradiert worden. Erst in den letzten Jahrzehnten findet die Wissenschaft wieder zu der Erkenntnis, dass wir nicht einen Körper haben, sondern ein Körper sind – und kein Bewusstsein, das sich eines Körpers bedient oder schlimmstenfalls in diesen eingesperrt wäre. Wir essen, schlafen und bewegen uns also nicht, um eine Maschine intakt zu halten, sondern weil wir dieser Körper sind und weil unsere körperliche Verfassung auch unsere mentale Verfassung beeinflusst, unser Erleben, Denken und Entscheiden.

Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen

Was, wie viel und wann wir essen und trinken, hat einen maßgeblichen Einfluss auf unser subjektives Wohlbefinden, unsere körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit und die emotionale Regulation im zwischenmenschlichen Verhalten. „Der Mensch ist, was er isst!“ Das gilt im einfachen Sinne, dass unser Körper einen Teil der Nahrung in Energie für Bewegung und Hirnaktivität umsetzt, den anderen Teil aber tatsächlich in vielfältiger Weise in unserem Körper verbaut, wie z. B. aufgenommenes Eisen in neue Blutkörperchen oder Proteinbausteine in Muskeln. Wenn wir daher konsequent unsere Mahlzeiten selbst aus Wasser, Obst, Gemüse, Getreide und den weiteren Etagen der Ernährungspyramide zusammenstellen, anstatt an einem Computerdisplay zu einem „Happy Meal“, dann bekommen wir das nötige „Material“ für Muskelaufbau, einen optimalen Energiestoffwechsel, einen ausgeglichenen Hormonhaushalt und eine gesunde Hirnchemie.Wer die Ernährungspyramide aber regelmäßig auf den Kopf stellt, zu viel Zucker, Fett und Fleisch zu sich nimmt, der muss z. B. aufgrund der „Zucker-Fett-Falle“ mit krankhaftem Übergewicht, womöglich gar erworbenem Diabetes-II oder schlimmstenfalls mit ernährungsbedingten Formen von Krebs rechnen.

Aus dem Essen lässt sich eine Wissenschaft machen und teils auch eine Weltanschauung. Am Ende aber bleiben drei Erkenntnisse, wie wir so essen können, dass es unserem Körper, unserer Seele und unserem Geist guttut:

  • Wähle natürliche und unverarbeitete Nahrung.
  • Halte dich an die weitgehend unumstrittene Ernährungspyramide.
  • Esse maßvoll – pro Mahlzeit und über den ganzen Tag.

Und nicht zu vergessen: Trinke regelmäßig Wasser, 300-400 ml pro 10 Kilo Körpergewicht oder einfach rund 2 Liter.

Wer schläft, sündigt nicht

Wir verbringen ca. ein Drittel unserer Lebenszeit im Schlaf. Aber warum schlafen wir eigentlich? Das hat hauptsächlich drei Funktionen:

  • Im Schlaf verarbeiten wir die Sinneseindrücke, das Wissen und besonders die Emotionen des Tages, insbesondere im Traum und während des sogenannten „REM-Schlafes“.
  • Im Schlaf werden schädliche Stoffwechselprodukte im Gehirn abgebaut.
  • Im Schlaf regeneriert sich der Körper, das Immunsystem und die Wundheilung arbeiten in Tiefschlafphasen auf voller Leistung.

Umgekehrt bewirkt zu wenig Schlaf eine Einschränkung dieser Funktionen: Wundheilung und Immunsystem arbeiten schlechter, die kognitiven Funktionen werden zunehmend eingeschränkt und wir reagieren „dünnhäutiger“. „Hast du schlecht geschlafen?“, hören wir dann etwa, wenn wir vor Müdigkeit knatschig oder übel gelaunt sind. Wie aber kommen wir zu einem gesunden Nachtschlaf? Dabei spielt vor allem die Tatsache eine Rolle, dass unser Schlaf in einen 24-stündigen Tages-Nacht-Zyklus eingebettet ist. Dieser ist vom Tageslicht und dem lichtabhängigen Hormon Melatonin abhängig, das uns bei Dunkelheit schläfrig macht. Förderlich sind daher folgende Gewohnheiten:

  • Abends künstliches Licht und speziell das blaue Licht von Computerbildschirmen vermeiden, um die natürliche Melatonin-Produktion zu fördern.
  • Ein eigener regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus auch am Wochenende, um den natürlichen Zyklus nicht zu stören.
  • Regelmäßige ausreichende Bewegung am Tage, nur moderate Bewegung, Sport oder Yoga am Abend, um den Kreislauf nicht zu stark anzukurbeln und die Entspannung zu fördern.

Dieses Programm mag weniger verlockend klingen, als lange zu feiern, zu zocken oder Serien zu schauen, um dann erschöpft ins Bett zu fallen. Es hat jedoch einen Super-Bonus: Wer seinen Schlaf wie beschrieben pflegt, nimmt tendenziell an Gewicht ab, an Gelassenheit zu und vergrößert seine Chancen auf ein langes Leben. Dafür lohnt sich in der Regel der Verzicht auf „wilde Nächte“.

I like to move it, move it

Wer trotz maßvollen Essens und genügend Schlaf jede freie Stunde nur auf dem Kanapee verbringt, wird auf Dauer weder schlank noch gesund bleiben. Denn Ernährung und Schlaf dienen letztlich dem Zweck, uns tagsüber kraftvolle Aktivitäten zu ermöglichen. Auch wenn diese im 21. Jahrhundert immer öfter nur geistige und dazu sitzende Tätigkeiten sind. Gemacht ist unser Körper aber für die körperliche Aktivität, für das Gehen und Laufen, und dementsprechend ist Bewegung das dritte „Standbein“ für ein stabiles und gesundes Leben. In der Biologie gilt der Satz „use it or loose it“, frei übersetzt: „Wer’s nicht trainiert, verliert’s.“ Wenn wir unsere Muskeln, wenn wir Skelett und Gelenke oder auch unser Herz-Kreislauf-System nicht trainieren und fordern, dann verfällt unser Körper mit der Zeit wie ein ungepflegtes Haus. Unsere Muskeln wachsen und heilen nur, wenn sie genutzt werden. Unsere Knochen bleiben nur dann stabil. Unsere Gelenke werden nur versorgt, wenn wir sie bewegen. Herz, Arterien und Venen bleiben nur intakt bei Belastung. Wir bleiben nur dann fit und in Form, wenn wir mindestens die Kalorien, die wir verzehrt haben, auch wieder verbrauchen. Ja, selbst unser Schlaf wird besser, wenn wir die Stresshormone, die unser Körper im Alltag produziert, auch wieder abgearbeitet haben.

Wie viel Bewegung ist aber genug in einer Welt, in der Sitzen das neue Rauchen ist? 10.000 Schritte am Tag sollten es nach einer „urban legend“ angeblich sein. Doch das ist zu zwei Dritteln ein Marketing-Gag. Real und nach neuen Forschungen reichen auch schon 3.500. Optimal wäre ein auf die persönlichen Vorlieben und Bedürfnisse abgestimmtes Fitness-Programm. Doch das ist sicher nicht mit allen Lebensstilen heutzutage kompatibel. Drei Strategien können aber auch eingespannten Menschen weiterhelfen:

  • Gehe die Extra-Meile. Wann immer du eine Strecke zu Fuß zurücklegen kannst, gehe sie. Egal, ob es die Treppen zum nächsten Büro oder ins eigene Zuhause sind, der Weg zum Supermarkt oder zum Bäcker. Geh oder nimm das Rad, aber nutze jede Gelegenheit für zusätzliche Bewegung.
  • Mach Yoga. Das stärkt die Muskeln und hält beweglich. Dazu braucht es für den Anfang auch keinen Kurs und kein Yoga-Outfit.
  • Mach Krafttraining. Kniebeugen, Sit-ups und Liegestütze oder andere „Bodyweight-Übungen“ bieten auch hier einen niedrigschwelligen Einstieg.

Wer dieses Minimalprogramm konsequent durchzieht, erreicht mehr als mit sporadischen langen Joggingrunden aus schlechtem Gewissen.

Freundschaft zwischen Leib und Seele

Die moderne Lebenswelt hat uns Menschen immer weiter von unserer natürlichen Umwelt und Lebensweise entfernt, die unseren Körper und seine Funktion über Jahrtausende geformt hat. Heute übernehmen dies Fast Food und eine sitzende Lebensweise und sorgen so nicht nur für zunehmende Fettleibigkeit, sondern auch manche psychischen Belastungen. Eine maßvolle und ausgewogene „Diät“ ist daher nicht nur beim Essen eine gute Idee, sondern auch beim Schlafen und Bewegen. Wer Freunde hat, kümmert sich um sie und das sollte auch für unseren Körper gelten. Darum mögen wir dem Rat der Heiligen Teresa von Ávila folgen: „Tu deinem Körper etwas Gutes, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.“

Michael Stief (60) ist Berater für Positive Kommunikation in Führung, Teamentwicklung und Strategie und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).