Symbolbild: PeopleImages / iStock / Getty Images Plus

Sitzen ist das neue Rauchen: Drei Strategien gegen die Sitz-Krankheit

Regelmäßiges, zu langes Sitzen schadet dem Körper mindestens genauso viel wie Rauchen. Im Büro lässt es sich aber schlecht vermeiden. Was hilft?

Von Michael Stief

„Use it or loose it“, frei übersetzt: Wer‘s nicht benutzt, verliert‘s. So lautet das vielleicht wichtigste Gesetz in der Biologie des Menschen.

Gehirne von Säuglingen werden zunächst mit einer Überzahl an Hirnzellen geboren. Von denen sterben mit der Zeit all jene, die wir nicht benutzen. So ergeht es im weiteren Leben auch vielen anderen Körperfunktionen.

Am deutlichsten wird das bei den Muskeln: Hier werden diejenigen abgebaut, die wir nicht gebrauchen; und diejenigen werden stärker, die wir ständig nutzen. Wir sehen es auch an einmal Gelerntem. Je seltener wir eine Fremdsprache benutzen, umso weniger wissen wir von dem, was wir vielleicht in der Schule einmal mehr oder weniger gerne gelernt haben.

Ja, sogar unser Immunsystem vergisst, wenn es nicht mehr mit bestimmten Umgebungsreizen und Erregung konfrontiert wird. Dies erklärt zum Beispiel den überraschenden Anstieg an gewöhnlichen Erkältungskrankheiten nach dem Ende der Corona-Pandemie. Nachdem wir uns so lange durch Maskentragen alle Erreger ferngehalten hatten, erkannte unser Immunsystem auch die häufigeren Erkältungsviren nicht mehr schnell genug als Gefahr.

Was aber hat das damit zu tun, dass das Sitzen das neue Rauchen sein soll?

Sitzen = Rauchen: Übertreibung oder Fakt

Rauchen schadet. Wir nehmen dabei das Nervengift Nikotin, Teer und viele weitere teils krebserregende Stoffe auf. Diese legen die Reinigungsfunktion unserer Lungen lahm und nehmen dabei viele weitere Schadstoffe aus der Umgebung auf. Zudem wird unser Blut mit Kohlenmonoxid übersättigt. Bei einem Brand können wir von zu viel Rauch eine „Rauchvergiftung“ bekommen. Diese Tatsache macht intuitiv klar, dass Rauchen ungesund ist. Auch wenn es aktive Raucher gerne verdrängen.

Was aber sollte am Sitzen schlecht oder schädlich sein? Wenn wir uns nach ausgedehnter körperlicher Arbeit oder nach intensivem Sport hinsetzen und ausruhen, tut uns das gut. Doch eben nur dieser Wechsel von Anstrengung und Entspannung ist das eigentlich Wohltuende und Gesunde. Für das Sitzen selbst gilt der Satz: „Die Menge macht das Gift!“ Was in der Wechselbelastung Erholung bewirkt, verursacht auf Dauer Erschlaffung und Fehlbelastungen.

Born to run

Der menschliche Körper ist für den aufrechten Gang und das Laufen ausgelegt. Anders als unsere nächsten Verwandten die Menschenaffen gehen wir jenseits des Krabbelalters in aller Regel nicht auf allen Vieren. Im Gegenteil: Völker wie die afrikanischen Massai oder die mittelamerikanischen Tarahumara laufen ganz alltäglich Strecken, wie sie in Europa nur für Langstreckenathleten im Training üblich sind.

Wir Menschen sind für langes beständiges Laufen gebaut. Vergleichbar mit einem Rallyewagen mit Turbodiesel. Statt 10 oder 20 Kilometer am Tag zu laufen, sitzen wir jedoch zehn oder zwölf Stunden – am Frühstückstisch, im Bürostuhl und auf dem Sofa. Das ist, als würden wir unsere Turbodiesel-Rallyemaschine in die Garage stellen. Dort versottet der Motor, werden die Leitungen brüchig und frisst sich der Flugrost in die Karosserie.

Entsprechend finden Mediziner bei sitzenden Büro-Bewohnern häufig folgende „Mängel“:

  1. Muskelschwäche
  2. Verschlechterte Körperhaltung
  3. Schlechte Durchblutung
  4. Erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten
  5. Mentale Auswirkungen

Kurz gesagt: Regelmäßiges, zu langes Sitzen schadet Körper, Geist und Seele.

Auswirkungen auf den Körper

Genau darum werden – nach der biologischen Grundregel Use-it-or-loose-it – unsere Laufmuskeln schwächer. Andere Muskelgruppen überbeanspruchen wir dagegen: Die Hals- und Nackenmuskeln sollen beim Laufen nur einen aufrechten Kopf stabilisieren. Jetzt müssen sie einen vorgebeugten Kopf tatsächlich halten. Dies entspricht etwa einem Gewichtunterschied von 23 kg: 28 kg beim Halten im Vergleich zu 5 kg beim Stabilisieren. Das führt langfristig zum Upper Cross Syndrom mit Verspannungen, Schmerzen, Knorpel- und Knochenschäden bis hin zu Belastungen für die inneren Organe.

Unser Herz, das ja auch ein Muskel ist, bekommt ebenfalls nicht das notwendige Training. Es wird dadurch sowohl für die Wechsel-, Dauer- als auch Spitzenbelastung schwächer. Unsere Blutbahnen werden weniger rhythmisch vom Blut durchgewalkt und damit schwächer; Fettablagerungen werden nicht mehr weggespült. Unsere Venen, die nur passiv durch Muskelbewegungen aktiviert werden, können sich entzünden.

Schadstoffe, die durch ein bewegtes Lymphsystem abtransportiert werden, lagern sich mit „Wasser in den Beinen“ ab.  Ja, sogar unser Verdauungssystem wird nicht mehr naturgemäß beansprucht, was zu Verdauungsbeschwerden und schlimmstenfalls zu Diabetes führen kann.

Psychische und körperliche Schäden

Und nicht zuletzt ist unser Körper mit einem Belohnungssystem ausgestattet. Dieses belohnt uns für Bewegung und Anstrengung mit Glückshormonen. Nicht nur in Form des Runners High, sondern auch durch ein gutes Gefühl nach jeder positiven Anstrengung. Wo diese Glückshormone dauerhaft zu wenig produziert werden, wird seelischen Verstimmungen bis hin zur Depression der Weg gebahnt.

Noch mehr: Die natürliche Stressreaktion auf erlebte Bedrohungen ist besonders auf eine eilige Flucht hin optimiert. Der mentale Dauerstress von Bürobewohnern hinterlässt sowohl psychisch als auch körperlich Schäden, wenn die stressbedingte Aktivierung des Körpers nicht durch natürliche Bewegung verwertet wird.

All dies ist schon lange bekannt und wurde wiederholt in wissenschaftlichen Studien belegt. Doch trotz Schrittzählern, periodisch auftretenden Lauf-Päpsten und zuletzt auch SmartWatches und Fitness-Trackern gehen und bewegen wir uns kollektiv zu wenig. Was tun? An ausreichend körperlicher Bewegung führt kein Weg vorbei. Doch was ist „ausreichend körperliche Bewegung“?

Der 10.000 Schritte Mythos

Zu Zeiten unserer Großeltern hieß es zum Beispiel: Nach dem Essen sollst Du ruhen oder 1.000 Schritte tun. Diese Alternative mag Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts noch gut funktioniert haben, als große Teile der Bevölkerung einer überwiegend körperlichen Arbeit nachgingen. Heute ist eher die Regel 10.000 Schritte pro Tag eine brauchbare Orientierung, auch wenn sie nicht wissenschaftlich verbürgt ist, sondern auf einen japanischen Marketinggag zurückgeht.

Im Gefolge der Olympische Spiele in Tokio 1964 brachte die Firma Yamasa den ersten kommerziellen Schrittzähler heraus. Der erhielt auf Japanisch den knackigen Namen „manpomeetaa“, also „10.000-Schritte-Zähler“. Das Japanische hat eine zusätzliche Zählschwelle bei 10.000 mit der Bezeichnung „man“. Das klingt viel besser als „nanasengohyaku“. Auf Deutsch 7.500, was laut aktueller Forschung das Optimum wäre, um die Lebenserwartung zu erhalten. „ichinichi ichimanpo“, „jeden Tag 10.000 Schritte“, gab für japanische Hörgewohnheiten jedoch einen unwiderstehlichen Slogan ab.

Die US-Gesundheitswissenschaftlerin Catrine Tudor-Locke pushte in den 2000er Jahren die Praxis des 10.000-Schritte-Zählens mit einem sehr kleinen, sehr dünnen und sehr reißerischen Buch. Heute ist dieses Schrittziel in vielen Fitness-Trackern und SmartWatches als Default-Einstellung vorgegeben.

Dennoch: Als Tagesziel sind die 10.000 Schritte brauchbar. So erreichen wir auch dann einen gesunden Bewegungsdurchschnitt, wenn uns Sitzungs-Marathons, Schulungen oder die gelegentliche eigene Trägheit aufs Sofa zwingen.

3 Strategien gegen die Sitz-Krankheit

Es heißt: Die Menge macht das Gift. So ist es auch mit dem Sitzen. Passende Strategien brechen unsere ungesunden Sitzgewohnheiten auf. Diese setzen an drei Stellen an:

  • Dauer
  • Haltung
  • Ausgleich

Weniger lange sitzen, öfter aufstehen

Sitzen Sie weniger und wenn das in Summe nicht geht, dann weniger lange am Stück. Handelsübliche Fitness-Tracker erinnern einen daran, einmal pro Stunde ein paar Schritte zu gehen. Es reicht aber auch schon, sich am Glockenschlag der nächsten Kirchturmuhr zu orientieren.

Das passt auch gut zu anderen förderlichen Gewohnheiten, wie zum Beispiel regelmäßig zu trinken oder die Augen durch entspanntes Sehen auf unterschiedliche Distanzen zu entspannen. Durch ein „Gewohnheiten stapeln“ lassen sich die ohnehin nötigen Bio-Pausen kreativ aufwerten: Beispielsweise durch einfache Bewegungsübungen wie Rumpfdrehen, seitliches Abbeugen in den Hüften, Vorbeugen oder Rückendehnen. Oder durch einen Mini-Spaziergang in Form eines kleinen Umweges zum eigentlichen Ziel, seien es Kaffeemaschine, Wasserspender oder Toilette. Eine gute Orientierung liefert sinngemäß das vom Evangelisten Matthäus überlieferte Jesus-Wort: „Wenn Dich jemand nötigt eine Meile zu gehen, so gehe mit ihm zwei.“

Haltung bewahren

Natürlich lassen sich nicht alle Arbeiten im Gehen oder Stehen erledigen. Wenn wir also schon sitzen, dann kommt es dabei auf drei Dinge an: Bewusste Haltung, einen ergonomischen Arbeitsplatz und die richtige Sicht. Wer sich beim Arbeiten in den Stuhl lümmelt, multipliziert die negativen Auswirkungen des Sitzens. Unser Kopf ist weit schwerer als wir wahrnehmen. Unsere Muskeln sind dafür gebaut, diesen mit wenig Kraft dynamisch zu balancieren, anstatt ihn statisch mit viel Kraft zu halten. Daher also eine aufrechte Haltung bewahren, Füße stabil auf dem Boden, etwas Körperspannung und den Kopf locker balancieren.

Ebenso hilft ein ergonomischer Arbeitsplatz mit den passenden Abständen und Winkeln von Stuhl, Tisch, Tastatur und Monitor sowie für Brillenträger eine aktuelle Bildschirmbrille. Optiker werden bestätigen, dass die meisten Menschen mit Brille dazu neigen, fehlende Sehschärfe auszugleichen, indem sie den Kopf nach vorne beugen. Dann ist es schnell vorbei mit dem lockeren Balancieren unseres Hauptes.

Zum Haltung bewahren gehört auch das passende Mindset. Den Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen muss man wirklich wollen und nicht getrieben von einem falschen Fleiß stundenlang durcharbeiten. Moralische Unterstützung bekommen wir dabei auch von der Psychologie. Die belegt, dass wir auch mental effektiver sind, wenn wir Pausen machen. Erst recht, wenn wir uns in diesen Pausen bewegen.

Ausgleich schaffen

Wenn wir unsere Gewohnheiten unter die Lupe nehmen, finden sich viele Möglichkeiten, unsere Arbeit- oder Freizeitaktivitäten im Stehen oder Gehen zu erledigen. Ein persönliches Brainstorming lässt sich Dank der Diktierfunktion des Smartphones auf einem kurzen Spaziergang erledigen. Im Team finden sich im Stehen am Flipchart oder Whiteboard auch oder gar mehr kreative Ideen. Einzelne Unternehmen haben die Stühle aus ehemaligen Sitzungszimmern verbannt – mit positiven Effekten. Sitzungen wurden dadurch nicht nur kürzer, sondern auch produktiver.

Führungskräften empfehle ich gerne, Mitarbeitergespräche im Gehen zu führen. Dabei bringt die notwendige gemeinsame Perspektive beim Gehen wie auch die taktgleiche Bewegung selbst zusätzliche subtile positive Effekte für die Kommunikation. Gleichzeitig sorgt es für den Wechsel von Sitzen und Bewegung.

Und natürlich gehört an diese Stelle auch der Sport: Gehen, Laufen, Schwimmen, Radfahren oder auch Krafttraining können uns helfen, die negativen Effekte des „sesshaften“ Lebensstiles zu kompensieren. Hier ist eine hohe Frequenz wichtiger als eine hohe Dosis: Einmal in der Woche in einem Mannschaftstraining im Fußball oder Volleyball durchzupowern, pusht vielleicht den Kreislauf und pustet die Blutgefäße durch. Das ersetzt aber nicht den täglichen Ausgleich.

Beim Putzen die Fitness aufpolieren

Hier mag jeder seinen speziellen Weg finden, doch eine überraschende Erkenntnis aus der Forschung hilft nicht nur öfter zu „trainieren“, sondern auch quasi nebenbei: Mit der entsprechenden Einstellung haben nämlich auch gewöhnliche Hausarbeiten einen sportlichen Effekt.

Die Harvard-Psychologinnen Alia Crum und Ellen Langer fanden vor zehn Jahren in einer Vergleichsstudie mit 84 Zimmermädchen heraus, dass die Kenntnis über die positiven gesundheitlichen Effekte bei Reinigungstätigkeiten konkrete Auswirkungen auf Blutdruck und BMI bzw. Körpergewicht haben.

Also gerne öfter den Staubsauger-Roboter in Urlaub schicken und selbst mit dem Handstaubsauger dynamisch durch die Zimmer wirbeln, den Staublappen schwenken oder beim Müll entsorgen einen Schritt schneller gehen oder gar einen Umweg mache.

Und falls Sie es zwischenzeitlich noch nicht getan haben: Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt aufzustehen und ein paar Dutzend Schritte zu gehen … und in einer Stunde wieder!

Michael Stief (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Michael Blume (Foto: SCM Bundes-Verlag / MOVO / Rüdiger Jope)

„Jedes Leben zählt!“: Der Mann, der 1.000 Menschen rettete

Michael Blume hat 1.000 jesidischen Frauen und Kindern geholfen, aus dem Nordirak zu fliehen. Wie kam es dazu?

Herr Blume, am 23. Dezember 2014 bekamen Sie aus dem Auswärtigen Amt und dem Innenministerium in Berlin „gelbes Licht“ für welche Aktion?

Michael Blume: Das Land Baden-Württemberg dürfe 1.000 jesidische Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufnehmen, die sich auf der Flucht vor dem IS befanden. Allerdings war es nur „gelbes Licht“, weil die sagten: „Wir spielen doch nicht den Buhmann und verbieten eine humanitäre Aktion. Macht es, aber bitte auf eigene Verantwortung und auf eigenes Risiko!“

Welche Frage stellte Ihnen Ministerpräsident Winfried Kretschmann daraufhin?

Blume: Er fragte mich: „Würden Sie es denn machen, Herr Blume?“

Sie kamen sich vor wie im Film „Schindlers Liste“. Sie besprachen diesen wahnsinnigen Auftrag mit Ihrer Frau. Sie schaut Ihnen in die Augen und sagt?

Blume: Meine Frau ist Muslimin. Sie schämte sich sehr, was der IS im Namen ihres Glaubens da im Irak anrichtet. Sie brach in Tränen aus, sagte dann aber: „Wir glauben beide, dass Gott uns einmal fragen wird, was wir mit den Elenden vor unserer Tür gemacht haben. Michael, mach es! Jedes Leben zählt!“ Wir hatten drei kleine Kinder. Sie hat die 14 Dienstreisen über 13 Monate in den gefährlichen Irak mitgetragen.

Waren Sie schon immer so ein tapferer und cooler Mann?

Blume: (schmunzelt) Nein! (lacht) Ich war für Mädels nicht cool, nicht chic, nicht so richtig vorzeigbar. Meine Familie stammt aus der ehemaligen DDR. Mein Vater hat Stasihaft und Folter erlitten. Ich bin daher mit einer tiefen Dankbarkeit gegenüber unserem Rechtsstaat und den Menschenrechten aufgewachsen. Dazu kam, dass ich als Jugendlicher einen Sinn im christlichen Glauben gefunden habe. Die glückliche Beziehung mit meiner Frau hat mich zum Mann reifen lassen.

„Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können“

Was hat Ihnen geholfen, Ihr Potenzial zu entfalten?

Blume: (spontan) Unbedingt geliebt, ein Kind Gottes zu sein, aber eben auch das Wissen und die Erfahrung: Ich bin nicht unfehlbar, ich darf auch scheitern. Der Rückhalt meiner Frau, die mir in dieser schwierigen Entscheidung vermittelt hat: Es lohnt sich, sein Bestes zu geben. Sie hatte verstanden: Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können.

Sie retteten mit einem kleinen Team über 1.000 Jesidinnen das Leben. Sie setzen sich ein für Geschundene, Geflüchtete … Ist dies in Ihrer DNA angelegt, weil Ihr Vater in der DDR im Knast saß, Ihre Eltern aus der DDR flüchten mussten?

Blume: Unbedingt. Als Jugendlicher habe ich eine große Politikverdrossenheit um mich herum erlebt. Dies hat mich unglaublich geärgert. Wir Menschen, die wir im Wohlstand und in Freiheit aufwachsen, tendieren leicht dazu, dies zu verachten, nicht mehr wertzuschätzen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir in einer Demokratie leben, dass wir Menschenrechte haben, dass Mädchen die Schule besuchen dürfen und Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Dafür sollten wir kämpfen! Mein Vater hat Folter ertragen, weil er wollte, dass seine Kinder einmal in Freiheit aufwachsen. Wer bin ich, der ich dieses Geschenk der Freiheit wegwerfen würde oder anderen vorenthalte?

Nadia Murad, eine der Jesidinnen, die Sie gerettet haben, erhielt im Dezember 2018 den Friedensnobelpreis. Welches Gefühl löste dies in Ihnen aus?

Blume: Ich war mit Ministerpräsident Kretschmann bei der Verleihung in Oslo dabei. Das war sehr bewegend. Nadia selber war zuerst gar nicht so glücklich darüber, weil ihr damit klar war: Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückziehen, jetzt muss ich ein Leben lang eine öffentliche Rolle einnehmen. Sie, diese tapfere Frau, hat dieses Geschenk, aber eben auch diese Herausforderung dann angenommen und der freien Welt signalisiert: Frauenrechte sind nicht selbstverständlich und gerade wir Männer sollten dafür einstehen.

Beinahe-Antisemitismus-Skandal: „Das wird eine heftige Geschichte“

Sie brechen als junger Mann ein Volkswirtschaftsstudium ab, um Religionswissenschaften zu studieren. Mit einem Aufsatz über Ihre Biografie als „Wossi“ gewinnen Sie einen Preis. Die Stuttgarter Zeitung veröffentlicht einen Artikel über Sie. Diesen Beitrag liest …?

Blume: (lacht) … Staatsminister Christoph Palmer. Ich hatte damals einen Beitrag zum Thema „Heimat und Identität“ eingereicht. Damit gewann ich einen Preis als einziger Deutscher ohne Migrationshintergrund, wenn wir die DDR nicht mitzählen. Palmer hat mich dann von der Universität direkt ins Staatsministerium geholt.

Am 11. April 2007 sagte der damalige württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger in Freiburg auf der Beerdigung von Hans Filbinger, einem seiner Vorgänger, den Satz: „Filbinger war kein Nationalsozialist. Es gibt kein Urteil von ihm [Anm.d.Red.: Er war NS-Marinerichter], durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte.“ Warum wurde Ihnen da mulmig?

Blume: An der Rede war ich nicht beteiligt. Als ich sie hinterher hörte – heute würde sie ja sofort im Internet stehen –, war klar: Das wird eine heftige Geschichte. Diese Aussage könnte ihn sein Amt kosten. Man soll ja über Verstorbene nichts Böses sagen, aber hier war eine Grenze überschritten worden, eine Umdeutung passiert. Unbestrittene Tatsache ist: Filbinger hat noch in den letzten Kriegstagen Menschen zum Tode verurteilt.

Wie haben Sie die politische Kuh vom sprichwörtlichen Eis bekommen?

Blume: Ich habe Günther Oettinger geraten, den Vorwärtsgang einzulegen, nicht darauf zu warten, dass die medialen Rücktrittsforderungen abebben. Wir sind zur jüdischen Gemeinde Stuttgart gefahren, haben mit dem Zentralrat der Juden direkt gesprochen. Die jüdischen Gemeinden wussten, dass Oettinger ein feiner Kerl und kein Antisemit ist, aber die mediale Dynamik hätte alle zermalmen können. Der Ministerpräsident bedauerte den Fehler, die jüdische Gemeinde zog die Rücktrittsforderung zurück.

Und Sie bekamen ein Dankeschön der Kanzlerin?

Blume: (lacht) Sie haben sich aber gut informiert! Ja. Angela Merkel rief Günther Oettinger über mein Handy an. Ich konnte meinen Teil tun.

Sie sind Mitglied der CDU. Was bedeutet Ihnen das C? Und wie kam es dazu, dass Sie für eine Landesregierung arbeiten, in der die Grünen am Ruder sind?

Blume: Das Christliche ist mir zentral wichtig. Auch als Entlastung von Politik, weil sie nicht versuchen sollte, ein Paradies auf Erden zu schaffen. Ministerpräsident Kretschmann hat ein Faible für das C. Das verbindet uns. Als er gewählt und sein Vorgänger Stefan Mappus abgewählt war, fragte er mich, ob ich trotzdem bleiben würde. Ich sagte ihm zu, wenn er die zwei Mitarbeiterinnen mit übernehmen würde, die für mich bis dahin gearbeitet haben. Er hat seinen Teil eingehalten und ich den meinen. Wir arbeiten bis heute sehr vertrauensvoll zusammen. Ich stelle immer wieder fest: Viele Grüne schätzen es, wenn sie mit einem Christdemokraten zu tun haben, der sein Parteibuch nicht taktisch versteckt, wenn es der Karriere schädlich sein könnte, sondern zu seinen Werten steht.

„Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer“

Sie sind heute Antisemitismusbeauftragter. Wie würden Sie einem Kind diesen Beruf erklären?

Blume: Das Judentum war die erste Religion, die mit dem Alphabet geschrieben hat. Deshalb denken viele Menschen, dass die Juden besonders schlau seien und die Welt kontrollieren. Ich würde dem Kind dann sagen: Niemand kontrolliert die Welt außer Gott. Ich gewinne Menschen dafür, sich zu bilden und zu lernen und keinen Hass auf eine Gruppe oder Religion zu haben.

Was ist Antisemitismus?

Blume: Antisemitismus ist eine Form von Menschenfeindlichkeit, die immer mit Verschwörungsmythen verbunden ist. Im Antisemitismus wird behauptet, Juden seien besonders schlau, reich und mächtig. Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer. Sie sind deshalb auch zur Radikalisierung und Gewalt bereit.

Warum trifft es durch die Jahrhunderte und viele Kulturen hindurch immer wieder die Juden?

Blume: Weil sie die erste Religion der Schrift waren. Im ersten Buch Mose heißt es: Der Mensch sei im Bilde Gottes geschaffen. Daraus entsteht der Begriff der Bildung, der unsere europäische Kultur entscheidend geprägt hat. Die Idee, dass wir einmal in einer Welt leben, in der jedes Mädchen, jeder Junge lesen und schreiben kann, entstammt dem Judentum. Deshalb konnte der zwölfjährige Handwerkersohn Jesus drei Tage im Tempel mit den Schriftgelehrten diskutieren.

„Bekämpft Antisemitismus für eure eigene Zukunft!“

Ist Antisemitismus mehr als Hass auf Juden?

Blume: Rabbiner Lord Jonathan Sacks formulierte es so: „Dieser Hass beginnt immer bei den Juden, endet aber nie bei ihnen.“ Er setzte sich im Dritten Reich bei den Sinti und Roma oder den Homosexuellen fort. Im Islamischen Staat setzte sich dieser Hass gegen Jesiden, Wissenschaftler und Journalisten fort. Ich sage daher: Bitte bekämpft den Antisemitismus nicht nur den jüdischen Menschen zuliebe, sondern für eure eigene Zukunft! Wer glaubt, dass die Gesellschaft von der Verschwörung gesteuert wird, ist zur Demokratie nicht mehr in der Lage.

Es heißt, der Antisemitismus in Deutschland nehme wieder zu. Ist dies auch Ihre Feststellung?

Blume: Jein. Nach allen Daten, die uns vorliegen, nimmt die Zahl der Antisemiten weiter ab. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Die Menschen, die antisemitisch agieren, haben aber das Internet, und damit nimmt ihre Radikalisierung und Gewaltbereitschaft zu.

Was können wir gegen Antisemitismus tun?

Blume: Wir sind gefragt, zuzugeben, dass wir nicht alles wissen. Verschwörungsmythen geben eine scheinbar einfache Erklärung. Wenn ich sage, diese Verschwörer sind schuld, habe ich eine vermeintliche Erklärung für COVID-19, die Klimakrise, den Krieg in der Ukraine. Stattdessen zu sagen: Ich weiß, dass wir Männer die Wahrheit nicht mehr besitzen, sondern Unsicherheiten aushalten müssen – diese Stärke wünsche ich mir von uns Männern. Lebenslange Bildung macht uns stark gegen Antisemitismus.

Wann haben Sie als Beauftragter einen guten Job gemacht?

Blume: Wenn ich eingeladen werde, Menschen an diesem Thema Interesse zeigen, ich dafür sorgen kann, dass Menschen gar nicht erst zu Antisemiten werden. Jede Seele zählt.

„Die vernünftige Mitte bricht zusammen“

Sie differenzieren zwischen Verschwörungsmythen und Verschwörungstheorien. Warum?

Blume: Theorie ist ein Begriff aus der Wissenschaft. Verschwörungsmythen wollen nur Schuldige benennen. Das waren im Mittelalter die Hexen, heute werden die Zugewanderten als Invasoren betrachtet oder man wirft Frauen vor, dass sie für niedrige Geburtenraten sorgen. Wir müssen ertragen, dass sich die Welt nicht in gute und böse Gruppen spalten lässt, dass wir herausgefordert sind, das Böse in uns zu bekämpfen.

Warum haben Verschwörungsmythen und Fake News derzeit so Hochkonjunktur?

Blume: Immer dann, wenn neue Medien auftreten, haben wir eine Explosion von Verschwörungsmythen. Der Hexenwahn war nicht im vermeintlich finsteren Mittelalter, sondern fand vom 15. bis zum 18. Jahrhundert statt. Heute werden in 44 Ländern der Erde Frauen als Hexen verfolgt. Immer dann, wenn neue Medien wie Buchdruck oder elektronische Medien an Bedeutung gewinnen, ergeben sich unendliche neue Chancen für Bildung, aber es tauchen eben auch wieder alte Vorwürfe auf. Das erleben wir gerade mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit.

Sehen Sie einen Zusammenhang von zurückgehenden Kirchenmitgliedszahlen, einem schwindenden Glauben in der Gesellschaft und einer Zunahme von Mythen?

Blume: Ja. Unbedingt. Wir erleben leider in allen Religionen das Phänomen, dass die vernünftige Mitte zusammenbricht. Es wird die Religionslosigkeit propagiert. Es gibt immer mehr säkulare Menschen. Diese stehen den religiösen Dualisten gegenüber, die sich gegen den sogenannten Mainstream mit Verschwörungsmythen abgrenzen. Die vernünftige Mitte zerbröselt. Das ist der Teil, der mir am meisten Sorgen macht.

Blume geht gerichtlich gegen Hassnachrichten vor

Sind Männer anfälliger für Verschwörungsmythen als Frauen?

Blume: Ja! Bei Männern sehen wir öfter ein kämpferisches Weltbild. Da herrscht die Stimmung vor: Ich zerschlage jetzt die Verschwörer, wenn es sein muss auch mit Gewalt. Dies kickt vor allem jüngere Männer. Darin lassen sie sich dann gerne von älteren Männern bestätigen. Von daher sage ich, auch als ehemaliger Soldat: Liebe Mitmänner, die eigentlichen Helden stellen sich erst einmal ehrlich den Abgründen der eigenen Seele.

KI in Form von ChatGPT & Co. bringt nochmals eine ganz neue Herausforderung in puncto Fake News mit. Was wird in Zukunft wichtig(er) werden? Wie können wir Mythen oder Fake News entzaubern?

Blume: ChatGPT ist ein Werkzeug, welches unsere gesamte Welt verändern wird. Wir werden zukünftig mehrere KIs nutzen. Ob wir es wollen oder nicht, KI wird ein Teil unserer Mitwelt. Sie wird uns selbst verändern, wie uns auch das Smartphone verändert hat. Mein Ratschlag lautet: Mitmachen, aber auch nachdenken, was wir da eigentlich tun!

Hassnachrichten gehören zu Ihrem Tagesgeschäft. Wie gehen Sie damit um?

Blume: Am Anfang habe ich sie einfach ignoriert. Doch dann richteten sie sich gegen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und vor allem gegen meine Familie. Seitdem wehre ich mich auch gerichtlich.

Sie klagen gegen Twitter. Warum?

Blume: Viele Bürger haben gar nicht die Möglichkeit, gegen diesen Giganten vorzugehen. Das ist unglaublich teuer. Stellvertretend für die Menschen streite ich daher gemeinsam mit HateAid. Ich will nicht den Hass im Internet bejammern, sondern mich auch hinstellen und den Hetzern und Trollen die Stirn bieten! Es hat mich Überwindung gekostet, im Regierungskabinett solch eine an mich adressierte Hassnachricht vorzulesen.

Was ist der aktuelle Stand der Klage?

Blume: Twitter vertritt die Auffassung, dass die gesendete Hassnachricht gelöscht werden kann, doch die Kläger sollen jede einzelne Hassnachricht neu melden. Wir halten dagegen und haben vom Landgericht Frankfurt/Main Recht gesprochen bekommen, dass Twitter kerngleiche Inhalte selbst löschen muss. Wenn also gegen eine Person eine Kampagne läuft, ist Twitter gefordert, löschend einzuschreiten. Twitter kann sich nicht zurücklehnen nach dem Motto: Meldet es und wir schauen dann mal. Twitter wehrt sich sehr dagegen …

„Jede Religion kann man liebevoll oder auch feindselig leben“

Was ängstigt Sie? Was macht Ihnen Hoffnung?

Blume: Mich treibt die Sorge um, dass die Klimakrise zur Wasserkrise wird. Ich habe im Irak gesehen, wie ein Staat zerfällt, wenn es nicht mehr genügend Wasser für alle gibt. Wasser ist ein mächtigeres Element als Öl. Es ist übrigens auch das erste Element, welches in der Bibel genannt wird, noch vor dem Licht! Es werden immer weniger Teile der Erde bewohnbar sein. Ich bin überzeugt: Wir werden die Krise meistern, aber die vor uns liegenden Jahre werden hart. Es geht ums Überleben in unserer Mitwelt. Dafür braucht es Frauen und Männer, die über sich hinauswachsen.

Sie sind atheistisch aufgewachsen, haben dann zum christlichen Glauben gefunden. Was hat Sie überzeugt?

Blume: Ich war politisch sehr aktiv. Im Angesicht der Hungerkatastrophe in Somalia stellte ich als junger Mensch fest: Es gelingt uns trotz allem Engagement nicht, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Das brachte mich in eine Sinnkrise. Und in dieser frustrierenden Situation hat Gott mich aufgefangen und angesprochen in dem Sinne: Michael, wenn du tust, was du kannst, ist das genug. Du bist unendlich geliebt! Das hat mich unglaublich entlastet und bewahrt mich davor, mich selbst zu überfordern.

Sie und Ihre Frau entstammen einer Arbeiterfamilie. Sie sind ein glückliches Paar. Was sagen Sie Menschen, die Christen vor allem als Kreuzritter und Kolonisatoren und Muslime als Machos und Terroristen sehen?

Blume: Jede Religion kann man liebevoll oder auch dualistisch, feindselig, extremistisch leben. Das gilt fürs Christentum, den Islam und jede andere Glaubensrichtung. Zehra und ich haben jetzt unsere silberne Hochzeit gefeiert. Wir sind sehr glücklich miteinander. Wir haben drei gemeinsame Kinder, die sich in der evangelischen Kirche engagieren. Meiner Auffassung nach sollte sich Religion niemals gegen die Liebe stellen, sondern sie immer unterstützen.

Infolge der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie, des Krieges in der Ukraine erleben wir eine starke Polarisierung der Gesellschaft. Wie geht es weiter? Was ist Ihre Prognose?

Blume: Wir alle stehen vor der Charakterfrage. Gerade auch wir Männer. Große Teile der Welt werden unbewohnbar werden. Es wird sogenannte Archeregionen geben, in denen Menschen überleben können. Wir alle stehen da vor der Herausforderung, die Menschen zu beschützen, die uns anvertraut sind, aber eben auch ein großes Herz gegenüber denen an den Tag zu legen, die bei uns Schutz suchen. Dies wird die Herausforderung des 21. Jahrhunderts werden. Sind wir Männer fähig, echte Partner zu sein, zu lieben statt zu hassen? Das wird die Aufgabe von uns Männern sein!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Heißer Lesetipp für den Sommer:

„Eine Blume für Zehra – Liebe bis zu den Pforten der Hölle“ (bene!) Andreas Malessa erzählt eindrücklich die Liebes- und Familiengeschichte von Blumes. Ein packendes Stück deutscher Geschichte im Kleinformat.

Symbolbild: andresr / E+ / Getty Images

Für ungehemmten Sex: Warum sich Sterilisation beim Mann lohnt

Heiko Kienbaum und seine Frau haben genug vom „Nachwuchsroulette“ und wollen wieder sorglos den Sex genießen. Die Lösung: Heiko lässt sich sterilisieren.

„Zum Goldenen Horn” – allein der Straßenname löst in mir noch heute einen Schmunzler aus. Das Wissen, dass dies die Adresse eines Urologen mit Spezialisierung auf „Vasektomie“, also Sterilisation des Mannes, ist, gibt dem Straßennamen nochmal eine süffisante Note, wie ich finde. In wenigen Minuten betrete ich die urologische Praxis im Süden von Berlin. Überall an den Wänden hängen humoristische Illustrationen zu den Themen „Mannsein” und gelebte Männlichkeit. Bei den Zeitungen finden sich „Men’s Health-Gesundheitsmagazine”, Barbecue-Grill-Magazine mit wirklich fleischigen Gourmettipps, Outdoor- und Karrierehefte komplettieren das Literaturangebot. Hier weiß wohl jemand, was wahre Männer lesen.

Bin ich jetzt noch ganz Mann?

Normalerweise ist das alles nicht ungewöhnlich, aber für mich in diesem Moment schon. Es fühlt sich für mich an, als würde mir nochmal so kurz, bevor es losgeht, das „echte” Mannsein präsentiert, bevor dann „Dr. Schnipp Schnapp” sein Skalpell an meinen Sack anlegt und das alte Leben abschneidet bzw. durchtrennt. Mir wird mulmig zumute. So ein Quatsch, antwortet mein „Verstand” in Richtung meines „Gefühls” und konstatiert übertrieben selbstbewusst: „Das Durchschneiden zweier Samenleiter ändert nichts, aber rein gar nichts an meiner Männlichkeit.” Das Gefühl flüstert und fragt zurück: „Und was, wenn doch? Dann ist’s zu spät, einmal schnipp und die Nummer ist durch. Danach isst du nur noch vegan und trinkst den ganzen Tag Decaf Latte Macchiato mit Hafermilch. Das, was dich als Mann ausmacht, deine ‚Identität‘, deine ‚Fruchtbarkeit‘ ist erledigt. Willst du das wirklich?”

Während ich noch in dem Gedanken verharre, springt die Tür vom Wartezimmer auf und ein dynamischer End-50er-Herr im weißen Kittel kommt mir entgegen. „Herr Kienbaum”, tönt er, „schön, dass Sie da sind. Na dann wollen wir mal, bevor man sich dit anders überlegt, wa?” Äh, stimmt. „Ich komme”, antworte ich etwas zurückhaltender.

Die Überlegungen zur Vasektomie gab es wirklich nicht erst seit gestern. Immer wieder gab es zwischen mir und meiner Frau die Frage, wie das Thema Familienplanung nach der Geburt unserer drei Kids so ganz praktisch für uns in Zukunft aussehen sollte. Ich erinnere mich noch gut, wie oft dieses Thema für uns und unsere Freunde eine Art „Running Gag” war, wenn wir uns trafen und wieder mal miteinander folgenden Satz teilten: „Hui, diesmal, also, könnte es aber wieder knapp gewesen sein …“ „Ah echt, bei euch auch?“ „Schließt doch mal ein Schwangerschaftstest-Abo ab.“ Danke für den Tipp, Freunde.

Sex ohne Hormone und Kondome

Irgendwann nervte das Thema „Was ist, wenn nochmal (ungeplanter) Nachwuchs kommt?” so sehr, dass eine Entscheidung hermusste. Die Fragen, die uns beschäftigten, waren vielschichtig: War unsere Nachwuchsplanung abgeschlossen oder wollten wir nicht doch nochmal den Zauber eines neugeborenen Kindes erleben? Unsere Tochter wünschte sich doch auch noch eine jüngere Schwester … Und was ist eigentlich mit der Glaubensebene? Etwas evangelikal geprägt war das durchaus eine Frage, ob man(n) sozusagen so drastisch in das Thema „Fruchtbarkeit“ eingreifen darf?! Stück für Stück merkten wir, dass wir als Familie und als Paar mit unseren Lebensplänen nicht mehr in Richtung Familienvergrößerung dachten, und so entschieden wir dankbar, dass wir unseren Lebensfokus auf andere Dinge als eine nochmalige Kleinkindphase legen wollten. Und ja, natürlich war auch Sex ein Thema. Wir spürten auch, wie uns die Unklarheit in dieser Entscheidung in diesem Bereich hemmte. Noch ein Grund zu handeln. Denn die hormonelle Behandlung bei der Frau schied aus. Kondom? Diese Entscheidung haben wir dann schon beim nächsten Mal bereut.

Die innerliche und dann auch physische Checkliste für mich und für uns wurde immer klarer:

Auf Sex ab Ende 30 verzichten: Nein.

Warten mit dem Sex, bis meine Frau in der Menopause ist (puh, könnte lang werden, sie war damals 36): Nein.

Frau soll Hormone schlucken, sich diese unter die Haut ballern oder Gerätschaften in die Gebärmutter einsetzen lassen (irgendwie wollte ich das auch nicht – und sie auch nicht, also): Nein.

Frau sterilisieren lassen – denkbar, aber nicht unaufwendig: Nein.

Mann sterilisieren lassen – viel einfacher, warum nicht?: Ja!

Gamechanger im Freundeskreis

Echt jetzt, als Mann sterilisieren lassen? Wer macht denn sowas? Ich weitete meinen Blick. Kenne ich jemanden, der das gemacht hat? Kenne ich jemanden, den das auch betreffen könnte? Der Gedanke war für mich ein Gamechanger in dem Spiel „Nachwuchsroulette”. Ich fragte rum in unserem Freundeskreis und siehe da, die Mehrheit in unserem Umfeld in der Lebensphase zwischen Mitte 30 bis Anfang 40 inklusive ein bis vier Kinder beschäftigen sich genau mit diesem Thema! Es war auf einmal gar kein Tabuthema mehr. Von daher: Redet mit euren Freunden über dieses Thema. Unsere Gespräche waren so unfassbar erfrischend. Was haben wir über die gleichen „Herausforderungen” miteinander gelacht!

„Ich kann’s auch mit verbundenen Augen, soll ich? Herr Kienbaum?” „Dr. Pullermann” steht vor mir mit einer kleinen Betäubungskanone, wenige Zentimeter von meinem Gemächt entfernt. „Machen Sie sich keine Sorgen”, so der Dr. weiter, „ich habe das über 10.000 mal durchgeführt, ich kann so einen Samenleiter zwei Meter entfernt, mit verbundenen Augen und leicht angetütert sauber durchtrennen.” Ich wollte immer wissen, wo meine persönliche Humorgrenze angesetzt ist – hier war sie erreicht und ich antwortete recht zurückhaltend, dass es mir lieber wäre, er würde auf Nummer sicher gehen. Keine 30 Minuten später war der Spuk vorbei und ich stand mit hochgezogener und geschlossener Hose, etwas wackelig und breitbeinig wieder auf der Straße und machte mich auf den Weg zu meinem Auto. Als Abschiedsgruß des Dr. hatte ich noch im Ohr: „Herr Kienbaum, uffm Rückweg holen sich zwee schöne kalte Flaschen Pils, eine für in den Körper und eine für an den Körper, und schonen Sie sich ein paar Tage. Und vergessen Sie nicht nach 30 Ejakulationen zur Nachkontrolle ’ne Probe abzugeben. Erst dann kriegen Sie ’ne Freigabe von mir. Melden Sie sich, wenn was ist, hier ist meine Nummer.”

Den restlichen Tag verbrachte ich mit Kühlpacks auf der Hängematte am Balkon mit Blick auf die Spitze des Berliner Fernsehturms. Apropos Spitze, richtig spitze und so richtig männlich war das Gefühl danach: Nämlich das Thema „Familienplanung” in Abstimmung mit meiner Frau total konstruktiv und in Eigenverantwortung übernommen und einen Weg gewählt zu haben, der für alle Beteiligten passt und sinnvoll erscheint. Danke an dieser Stelle an meinen Special Doc aus Berlin. Er ist ein Meister seines Fachs und der etwas derbe Berliner Humor hat mir sehr gutgetan. Ich gehöre zur Gattung Mann, die schon bei kleinsten Schmerzen heult und jammert (siehe Männergrippe und Zahnarzt), aber das Kopfkino vor dem Eingriff war um ein Vielfaches schlimmer als in der Realität.

Nicht schlimmer als die Männergrippe

Da wir jetzt schon (fast) Fachleute von „Samenleiterdurchtrennungen” sind: Meine gewählte Methode war die sogenannte „Non Skalpell Methode”. Vergnügungssteuerpflichtig ist die ganze Sache natürlich nicht. Mit ein paar Tagen ziehendem Schmerz in der Leistengegend und Druckempfindlichkeit der Hoden müsst ihr rechnen. Aber wer schon mal ’ne Männergrippe überstanden hat, wird hieran nicht verzweifeln. Versprochen! Mein Tipp an jeden Mann: Zieht diese Form der Verhütung ernsthaft in Betracht, lasst euch darauf ein, einmal komplett vorbehaltlos von Gesellschafts-, Gender- oder religiösen Rollenbildern darüber nachzudenken, und – ganz wichtig! – sucht euch einen Arzt und eine Durchführungsmethode, die zu euch passen. Und wenn Kopf und Herz dann zusammen unterwegs sind, dann zieht es durch, am besten gemeinsam im Freundeskreis, und danach: Feiert das Leben und genießt diese neue Art der Sexualität. Es lohnt sich! Und es hat meiner männlichen Identität keinen Abbruch getan.

Heiko Kienbaum ist Autor von „Was Paare glücklich macht”. Zusammen leiten er und seine Frau das C-STAB Werte-Netzwerk für christliche Therapeut:innen, Berater:innen und Seelsorger:innen und Coaches. c-stab.net

Weiterführende Quellen:

  • quarks.de/gesundheit/medizin/das-solltest-ueber-eine-vasektomie-wissen/
  • vasektomie-experten.de
  • vasektomie-experten.ch
Angst Gefühle Frau

Emotionales Judo: So gehen Sie richtig mit negativen Gefühlen um

Negative Emotionen wie Angst und Wut haben einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, sagen Psychologen. Denn: Sie signalisieren Probleme und können so zu einem besseren Leben verhelfen.

„Und morgen bringe ich ihn um!“ betitelte die langjährige Chefsekretärin Katharina Münk ihre Arbeitsbiografie über den Dschungel des deutschen Top-Management, wo neben echten und selbsterklärten Lichtgestalten auch Machiavellisten, Narzissten und Soziopathen unterwegs sind. „Und morgen bringe ich ihn um!“, werden auch manche kurz über Partner, Arbeitskollegen oder den eigenen Chef gedacht haben, um es zum Segen für den Auslöser dieses inneren Wutausbruchs und das eigene Lebensglück dann doch nicht zu tun.

Wut, Abscheu, Angst und Trauer. Das sind vier der wichtigsten Emotionen, die wir umgangssprachlich und auch die Psychologie im Fachbegriff als „negativ“ labeln. Natürlich kann uns auch die Freude überwältigen, doch damit haben wir meist selbst kein großes Problem und gesellschaftlich akzeptiert ist es auch.

Was aber machen wir mit unseren „negativen Emotionen“? Ausagieren? Uns darin suhlen? Wegdrücken? Wahrscheinlich kennen wir alle diese spontanen Reaktionen; haben schon erlebt und erlitten, dass uns keine dieser drei Strategien wirklich guttut. Die richtige Antwort lautet „Emotionales Judo“ oder wie es die Harvard-Psychologin Susan David nennt: „Emotionale Agilität“.

Endgegner Emotion?

Wenn wir einem übermächtigen Gegner begegnen, der viel stärker ist als wir selbst, hilft keine direkte Konfrontation, allenfalls Ergeben oder Davonlaufen. Oder aber wir nutzen wie die zierliche und agile Black Widow in den Marvel-Filmen, die Kraft dieses Gegners zu unserem Vorteil, um ihn mit Judo-Technik auszuschalten.

Nicht anders ist es mit unseren Emotionen. Auch diese sind so kraftvoll, dass sie uns zu Bestleistungen motivieren oder aber uns völlig lähmen oder zu unbedachten Kurzschlusshandlungen antreiben können.

Emotionen sind mächtig: Nicht umsonst sagen wir, dass uns Angst, Wut oder Trauer „überwältigen“ würden, so als seien unsere Gefühle übermächtige Kämpfer, die stärker sind als wir. Gleichzeitig begegnen uns Appelle wie „Sei doch nicht so emotional!“ oder „Bleiben Sie bitte sachlich!“, in denen Emotionen eher als hinderlich denn als hilfreich erscheinen.

Sind Emotionen also die „bad guys“ unserer Innenwelt? Nein im Gegenteil, unterstreicht der Neurologe Antonio Damasio und berichtet von Menschen, die aufgrund von Hirntraumata keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben: Diese finden trotz klarer und schlüssiger rationaler Überlegungen nicht mehr zu den einfachsten Entscheidungen.

Sein Fazit: Emotionen sind lebensnotwendig und unverzichtbare „Wegweiser“, um durchs Leben zu finden. Sollten wir dann nicht wenigsten versuchen uns auf die positiven Emotionen zu fokussieren? Nein, sagt die Harvard-Psychologin Susan David. Wer Emotionen ausagiert, sich ihnen in Gedanken hingibt oder innerlich wegsperrt, riskiert seine Gesundheit, verliert ihre motivierende Kraft und geht an der Fülle des Lebens vorbei. Was aber kann dann funktionieren?

Annehmen – Wahrnehmen – Lenken

Susan David hat für den gesunden Umgang mit Gefühlen eine Form des Emotionalen Judo entwickelt, die sie als Emotionale Agilität bezeichnet. Sie wendet sich entschieden gegen eine starre moralische Unterteilung von Emotionen in „positive“ und „negative“, die entweder zu fördern oder zu bekämpfen wären. Stattdessen plädiert sie für einen flexiblen oder eben „agilen“ Umgang mit diesen machtvollen Motoren unserer Innenwelt.

Ihr Rat ist es, die volle bewegende Kraft der Emotionen zu nutzen, ohne sie zu bewerten, zu verdrängen oder unkontrolliert nachzugeben. Vielmehr gilt es die Gefühle wie einen mächtigen Fluss als Kraftquelle zu erkennen, zu nutzen und zu lenken und so zum Erreichen der eigenen Ziele und Werte zu nutzen.

Diese Emotionale Agilität ist dabei keine Raketenwissenschaft, sondern ein einfacher innerer Prozess, der sich durch beharrliches Üben immer besser erlernen lässt. Die nötigen vier Schritte lassen sich sinnigerweise auch durch die Merkformel J.U.D.O. beschreiben:

  • J/a sagen zu der konkreten Emotion
  • U/nmittelbaren Impulsen widerstehen
  • D/urchschauen der Emotion
  • O/rientieren und Handeln nach den eigenen Werten

Was ist damit im Einzelnen gemeint?

Ja sagen

Unser Gehirn schleust jede unserer Sinneswahrnehmungen zunächst durch den „emotionalen Teil“ unseres Gehirns, das Limbische System. Anschließend landen diese dort, wo – bei den meisten hoffentlich – der Verstand sitzt, nämlich im Großhirn. Was hier so flapsig ausgedrückt ist, nennt der Nobelpreisträger Daniel Kahneman „schnelles Denken“ im Gegensatz zum verstandesmäßigen „Langsamen Denken“.

Anders als für besser wohlbedachte Lebensentscheidungen brauchen wir für überlebenswichtige Entscheidungen im Dschungel oder im Straßenverkehr (was häufiger der Fall ist) ein „schnelles Denken“, um scheinbare Gefahren abzuwenden. Auch wenn diese sich als ungefährlich erweisen sollten. Wer das Aufblitzen eines Lichtes, das in Wirklichkeit eine zufällige Spiegelung in der Rückscheibe ist, für die Lichthupe eines Lasters hält, wird diesen Irrtum wahrscheinlich überleben. Umgekehrt eher nicht.

Darum sind Angst und Wut, die beiden Signalemotionen für Gefahren, zusammen mit den anderen Gefühlen unserer Psyche so fest verdrahtet. Ohne bewusste Steuerung verursachen diese beiden Gefühle in unserer komplexen Welt der Neuzeit dann leider einen Dauer-Stress, der uns mental und körperlich krank machen kann. Ohne kreative Kontrolle bringen sie uns in Bedrängnis: Wenn wir aus Angst Arbeiten oder wichtige Gespräche vor uns herschieben oder bei Meinungsverschiedenheit im Privatleben und der Arbeitswelt „eskalieren“.

Also doch verdrängen, die Emotionen unter die Knute der Selbstbeherrschung zwingen? Eben nicht, meint Susan David, denn dann stehen uns die wertvollen Informationen, die unsere Gefühle mit sich bringen, und deren Energie nicht mehr zur Verfügung.

Darum empfiehlt sie, die Emotionen zunächst zu akzeptieren. Ja zu sagen dazu, dass die Emotion jetzt da ist, ohne sie zu zensieren. Im Gegenteil, je genauer wir sie benennen, desto genauer finden wir den Weg zur eigentlichen Ursache des Gefühls und die liegt nur zum Teil im Außen.

Doch um diesen Weg zu finden, braucht es zunächst eine Kontaktaufnahme; wie auch im Judo der Gegner (oder meist Partner) nicht freihändig geworfen werden, sondern erst ein enger Körperkontakt nötig ist. Und dann braucht es auch noch einen Zwischenschritt – die Impulskontrolle.

Unmittelbaren Impulsen widerstehen

Haben wir akzeptiert, dass wir in einer Situation starke Emotionen empfinden, geht es im nächsten darum, nicht die naheliegendste Reaktion zuzulassen. Die ist meist eine Form des Widerstandes oder der Flucht.

„Einem Druck gibt man nach, einem Zug geht man nach“, haben mich meine Judo-Meister gelehrt. Also einem Stoß keinen Widerstand entgegensetzen und einem Zerren nachgehen. Darum heißt es im Judo „Siegen durch Nachgeben“.

Ebenso können wir mit Gefühlen besser umgehen, wenn wir sie als Wegweiser betrachten, anstatt als konkrete Handlungsanweisungen. Wenn wir also auf Wut nicht sofort mit Angriff, auf Angst mit Flucht oder auf Trauer oder Abscheu mit Rückzug reagieren.

Dieses Innehalten braucht viel Übung, denn unsere Biologie legt eigentlich die Unmittelbarkeit von Reiz und Reaktion nahe. Bei uns Menschen gibt es zwischen Reiz und Reaktion einen Raum, in dem unsere menschliche Freiheit liegt. So formulierte es der Psychiater und Holocaust-Überlebende Viktor Frankl. Und schon der Apostel Paulus ermahnt die Griechen in Ephesos kurz nach der Zeitenwende: „Zürnt ihr, so sündigt nicht“.

Wie aber können wir diesen Raum zwischen Reiz und Reaktion einnehmen? Unser innerer Dialog kann hier eine Hilfe sein: Ich kann sagen „Ich bin wütend“ und mich so mit der Wut identifizieren und gleichzeitig den Anlass für die Wut tilgen. Oder ich sage „Dieser Satz, diese Tat MACHT mich wütend“ und habe mir damit zumindest den Blick auf die Situation bewahrt, anstatt mich der sprichwörtlichen „blinden Wut“ zu ergeben.

Mit der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg lässt sich diese Entkoppelung von Reiz und Reaktion noch einen Schritt weitertreiben. Wenn wir sagen „Wenn ich diesen Satz hören, diese Tat wahrnehmen, dann empfinde ich Wut“, lösen wir uns von dem unmittelbaren und wie wir gleich sehen werden nicht vollständigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang.

Susan David betont außerdem, wie wichtig es ist, das Gefühl möglichst genau zu benennen. So erkennen wir noch klarer, worauf die Emotion verweist. Das hilft dabei den nächsten Schritt zu gehen, nämlich hinter die Emotion zu blicken und Werte und Bedürfnisse zu erkennen.

Durchschauen der Emotion

Im Judo führt ein Schlag von oben letztlich auf den Boden und ein Judoka, der diesen Schlag nicht abwehrt, sondern aufnimmt, wird seinen Gegner in einer geschmeidigen Kreisbewegung zu Boden bringen. Genauso bei der Emotionalen Agilität, dem Judo mit Gefühlen.

Wenn wir etwa die Angst zulassen, im Beruf bei einer Präsentation zu versagen, können wir erkennen, was wir genau befürchten: Die Angst, zu spät zu kommen, die Technik könnte nicht funktionieren, wichtige Menschen könnten Einwände gegen bestimmte Ideen haben, die Liste ließe sich fortsetzen. Jedes Detail dieser angstmachenden Vorstellung kann zu einem Punkt auf einer Checkliste werden, die den Erfolg absichert. Wenn wir die Angst zulassen, können wir Fluchtimpulse wahrnehmen und in ein produktives Erkennen der möglichen Pannen umleiten.

Hinter der Angst, wie auch hinter den anderen Emotionen wie Wut, Abscheu oder Trauer stehen wichtige Bedürfnisse oder individuelle Werte, die zusammen mit der Situation die Emotion auslösen. Erst die Kombination von Situation und Werten gibt den Emotionen ihre „explosive“ Kraft. Haben wir den Zusammenhang und die Dynamik der Situation erkannt, können wir lenkend eingreifen. So nutzen wir den Schwung und die Energie der Emotion, um unsere Bedürfnisse und Werte zu verfolgen und zu verwirklichen.

Orientieren an den eigenen Werten

Viktor Frankls Satz vom Raum zwischen Reiz und Reaktion zeigt, dass wir diese Freiheit konstruktiv oder destruktiv nutzen können. Eine garstige Bemerkung des Partners kann in einem Streit enden oder darin, dass das schmutzige Geschirr, das den Anlass für die Bemerkung abgab, in einem dosierten Anfall von Arbeits-WUT in Windeseile gespült und verräumt ist.

Dazu braucht es Klarheit über und gelebte Orientierung an den eigenen Werten: Wer in der Beispielsituation den Ärger über das eigene schlechte Gewissen als solchen anerkennen und dem Partner ehrlich kommunizieren kann, der kann dann auch vorweg eine persönliche Erklärung dafür abgeben, wenn es anschließend beim Abspülen etwas lauter zugeht, und so weiteren Streit vermeiden.

Im Judo wird die Energie des Angriffs durch Nachgeben, Kontakt herstellen, Lenken und Weiterführen ausgenutzt und im Wurf in den Boden abgeleitet. Wenn wir entsprechend agil Emotionales Judo anwenden, dann bringen uns unsere starken schützenden Gefühle, die so leicht als negativ abgestempelt werden, in Kontakt mit dem, was uns am wichtigsten ist, sprich unseren Bedürfnissen und Werten. Und wenn wir diese mächtige emotionale Energie nicht durch Unterdrücken oder destruktives Ausagieren vernichten, gelingt es uns immer mehr ein emotional reiches Leben zu führen und unsere Bedürfnisse und Werte verwirklichen.

Anfangen!

Der Weg der Emotionalen Agilität lässt sich wie der sanfte Weg des Judo nicht durch Umlegen eines Schalters gehen, ebenso wenig wie sich der Jakobsweg durch Buchen einer Busreise zum Startpunkt in den französischen Pyrenäen gehen lässt. Das „DO“ in Judo steht im Japanischen für einen Übungsweg, den es lebenslang zu gehen gilt. Auch die Emotionale Agilität braucht Übung, wenn die emotionale Beweglichkeit erlangt und erhalten werden soll. Sinnigerweise steht „DO“ im Englischen auch für TUN. Darin liegt der Erfolg auf dem Weg, Emotionales Judo zu erlernen. Das bedeutet: Anfangen und durchhalten.

Michael Stief  (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Symbolbild: pixelfit / E+ / Getty Images

Brainstorming wird 80 – Warum der gefeierte Jubilar in den Ruhestand gehört

Unternehmensexperte Rainer Wälde hält Brainstorming für überschätzt. Er empfiehlt eine bessere Methode, um innovative Lösungen zu finden.

Brainstorming feiert in diesem Jahr bereits den 80. Geburtstag. 1942 veröffentlichte Alex F. Osborn sein Buch „How to Think Up“ und ermutigte dazu, das Gehirn zu stürmen, um neue Ideen zu generieren. Seitdem wird diese Methode in zahlreichen Firmen und Teams eingesetzt. Auch ich habe in meiner beruflichen Laufbahn an vielen Brainstorming-Sessions teilgenommen. Doch bereits seit 30 Jahren ist klar, dass Brainstorming nicht wirklich effektiv ist. 1991 haben Mullen, Johnson und Salas dazu eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht: Productivity Loss in Brainstorming Groups. Woran liegt es, dass es dennoch immer noch so beliebt ist?

Brainstorming: Einer redet

Ich persönlich glaube, dass dies an der Einfachheit liegt: Ein Moderator stellt eine Frage, alle Teilnehmer denken laut, niemand darf kritisieren. Das Gesagte wird protokolliert. Doch in der Praxis habe ich häufig beobachtet, dass bei mir und anderen Teilnehmern mehr Ideen sprudeln, als gesagt werden können. Häufig reden nur die Extrovertierten, die Gedanken der eher Stillen finden wenig Raum.

Etliche Jahre war ich auch als Firmenbeirat in verschiedenen Unternehmen eingeladen. Ich erinnere mich sehr gut an die Brainstorming-Runden in einem Verlagshaus. In dieser Runde entstanden sehr viele Ideen für neue Bücher und neue Autoren. Doch in den folgenden Monaten hatte ich nicht den Eindruck, dass diese zumindest teilweise auch umgesetzt wurden. Zu viel kreatives Potenzial ging verloren. Das hat mich als Teilnehmer frustriert. Kürzlich habe ich einen sehr interessanten Beitrag im „Magazin für Neue Arbeit“ gefunden. Die Neue Narrative #14 zitiert den Sozialpsychologen Stefan Schulz-Hardt: „Menschen genießen die soziale Situation, die beim Brainstorming entsteht, überschätzen dabei aber das Ergebnis und den Anteil ihrer eigenen Ideen.”

Brainwriting: Alle sprudeln vor Ideen

Als Alternative stellen die Autoren das Brainwriting vor. Statt zu reden, schreibt jeder in der Stille seine Ideen auf. Diese Post-its werden dann an ein Board geklebt und in der zweiten Phase können die anderen Teilnehmer diese Ideen weiterspinnen.

Nun muss ich zugeben, dass meine Frau und ich diese Methode schon seit 21 Jahren regelmäßig praktizieren, allerdings kannten wir damals den Begriff „Brainwriting” noch nicht. Seit der gemeinsamen Gründung unserer Akademie 2001 schreibt jeder für sich seine Ideen zuerst alleine auf Pin-Kärtchen, dann clustern wir diese Ideen und entwickeln daraus unsere private und berufliche Strategie.

Auch bei meinen Büchern arbeite ich seit zwei Jahren mit dieser Methode. Ob Roman oder Ratgeber – ich notiere alle Ideen zuerst auf Haftnotizen. Dann entwickle ich an der Wand in meinem Büro die gesamte Gliederung des Buches. Mit dieser Methode des Brainwritings gelingt es mir, innerhalb von acht Wochen die Rohfassung eines neuen Romans zu schreiben. Anschließend diskutiere ich mit drei Testlesern den Entwurf – auch das gehört zu diesem Gruppenprozess. Ihr Feedback hilft mir dann, die finale Fassung zu erstellen.

Ich bin überzeugt, dass eine gute Mischung aus Einzelarbeit in der Stille und co-kreativer Zusammenarbeit im Team zu guten Ergebnissen führt. Nehmen Sie sich die Zeit, um alleine über die eigentliche Frage nachzudenken, für die Sie eine Lösung suchen. Was ist der Kern des Problems? Notieren Sie Ihre Gedanken auf bunten Haftzetteln und sortieren Sie diese anschließend auf einem Board, an einem Fenster oder einer Zimmertür. Beteiligen Sie Kollegen aus Ihrem Team oder externe Berater und diskutieren Sie Ihre ersten Ideen und Lösungsansätze. Ich bin mir sicher, dass Sie in dieser Mischung erstaunlich innovative Ideen und Lösungen finden.

Rainer Wälde leitet mit seiner Frau die Gutshof Akademie bei Kassel. Als Autor hat er 30 Bücher veröffentlicht. Zuletzt die erfolgreiche Krimi-Reihe um Kommissar Timo von Sternberg. www.nordhessenkrimi.de

Nelson Müller (Foto: Nina Stiller Photography)

Starkoch Nelson Müller ließ sich mit 34 Jahren adoptieren

Der Schwabe Nelson Müller ist bekannt als Gastronom, Sterne- und TV-Koch. Ein Gespräch über seine Leidenschaft für gutes Essen, seine Frikadelle für die Queen und seine Familiengeschichte.

Her Müller, was mögen Sie lieber: Maultaschen und Kartoffelsalat oder Linsen mit Spätzle und Saitenwürstchen?

Nelson Müller: (lacht) Schwierige Frage. Beides ist so lecker. Ich möchte auf beides nicht verzichten.

Welches Essen haben Sie als Kind gar nicht gemocht?

Müller: Erbsen und Möhren. Damals gab es dieses Gemüse allerdings auch nur aus der Dose und hatte nichts mit dem frisch gekochten Gemüse zu tun. Auch um Zucchini habe ich zum Leidwesen meiner Mutter einen großen Bogen gemacht.

Wurde Ihnen die Leidenschaft für gute Gerichte schon in die Wiege gelegt?

Müller: Kulinarik war Teil meiner Lebenskultur. Wir haben als Familie immer zusammen gegessen. Am Mittagstisch, beim Abendessen war gutes Essen immer ein Thema.

Das kocht Nelson Müller am liebsten

Wann war Ihnen klar: Ich werde Koch?

Müller: Mit sechs, sieben Jahren war der Wunsch eigentlich schon da.

Welche Gerichte kochen Sie am liebsten und warum?

Müller: Die klassische Küche steht bei mir ganz oben an. Hausmannskost ein bisschen upgegradet, ein bisschen schicker, finde ich spannend und lecker.

Was kocht sich Nelson Müller privat? Oder bleibt die Küche abseits des Berufes kalt?

Müller: (lacht) In der Tat bleibt der Herd zu Hause meist aus, da ich in der Küche mit meinem Team, meinen Gastgeberinnen und Gastgebern esse. Das macht Spaß. Wir kochen immer frisch.

„Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen“

Wann sind Sie als Koch glücklich?

Müller: Wenn es ein guter Abend war mit guten Gästen, wir gut als Mannschaft performt haben. Es beflügelt mich, wenn Energie in der Luft liegt, der Laden brummt, richtig was aus der Küche rausgeht, flotte Sprüche zwischen den Teams hin- und herfliegen.

Geht die Gleichung „lecker gleich aufwendig und kompliziert“ Ihrer Überzeugung nach auf? Verraten Sie uns mal Ihre Kochphilosophie.

Müller: Die Mischung macht’s. Es darf auch mal etwas Aufwendiges sein, dann aber auch wieder etwas überraschend Einfaches. Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen. Es gibt einfach Gerichte, die sind so, wie sie sind, lecker, da muss man sich eher in der Kunst des Weglassens üben.

Warum muss es Ihrer Überzeugung nach auch bei Männern nicht immer nur Fleisch, Fleisch, Fleisch geben?

Müller: Wir tun gut daran, wenn wir etwas für unsere Gesundheit tun. Wir essen zu viel Fleisch. Mit reduziertem Fleischkonsum können wir etwas zum Klima- und Umweltschutz beitragen. Mein Credo lautet: lieber weniger, dafür Qualität. Auch hier heißt es für mich: Abwechslung in die Mahlzeiten bringen. Ich bin so aufgewachsen, da gab es nicht jeden Tag Fleisch. Da kamen auch Pfannkuchen, Nudelgerichte, Suppen, Grünkohlbratlinge auf den Teller.

Die Queen zu Gast

Sie haben für Ihr Kochen einen Michelin-Stern erhalten. Wie fühlte es sich an, als Sie davon erfuhren?

Müller: Das war ein überwältigendes Gefühl! Ich habe lange Zeit in der Sternegastronomie gearbeitet und deshalb war es natürlich auch immer mein Ziel, das auch selbst zu erreichen. Ich hatte es gar nicht für möglich gehalten.

Ist es schwieriger, Sternekoch zu werden oder es zu bleiben?

Müller: Ich glaube, es ist schwieriger, es zu werden. Man muss ja erst mal die Tester überzeugen.

Sie haben auch schon für die jetzt verstorbene Queen gekocht. Wie war das?

Müller: Die Queen hatte sich für einen Besuch in Düsseldorf angekündigt. Klar, das riesige Buffet für solch einen hochkarätigen Gast musste mehr als perfekt sein. Wir haben uns eine Woche lang vorbereitet. Ich war unter anderem für die Frikadellen zuständig. Eine dieser Köttbullar hat die Königin gegessen. Ob es ihr geschmeckt hat, weiß ich nicht. Der Rummel um dieses Essen war jedenfalls gigantisch und aufregend.

Vater Müller als Vorbild

Als Sie auf Sylt die Ausbildung in einem Restaurant begannen, hat man Sie am ersten Tag an die Spüle geschickt, weil man Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe für einen Küchenhelfer hielt. Wie gehen Sie mit dieser Art Rassismus um?

Müller: Inzwischen rede ich nicht mehr über das Thema. Das schwebt bei mir nicht oben drüber. Wir sind eine bunte Gesellschaft. Das ist normal. Punkt. Ich spreche lieber über die Küche, gute Kochbücher, mein Unternehmersein.

Mit vier Jahren kamen Sie in eine deutsche Pflegefamilie. Wie haben Sie Ihren Pflegevater erlebt? Stand dieser auch am Herd?

Müller: Natürlich. Er stand am Herd und am Grill. Meine Eltern waren sehr aufgeklärt und modern. Dies wurde uns auch vorgelebt. Da lernte ich schon, dass Männer im Haushalt helfen, Staub saugen, Küche putzen, Müll rausbringen.

Was sind Eigenschaften, die Sie in erster Linie mit Ihrem Vater verbinden, Werte, die er Ihnen vermittelt hat?

Müller: Mein Vater ist ein sehr zurückhaltender Mensch. Er atmet das Credo: Wer etwas zu sagen hat, muss nicht laut sein. Er konnte sich auch in die zweite Reihe stellen und da etwas bewirken. Er ist Jahrgang 1935 und hat dadurch eine ganz andere Beziehung zu Lebensmitteln und dem Alltagsleben. Jedes Brot wurde gesegnet, vor jedem Essen wurde gebetet. Sauberkeit war für ihn ein wichtiges Thema. Er war als Junge in einem katholischen Knaben-Gymnasium und hatte deshalb schon eine genaue Vorstellung, wie ich mich benehmen sollte. Vater hat als Ingenieur viel Wert auf meine Bildung, mein Allgemeinwissen, meine Sprache gelegt. Das waren wichtige Gesprächsthemen am Essenstisch.

Konflikthemen zwischen Vater und Sohn

Gab es spezielle Sachen, die Sie nur mit Ihrem Vater gemacht haben?

Müller: Wir hatten einen Gemüsegarten. In dem haben wir viel zusammen gearbeitet. Das war für ihn ein Ausgleich zum Alltag. Sonntags sind wir gemeinsam in die Kirche gegangen. Und wir haben viel miteinander musiziert.

Vermutlich gab es in Ihrer Vater-Kind-Beziehung auch Konflikte. Woran haben Sie sich gerieben?

Müller: Ich bin mit der Hip-Hop-Kultur groß geworden. Das war meinem Vater manchmal zu modern. Ich bin zudem von meinem Naturell her Künstler und Musiker. Mein Vater hingegen der klassische Mathematiker. Das sorgte schon für Reibungsenergie, aber heute rettet mich sein Training. Gerade als Unternehmer benötige ich Struktur und kaufmännisches Wissen. Das zahlt dann auf das ein, was er gut findet. (lacht)

Und heute?

Müller: Ist er mir auch als 87-Jähriger ein wertvolles Gegenüber auf Augenhöhe. Er steht hinter mir, stärkt mir den Rücken. Ist stolz auf mich und sagt mir: Nelson, gut gemacht!

„Schwabe mit ghanaischen Wurzeln“

Mit 34 Jahren haben Sie sich von Ihren Eltern adoptieren lassen. Wieso war Ihnen das zu dem Zeitpunkt wichtig?

Müller: Ich habe mich immer von Herzen als ein Müller gefühlt. Wir haben es 30 Jahre gelebt, aber nicht auf dem Papier vollzogen. Mir war es wichtig, das jetzt auch in Form zu gießen und zu signalisieren: Ich gehöre ganz zur Familie.

Müller ist ja sozusagen der deutscheste aller deutschen Namen. Gibt es Eigenschaften, die Sie an sich erkennen, die Sie als typisch deutsch oder gar schwäbisch einschätzen – und umgekehrt Eigenschaften, die so gar nicht dem Klischee des Deutschen oder Schwaben entsprechen?

Müller: Ich bin Schwabe mit ghanaischen Wurzeln. Viele, die mich kennen, sagen: Du bist sehr deutsch. Aber auch die afrikanischen Wurzeln kommen mir zugute: Lockerheit. Sich mit anderen freuen, ihnen etwas gönnen. Dankbarkeit. Ich muss nicht alles so ganz genau nehmen.

Könnte aber beim Kochen schiefgehen …

Müller: (Lachen, gespielt energisch) Da halte ich mich natürlich ganz genau ans vorgegebene Rezept. Im Ernst: Beim Kochen kann ich es auch genau nehmen. Ich kann aber auch mal fünf gerade sein lassen.

„Ich bin Christ“

In der RTL-Aufführung „DIE PASSION“ haben Sie Fladenbrot und Currywurst fürs letzte Abendmahl verkauft. Spielt der christliche Glaube auch in Ihrem wirklichen Leben eine Rolle?

Müller: Ich bin Christ. Ich beschäftige mich damit. Es geht darum, dass wir gute Spuren hinterlassen. Ehrfürchtig sind, verantwortungsvoll vor Gott leben im Sinne von: Was wir von anderen erwarten, ihnen auch zu tun. (Anm. d. Red.: die Goldene Regel aus Matthäus 7,12)

Home-Office. 13:02 Uhr. In einer halben Stunde stehen die hungrigen Kinder vor der Tür. Was würde Nelson Müller auf den Tisch zaubern? Wobei könnte mir Ihr neues Kochbuch helfen?

Müller: (lacht) Verblüffen Sie Ihre Kinder mit Deutschem Döner. Döner einmal anders. Das schmeckt mega!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Nelson Müller hat sich schon einmal von der Nordsee bis zu den Alpen durch deutsche Restaurants gekocht. Seine aktuelle Heimat hat der Sternekoch in Essen gefunden. Dort führt er zwei Restaurants, macht nebenbei Musik und tritt in TV-Sendungen auf. Aufgewachsen ist der fröhliche Koch mit ghanaischen Wurzeln in Stuttgart und somit tief verwurzelt in schwäbischer Hausmannskost. nelson-mueller.de Sein aktuelles Kochbuch ist erschienen mit dem Titel „Gutes Essen – Nachhaltig, saisonal, bewusst“ (DK Verlag).

DEUTSCHER DÖNER

Döner Kebab, das »sich drehende Grillfleisch«, ist seit den 70er-Jahren auch in Deutschland ein beliebter Imbiss. Der Drehspieß mit gewürzten Fleischscheiben – ursprünglich Lamm, aber inzwischen oft auch Rind, Schwein oder Geflügelfleisch – ist ein fester Bestandteil der Fastfood-Szene geworden. Die Leberkäse-Variante ist ein Running Gag bei mir im Lokal – wenn’s schnell gehen soll, bestelle ich mir einen »Deutschen Döner« auf die Faust.

ZUBEREITUNG:

1. Für den Weißkohlsalat den Weißkohl in dünne Streifen schneiden und mit Salz, Pfeffer und Zucker würzen.
2. Essig und Öl zugeben und gut durchkneten. Eine halbe Stunde ziehen lassen.
3. Für die Mayonnaise den Sojadrink mit dem Senf und den Gewürzen in ein hohes Gefäß geben.
4. Mit dem Stabmixer gut durchmischen, nach und nach das Rapsöl untermixen.
5. Mit dem Bieressig abschmecken.
6. Für den Döner die Gurke fein hobeln, den Eisbergsalat in grobe Streifen schneiden, die rote Zwiebel schälen und in feine Streifen schneiden, die Tomate in Scheiben schneiden.
7. Den Leberkäse in Öl anbraten.
8. Die Laugenbrötchen halbieren, die untere Hälfte mit dem Eisbergsalat belegen und mit der Senf-Bier-Mayonnaise beträufeln.
9. Den Leberkäse auflegen, mit Weißkohlsalat, Tomate, Gurke und Zwiebelscheiben belegen und den Deckel auflegen.

WEISSKOHLSALAT

  • 120 g Weißkohl
  • 10 ml Bieressig
  • 30 ml Rapsöl
  • Salz, Pfeffer, Zucker

SENF-BIER-MAYONNAISE

  • 100 ml ungesüßter Sojadrink, zimmerwarm
  • 2 EL süßer Senf
  • 1 TL Senfpulver
  • Salz, Pfeffer
  • 1 Msp. gemahlener Kümmel
  • 1 Msp. Chilipulver
  • 3 Msp. Chiliflocken
  • 160 ml Rapsöl
  • 3 EL Bieressig

DÖNER

  • Salatgurke
  • 4 Blätter Eisbergsalat
  • 1 rote Zwiebel
  • 1 Tomate
  • 4 große Scheiben Leberkäse
  • 10 ml Rapsöl
  • 4 Laugenbrötchen
Symbolbild: krakenimages / Unsplash

Warum das 80:20-Prinzip ein Update braucht

Die 80:20-Regel führt nicht automatisch zum Erfolg. Dazu braucht es das 40-20-40-Prinzip als Ergänzung. Wie das Ihre Effektivität maximiert, verrät Coach Michael Stief.

Das 80:20-Prinzip meint die Beobachtung, dass in einer großen Anzahl von Fällen 80 Prozent einer Leistung schon mit 20 Prozent des Aufwandes erreicht werden. Dieses Prinzip ist zu der Faustregel schlechthin für zeitökonomisches Handeln geworden. Die 80:20-Regel hat aber noch eine eher unbekannte Schwester, die 40-20-40-Regel, die die Effizienz durch Effektivität komplettiert.

Von der ungleichen Landverteilung zur Faustregel für Effizienz

Beschrieben hat den 80:20-Effekt der Italiener Vilfriedo Pareto (1848–1923). Daher ist dieser Zusammenhang auch als Pareto-Prinzip bekannt. Pareto war Ökonom und stellte fest, dass im Italien seiner Zeit 80 Prozent der privaten Landfläche im Besitz von 20 Prozent der Bevölkerung waren.

Leider verbreitete sich durch Paretos Entdeckung des 80:20-Prinzips nicht die Frage nach der gerechten Verteilung von Gütern. Stattdessen war es die teils richtige, teils unsinnige Idee, dass sich in allen wirtschaftlichen Zusammenhängen und Prozessen diese magische Formel anwenden ließe.

Einfach machen, statt Perfektion anzustreben

Praktisch gesehen lässt sich das 80:20-Prinzip sinnvoll nutzen, wenn es darum geht, mit begrenzten Mitteln ein Ziel zu erreichen. Beispielsweise beim Erstellen einer Präsentation, die sich in kurzer Zeit in brauchbarer Qualität erstellen lässt. Oder auch beim Schreiben, wo der „shitty first draft“, der „schlechte erste Entwurf“ auch schnell auf dem Papier oder in der Maschine ist. Selbst beim wöchentlichen Hausputz lässt sich eine akzeptable Ordnung und Sauberkeit in 20 Prozent der Zeit herstellen, die für einen kompletten und gründlichen Frühjahrsputz notwendig wäre.

Aber genau da steckt der Teufel im Detail, nämlich genau in den Details, die für ein gutes oder gar „perfektes“ Ergebnis (wenn es denn annähernd so etwas geben kann) nötig sind. Das Pareto-Prinzip prophezeit nämlich gerade, dass für ein ganz bestimmtes Ergebnis eben auch viermal so viel Zeit notwendig ist wie für den ersten Entwurf. Oder auch, dass bei einer Prüfung bei 20 Prozent Zeiteinsatz eben auch nur die Note befriedigend erwartet werden kann. (Was natürlich in dieser Unmittelbarkeit Unsinn ist, aber Sie verstehen die Idee.)

Zusammengenommen ist das Pareto-Prinzip im besten Fall eine Daumenregel, um sich vor Perfektionismus zu hüten und mit wirtschaftlichem Aufwand zu einer brauchbaren Lösung zu gelangen. Im schlechtesten Fall führt es zu Pfusch oder zu einer ungesunden Arbeitsverdichtung in der Annahme, die Zeit jenseits der magischen 20-Prozent-Grenze ließe sich irgendwie einsparen.

Die richtigen Dinge tun

Das Pareto-Prinzip beantwortet die Frage, welchen Aufwand und Zeiteinsatz wir sinnvollerweise in eine Aufgabe stecken sollten. Dabei bleibt offen, was in dieser Zeit zu tun ist. Beim Software-Engineering wird das mit einer einprägsamen Merkformel gesteuert. Hier gibt es die 40-20-40-Formel, die, anders als das Pareto-Prinzip, außerhalb der Industrie leider kaum bekannt ist.

Einfach gesprochen empfiehlt dieses Vorgehen 40 Prozent des Aufwandes in die Zieldefinition zu stecken, 20 Prozent in die Umsetzung und 40 Prozent in den Test, ob die Software fehlerfrei funktioniert. Während also das Pareto-Prinzip die Effizienz steigert, fördert das 40-20-40-Prinzip die Effektivität. Nicht Schnelligkeit oder Begrenzung des Aufwandes stehen im Vordergrund, sondern ein möglichst genaues Verständnis der Lage, des Ziels und der Genauigkeit der Zielerreichung.

Auf andere Bereiche übertragen

Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass bei ungenauer Problemanalyse oder unzulänglicher Ergebniskontrolle erhebliche Fehler auftreten können. Diese können bei entsprechend kritischen Computeranwendungen in medizinischen Geräten etwa fatale Folgen haben. Es lässt sich leicht ahnen, dass sich diese Vorgehensweise ebenfalls sinnvoll auf andere Felder übertragen lässt.

Zum Beispiel auf die Charakterentwicklung: So lässt sich dieses Prinzip etwa in der Beichtpraxis der katholischen Kirche wiederfinden. Die Zehn Gebote definieren konkrete Ziele für eine gesunde menschliche Entwicklung. Zum Beispiel die Wahrheit zu sagen, die eigenen und fremden Grenzen zu achten und so weiter. Im Alltag werden diese Prinzipien umgesetzt – oder auch nicht. In der Beichte erfolgt dann die Fehlerprüfung, das „debugging“, mit dem Vorsatz diese Fehler in Zukunft zu beseitigen. Auch bei mir im Führungskräfte-Coaching hat sich dieses dreigliedrige Struktur in Form von Standortbestimmung/Zielbildung, Umsetzung und Feedback bewährt.

Zweimal messen, einmal schneiden

Die treffendste Beschreibung dieser Effektivitäts-Regel habe ich einmal von einem Schreiner gehört: Zweimal messen, einmal schneiden! Der meinte zwar mit „zweimal Messen“ eher das genaue Maßnehmen, aber beim 40-20-40-Prinzip geht es genau darum:

  • Einmal messen, das heißt: Genau analysieren, was wir erreichen wollen. Wie genau ist die Lage? Wer ist betroffen und wie? Was ist der Kern des Problems?
  • Dann die passenden Maßnahmen durchführen. Hier investieren wir 20 Prozent Ihrer Ressourcen (Zeit/Geld).
  • Zuletzt wieder messen, das heißt: Überprüfen, ob das gewünschte Ergebnis erreicht wurde, was nicht funktioniert hat und warum. Außerdem mögliche nächste Schritte einleiten, um das gewünschte Ergebnis doch noch zielgenau zu erreichen.

Verbinden wir das 80:20 Prinzip für „gesunde Selbstbeschränkung“ und das 40-20-40-Regel für die Zielgenauigkeit und die Effektivität einer Problemlösung, erreichen wir das optimale Ergebnis. Dann werden wir künftig nicht nur die Dinge richtig tun, sondern auch öfter die richtigen Dinge.

Michael Stief  (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Symbolbild: Deagreez / iStock / Getty Images Plus

Das hilft gegen Schlaflosigkeit

In Zeiten der Selbstoptimierung wird selbst der Schlaf zum Leistungssport. Doch das ist genau der falsche Weg.

Haben Sie gut geschlafen, Herr Bednarz?

Dieter Bednarz: Nein. (lacht) Ich habe gestern Abend noch einen großen Eisbecher gegessen und zudem bauen wir ein kleines Haus um. In meinem Kopf fuhren die Gedanken noch Achterbahn. So ist das, wenn man nachts nicht loslassen kann.

Sie sind Autor der Lektüre „Augen zu und schlaf!“. Was war der Auslöser, um dieses Buch zu schreiben?

Bednarz: Ich war eingeladen zu einer Lesereise auf einem Kreuzfahrtschiff. Trotz dieser paradiesischen Umgebung schwitzte und wälzte ich mich mal wieder durch die Nacht. In der Kabine nebenan schlief Katja, eine Yogalehrerin. Am nächsten Morgen erzählte sie mir von ihrer himmlischen Nacht. Und da dachte ich mir: „Jetzt reicht’s! Jetzt mache ich mich auf und versuche herauszufinden: Was ist Schlaf eigentlich? Was kann ich gegen die Schlaflosigkeit und für guten Schlaf tun?“

Warum ist guter Schlaf wichtig?

Bednarz: Schlaf ist ungeheuer wichtig fürs Gehirn, fürs Lernen, fürs Gedächtnis. Er ist entscheidend fürs Verarbeiten und Einsortieren. Der Schlaf ist ein Spiegel unserer Seele und der Gesellschaft. In einer Zeit, in der alles optimiert wird, sind wir hier allerdings in der Gefahr, den Schlaf zu überhöhen, aus ihm einen Leistungssport zu machen – aber genau das sollte er nicht sein.

„Schlaf ist keine quantitative, sondern eine qualitative Frage“

Sie machen sich auf den Weg mit Ihren Durchschlafstörungen. In der Begegnung mit Medizinern, Forschern, im Schlaflabor stellen Sie fest …

Bednarz: Ich bin eine Lerche, ein Frühaufsteher, wie ich bei Professor Roenneberg gelernt habe. Ich kann einfach nicht mit meinen Girls bis kurz vor Mitternacht schauen, wer Deutschlands nächstes Flop-Model wird; die Mädels schlafen danach nämlich bis in die Puppen oder der Wecker reißt sie um sieben Uhr aus dem Tiefschlaf. Mich jedoch weckt meine innere Uhr unerbittlich zwischen vier und fünf. Will ich als Frühaufsteher halbwegs ausgeschlafen in den Tag starten, muss ich spätestens um halb zehn ins Bett. Wichtig ist, dass man zu seinem Schlaftyp und zu seinem ganz eigenen Schlafrhythmus findet.

Brauchen wir keine acht Stunden Schlaf?

Bednarz: Schlaf ist keine quantitative, sondern eine qualitative Frage. Es geht schlicht darum: Wie wache ich am nächsten Morgen auf? Ich kann um 5:15 Uhr aufwachen und erfrischt sein – wenn ich mir den Schlaf früh genug vor Mitternacht hole.

Sie notieren: „Wer wirklich seine Nachtruhe finden will, der muss sich aufmachen auf einen langen Weg zur Kenntnis und auch Erkenntnis.“ Was sind Ihre fundamentalen Wegeinsichten?

Bednarz: Statt Pillen zu schlucken, müssen wir Bettflüchtigen lernen, unsere eigene Schlaftablette zu werden. Ich bin kein Superschläfer geworden. Meine Vorstellung, auch ich könnte auf Kommando ins kleine Koma fallen, war Wunschdenken und Selbsttäuschung. Inzwischen habe ich kapiert: Schlaf ist eine grandiose Projektionsfläche unserer Seele, unserer Wünsche und Ängste. Wie ich bin, so schlafe ich: sehnsüchtig, ehrgeizig, ängstlich, mich verzehrend; oder zufrieden, zuversichtlich, mit mir im Reinen. Der bekannte Hamburger Medizinhistoriker Prof. Osten hat mir mit auf den Weg gegeben: Im Schlaf spiegelt sich unsere seelische Verfassung.

Das klingt nicht so neu …

Bednarz: Richtig. Doch ich musste lernen: Es reicht nicht, eine solche Botschaft zu bekommen. Um wirklich zu begreifen, wie sehr der Schlaf unser Innerstes reflektiert, bedarf es der nachdrücklichen Auseinandersetzung mit uns selbst. Deshalb ist es so wichtig, darüber nicht nur zwei Zeilen zu lesen, sondern sich in einem Buch damit auseinanderzusetzen. Die Einsicht, dass ich eine verzagte, von Ansprüchen an mich und das Leben zernagte Seele mit ins Bett nehme, ist mir sehr schwergefallen.

Wer erkennt im Spiegel schon gern einen unzufriedenen Mann? Wer gesteht sich ein, dass er sich ein eigentlich gutes Leben mit einer wunderbaren Frau und drei tollen Töchtern durch törichte Vergleiche und unerreichbare Vorgaben unnötig schwermacht? Der schlechte Schlaf hat mir den Weg zur Selbsterkenntnis gewiesen. Wenn ich jetzt in der Frühe erwache, bin ich dankbar für eine halbwegs gute Nacht, mache deutlich zufriedener und zuversichtlicher unsere Betten und gehe gestärkter in einen Tag, an dem ich versuche, loszulassen und mich abends mit einem „Lass gut sein, Junge!“ wieder in die Daunen zu kuscheln.

Keine Angst vor dem Schlaflabor

Ab wann ist der Mann mit seinem Schlafproblem ein Fall für den Arzt?

Bednarz: Wenn er permanent gerädert aufwacht. Ich empfehle da den Gang zu einem Facharzt, den Besuch eines Schlaflabors. Davor muss man keine Angst haben. Ich habe dort inmitten der Schläuche prima geschlafen. Der Dieter, der dachte, das machst du für das Buch, musste erkennen: Mann, meine liebe Frau Esther hat recht. Ich schnarche doch ganz schön heftig, gehöre daher ab und zu auf die Couch im Wohnzimmer. Womit ich nicht gerechnet hatte: Auch ich habe eine mittlere Schlafapnoe.

Eine Schlafapnoe entsteht, wenn die Muskulatur in den oberen Atemwegen erschlafft. Warum schnarchen Männer? Sind Schlafmasken der Retter?

Bednarz: Ja, Frauen atmen laut, sie haben ein besseres Gewebe im Hals. Männer schnarchen biologisch bedingt eher. Häufige Ursache dafür ist bei Männern Übergewicht oder Alkohol. Dagegen kann man etwas tun. Der Schlafapnoe kommt man nur mit dem Besuch beim Facharzt auf die Schliche. Und ja, Schlafmasken können dann sehr hilfreich sein.

Wenn ich jetzt doch mal schlecht schlafe?

Bednarz: Machen Sie sich nicht verrückt, setzen Sie sich nicht unter Leistungsdruck in Sachen Schlafzeit. Aber wichtig ist, dass wir medizinische Gründe für schlechten Schlaf ausschließen. Wenden Sie sich an die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung. Scheuen Sie nicht den Gang ins Schlaflabor. Achten Sie auf die Lebensführung.

Guter Schlaf ist für Sie heute …?

Bednarz: Ich musste lernen, es gut sein zu lassen, mir sagen: Ich habe heute genug gemacht. Ich muss jetzt nicht noch im Schlaf etwas leisten. Der Schlaf möchte nicht in irgendein Korsett gestanzt, sondern respektiert und umarmt werden. Der Schlaf ist ein Partner und wie in jeder guten Partnerschaft erwartet er Rücksichtnahme. Wenn wir ihn nicht respektvoll und achtsam behandeln, bekommen wir dafür die Quittung. Nochmals: Der Schlaf ist oft der Spiegel unserer Gesellschaft und der Spiegel unserer Seele.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Hilfe finden:

Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung: dgsm.de

Weiterlesen:

„Augen zu und schlaf! Handbuch eines Bettflüchtigen für eine gute Nacht“ (Berlin Verlag) von Dieter Bednarz. Der Journalist, Autor und Referent schläft heute versöhnter. 30 Jahre berichtete er als Korrespondent für den Spiegel aus der arabischen Welt. Er steht u.a. zu Vorträgen zum Thema Schlaf zur Verfügung: dieterbednarz.de

Symbolbild: laflor / iStock / Getty Images Plus

7 Einschlaftipps, damit Sie keine Schafe zählen müssen

Fast jeder hat das schon einmal erlebt: Das Gedankenkarussell kreist und an Schlaf ist nicht zu denken. Diese sieben Tipps helfen beim Einschlafen.

1. Ruhephase vor dem Einschlafen

Schnell noch mal das Gespräch für morgen vorbereiten und einmal noch den E-Mail-Posteingang kontrollieren. Der Trend zur Telearbeit hat dazu geführt, dass noch mehr Menschen am späten Abend arbeiten. Wenn die Kinder im Bett sind, bleibt oft noch etwas Zeit für liegen gebliebene Aufgaben. Doch fürs Einschlafen sind solche späten Schichten schlecht. Probleme aus der Arbeit hindern dich daran, zur Ruhe zu kommen. Auch anstrengender Sport macht erst einmal wach, selbst wenn das Fitnessstudio um 23 Uhr so verlockend leer ist. Besser ist eine Ruhephase. Das bedeutet nicht zwangsläufig, sich auf das Sofa zu legen. Ein Spaziergang oder ein Gespräch können ebenso zur Ruhephase gehören wie das Lesen eines Buches.

2. Blaues Licht vermeiden

Beim Lesen solltest du aber eher nicht zum Tablet oder Smartphone greifen. Denn das blaue Licht der Bildschirme signalisiert deinem Körper, dass jetzt Tag ist. Besser ist ein klassisches Buch oder eine Zeitschrift. Auch E-Reader wie der Tolino oder der Kindle sind eine Alternative, denn sie verwenden eine „elektronische Tinte“ und keinen klassischen Bildschirm. Dabei werden Bildpunkte, die auf einer Seite schwarz und auf einer weiß sind, so gedreht, dass sich das Schriftbild ergibt. Die Technik kommt nicht nur ohne blaue Hintergrundbeleuchtung aus, sondern auch ohne Flimmern. Muss es das Smartphone oder das Tablet sein, lässt sich mit dem Blaulichtfilter oft der Anteil des blauen Lichts reduzieren.

3. Einschlafrituale

Das Lesen sollte Teil eines Einschlafrituals sein, das jeden Abend gleich abläuft. Das kann so aussehen, dass du zuerst einen kleinen Spaziergang machst, nach Zähneputzen und Körperpflege noch etwas liest und schließlich den Tag mit einem Abendgebet oder Ähnlichem beendest. Dass dieser Ablauf jeden Tag gleich ist, scheint zunächst langweilig und irgendwie altbacken. Doch genau in dieser immer gleichen Abfolge liegt der Sinn des Rituals. Der Körper weiß dann intuitiv, dass es jetzt Zeit ist, zur Ruhe zu kommen. Das Abendgebet oder eine anderweitige Reflexion kann noch einen weiteren positiven Effekt haben. Es hilft dir, den Tag abzuschließen und sich auf den neuen vorzubereiten. Beispielsweise kannst du dir überlegen, wofür du dankbar bist. Dann schläfst du garantiert schneller und besser, als wenn du im Bett über die Ärgernisse des Tages nachdenkst.

4. Fester Schlafrhythmus

In eine ähnliche Richtung geht auch der Tipp, möglichst jeden Tag zu einer ähnlichen Schlafenszeit ins Bett zu gehen. Apps fürs Smartphone oder die Smartwatch erinnern dich auf Wunsch daran, dass die Schlafenszeit bevorsteht. Wer Schicht arbeitet, ob als Pflegekraft oder in der Fabrik, kann diesen Ratschlag natürlich nicht umsetzen. Eine Untersuchung aus den USA zeigt, dass es in diesem Fall am besten ist, vor und nach der Nachtschicht besonders lang zu schlafen. Die Studie bezog zwar nur Frauen ein, einiges spricht aber dafür, dass die Ergebnisse für Männer ähnlich ausfallen. Natürlich kann im Einzelfall eine andere Strategie die bessere sein. Bei einer Untersuchung von Studentinnen der Evangelischen Hochschule in Nürnberg fühlten sich vor allem jene Pflegekräfte in der Nachtschicht besonders konzentriert, die am Nachmittag zuvor einige Stunden geschlafen hatten.

5. Kein Alkohol vor dem Schlafen

Von einem Schlafritual ist abzuraten, nämlich vom Schlummertrunk. Wer Alkohol getrunken hat, schläft zwar oft schneller ein, dafür aber schlechter. Im schlimmsten Fall wachst du nach einer Stunde wieder auf und liegst die halbe Nacht wach. Besser sind warme Getränke, etwa ein Kräutertee oder eine warme Milch mit Honig – die Wärme macht nämlich müde. Natürlich darf der Tee nicht aufputschend sein, also besser keinen schwarzen Tee trinken. Wer eine schwache Blase hat, sollte es mit dem Trinken vor dem Schlafen nicht übertreiben.

6. Atemübungen

Wenn es mit dem Einschlafen – trotz Ruhepause und Einschlafritual – nicht funktioniert, können Atemübungen eine weitere Möglichkeit sein. Die müssen gar nicht kompliziert sein. Einfach tief einatmen und dabei auf den Körper achten. Dazu kann es sinnvoll sein, eine Hand auf den Bauch zu legen und zu beobachten, wie sich die Bauchdecke beim Einatmen hebt. Dann langsam wieder ausatmen und wahrnehmen, wie sich der Bauch jetzt wieder senkt. Es reicht, diesen Vorgang ein oder zwei Minuten lang zu wiederholen.

7. Schlafzimmer richtig ausstatten: belüftet, kühl und bequem

Rechtzeitig vor dem Schlafen sollte das Zimmer gut durchgelüftet werden. Außerdem sollte der Raum ausreichend dunkel sein, also am besten über einen Rollladen verfügen oder zumindest dicke Vorhänge haben. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, wie wichtig eine gute Matratze ist. Gute Exemplare gibt es schon zu bezahlbaren Preisen. Auch wenn das Internet oft die günstigste Möglichkeit ist, spricht einiges für den Weg ins Fachgeschäft. Denn erst beim Probeliegen zeigt sich, wie gut die Matratze zum Körper und den eigenen Ansprüchen passt.

Diese Tipps helfen dir beim Einschlafen. Ganz normal ist es, wenn du hin und wieder trotzdem schlecht einschläfst, etwa wegen Sorgen oder Ängsten. Klappt es dagegen trotz dieser Ratschläge fast täglich mit dem Schlafen nicht so recht, sollte der Weg zum Arzt kein Tabu sein. Möglicherweise können pflanzliche Arzneimittel, etwa auf Basis von Baldrian, helfen. Aber auch andere Schlafmittel oder die Gabe des „Schlafhormons“ Melatonin sollten nicht zwangsläufig abgelehnt werden. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Untersuchung durch einen Arzt oder eine Ärztin.

Tilman Weigel ist Dozent für empirische Sozialforschung und freier Autor.

Symbolbild: shapecharge / E+ / Getty Images

Welcher Job passt zu mir?

Der Beruf ist nicht alles, aber er macht einen großen Teil des Lebens aus. Vier Fragen helfen bei der Suche nach dem Traumjob.

Von Michael Stief

„Seien Sie nett zu Ihren Nachbarn, vermeiden Sie fettes Essen, lesen Sie ein paar gute Bücher, machen Sie Spaziergänge und versuchen Sie, in Frieden und Harmonie mit Menschen jeden Glaubens und jeder Nation zu leben.“ So umreißt die englische Comedy Gruppe Monty Python den Sinn des Lebens in ihrem gleichnamigen Episodenfilm.

Diese launige Antwort ist für sich genommen schon ein attraktives Lebensprogramm; ob wir persönlich bewusst nach einem Sinn des Lebens streben oder nicht. Abgesehen davon, dass ich der festen Überzeugung bin, dass sich jedes Gericht mit Sahne verbessern lässt und man es deswegen mit dem fetten Essen nicht so eng sehen sollte.

5.000 Jahre auf der Suche nach dem Sinn

Die britischen Comedians greifen mit dieser Bestimmung des Sinns des Lebens ein Problem auf, das die Menschheit seit gut und gerne vier oder fünf Jahrtausenden umtreibt. Anders als die Tiere haben wir kaum Instinkte, die unser ganzes Leben von der Wiege bis zur Bahre bestimmen würden. Stattdessen sind wir – bei allen Beschränkungen – mit Freiheit begabt und geschlagen.

Wir müssen unseren Weg im Leben wählen: Ob wir nun aktiv eine Richtung einschlagen und uns Ziele setzen, oder uns treiben lassen. Je mutiger wir uns der Frage nach dem „Ziel des Lebens“ stellen, umso besser sind wir für kleinere oder größere Sinnkrise gewappnet.

Mehr Antworten als uns lieb sein kann

Schon die großen Philosophen von Sokrates über Aristoteles bis Kant haben sich an dieser Frage die Hirnwindungen wundgerieben. Auch die großen Religionsstifter Moses, Jesus oder Mohammed im Nahen Osten oder Buddha in Asien haben sich dieser Frage zumindest mittelbar gestellt.

Buddha etwa verortete das Ziel des menschlichen Lebens grob darin, Leiden und Leidenschaften zu überwinden und dadurch die Erleuchtung zu erlangen. Belesene Buddhisten mögen mir diese kühne Verkürzung verzeihen. Das Liebesgebot, das gleichlautend in der jüdischen Bibel wie dem christlichen Lukas-Evangelium auftaucht, lässt sich ebenfalls als eine solche Sinnbestimmung lesen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Lukas 10,26-27)

Warum?

Weniger religiös veranlagte Menschen finden in Geschichte und Gegenwart vielfältige Antworten in Philosophie und Wissenschaft: Beispielsweise als die Suche nach dem Wahren, dem Schönen und dem Guten bei Sokrates und Platon oder nach dem wahren Glück bei Aristoteles. Der wortgewaltige Friedrich Nietzsche schließlich behauptet knapp: „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie?“ („Götzen-Dämmerung: Sprüche und Pfeile“, § 12., 1888).

Dieses „Warum“ wählte der Psychiater Viktor Frankl zu seinem Lebensmotto und Kern der Sinn- oder Logotherapie. Der TED-Speaker Simon Sinek machte es zum zentralen Begriff seines Ratgebers „Start with Why“. Auch die Positive Psychologie sieht im Sinnerleben eine Säule für ein glückliches und gelingendes Leben – neben positiven Gefühlen, Flow, guten Beziehungen und Erfolgserlebnissen.

Wie finden wir dieses „Warum“?

Wenn wir die hohe Luft der Philosophen hinter uns lassen und uns in die „Niederungen“ des Arbeitsalltages begeben, dann begegnet uns in den sozialen und klassischen Medien immer öfter der Begriff „Purpose“. Eigentlich nur der englische Begriff für „Zweck“ oder „Ziel“ steht er für die Sinnhaftigkeit der Arbeit bzw. für sinnstiftende Arbeit.

In Unternehmen, die stark auf Gewinnmaximierung fokussiert sind, wird der eigentliche Unternehmenszweck oft durch die Jagd nach den Quartalszahlen verdeckt. Dementsprechend wird es zur Aufgabe für die Einzelnen und noch mehr für die Führungskräfte, diesen Unternehmenszweck und damit die Sinnhaftigkeit der Arbeit wieder sichtbar und erlebbar zu machen.

Es gibt auch Geschäftsmodelle, die für viele Menschen mehr oder weniger sinnfrei erscheinen. Entsprechend wächst bei manchen das Bedürfnis nach einer sinnvollen Betätigung, die Gutes für die Menschen und die Menschheit tut. Leider nicht so stark, dass sich die Menschen in Massen für eine Karriere als Kinder-, Kranken- oder Altenpflegekräfte entscheiden würden.

Die japanische Antwort

Jeder muss für sich entscheiden, was eine sinnstiftende Arbeit ist. Die Japaner haben als Hilfe Ikigai entwickelt. Ikigai bezeichnet grob auf Japanisch eben genau den „Sinn des Lebens“, wobei der zweite Wortteil „gai“ sehr pragmatisch auf Begriffe wie Effekt, Resultat, Frucht, Wert, Nutzen verweist.

Der Begriff existierte schon lange in der japanischen Kultur in unterschiedlichen Nuancen. Erst in den sechziger Jahren wurde er von der japanischen Psychologin Mieko Kamiya neu popularisiert. Schließlich fand er seinen Weg in den Westen, unter anderem durch die Erwähnung in einem TED-Talk von Dan Buettner über Langlebigkeit. Aber vor allem durch ein virales Kreisdiagramm, das der Blogger Marc Winn 2014 entwarf. Darin setzte er die Begriffe „Purpose“ und „Ikigai“ gleich.

Das Schöne an diesem Ansatz ist es, dass er bei uns selbst und den Menschen in unserem Umfeld ansetzt: Wir sind in dieses Leben gestellt und entdecken unser Umfeld, eigene Begabungen und Neigungen. Währenddessen stellt uns das Leben vor Herausforderungen, an denen wir wachsen oder zerbrechen können.

In vier Fragen zum Traumjob

Dementsprechend geht es bei der Suche nach dem eigenen Ikigai um vier Fragen im Zusammenhang mit dem, was wir im Leben tun:

  • Du liebst es? – Macht dir diese Tätigkeit Freude?
  • Du bist großartig darin? – Bist du wirklich begabt auf diesem Gebiet?
  • Du wirst dafür bezahlt? – Gibt es für diese Tätigkeit einen Markt?
  • Die Welt braucht es? – Braucht die Welt jemanden, der genau das tut?

Können wir alle vier Fragen bei einer konkreten Tätigkeit oder Aufgabe mit „Ja“ beantworten, hätten wir die zu uns passende sinnstiftende Arbeit gefunden. Klingt vielleicht trivial, ist es aber nicht. Unsere Fähigkeiten und die Angebote unserer Umwelt sind vielfältig. Nicht überall, wo wir hineinpassen würden, gehören wir auch hin.

Jeder Bereich zählt

Mehr noch: Auch wenn eine Tätigkeit oder eine Aufgabe kein solcher Volltreffer ist, kann sie zum Gefühl von Ikigai beitragen:

  • Wenn wir mit Geschick und Hingabe einer Sache nachgehen, leben wir eine Passion.
  • Wenn wir kompetent einer bezahlten Arbeit nachgehen, haben wir den passenden Beruf (Profession).
  • Wenn wir gegen Geld etwas tun, das die Welt braucht, gehen wir einer Berufung nach.
  • Wenn wir mit Hingabe etwas tun, das die Welt braucht, erfüllen wir eine Mission.

Eventuelle Unzufriedenheiten können wir leichter zuordnen, wenn wir erkennen, dass einer der vier Faktoren fehlt. Das ermöglicht, sich neu auszurichten und die fehlende Komponente auch noch zu integrieren. Der australische Coach Nicholas Kemp kritisiert die dargestellte Verkürzung von Ikigai auf den Arbeitskontext. Praktisch ist sie trotzdem. Zumindest, um die Sinnerfüllung in der Arbeit zu steigern.

Jenseits der Arbeitswelt

Bei allem Nutzen von Ikigai für den Beruf sollte nicht übersehen werden, dass jeder einzelne Bereich – Liebe, Geschick, Bedarf und Entlohnung – auf das Gefühl einzahlen kann, dass das Leben sich lohnt. Darin gleicht das Ikigai-Konzept dem PERMA-Modell der Positiven Psychologie. Demzufolge nimmt das Glück und das subjektive Wohlbefinden zu, wenn positive Gefühle, Flow, guten Beziehungen, Erfolgserlebnisse und eben auch Sinnerfahrungen häufig erlebt werden.

Ich zum Beispiel übe beharrlich mit einer Freizeitsport-Gruppe Judo. Mit wenig Geschick, aber viel Freude, Demut und dem Ziel, dies noch mit achtzig Jahren tun zu können. Auch wenn es dafür kein Geld gibt und ich niemanden in Not verteidigen könnte, das regelmäßige Üben in der Gemeinschaft macht das Leben immer wieder lebenswert.

Es muss also nicht immer die hohe Luft des Sinns des Lebens sein, die uns weckt, stärkt und für jeden neuen Tag belebt. Es dürfen auch die Freude und Gemeinschaft sein, die wir miteinander teilen. Und manchmal macht dies das Leben schon lebenswert genug.

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).