Ketten und Hände

Verurteilt und doch frei?

Rückblick: Wir schreiben das Jahr 1992. Heiko Bauder verwundet bei der Bundeswehr einen jungen Kameraden tödlich. Im Interview berichtet er über seinen Weg zurück ins Leben und wie er ein freier Mensch wurde.

Herr Bauder, der Unfall bei der Bundeswehr ist inzwischen über 30 Jahre her. Wie oft werden Sie noch auf den Vorfall angesprochen?

Von meinem direkten Umfeld eigentlich gar nicht, das hat dort schon lange aufgehört. Allerdings ist es auch so, dass ich damit nicht hausieren gegangen bin. Wenn jemand mich gefragt oder mich näher kennengelernt hat, dann habe ich das schon erzählt, aber dass jetzt jemand von sich aus auf mich zugekommen ist, ist eher nicht vorgekommen.

Was war der Schlüssel, um mit diesem Erlebnis abzuschließen?

Ich würde sagen, dass es nie ganz abgeschlossen sein wird. Es wird immer noch offene Fragen geben. Am Ende geht es um ein Menschenleben, und die Frage bleibt, welchen oder ob das überhaupt einen Sinn hatte. Die Frage steht für mich noch offen. Das klingt erst mal merkwürdig, aber diese Fragen haben mich im Glauben gehalten, weil ich von Gott wissen wollte: Was soll das? Ich glaube, die Fragen nehme ich am Ende mit in den Himmel. Ich hoffe, dass es dort Antworten darauf geben wird. Ein Schlüssel in der Akutphase war auf jeden Fall Pfarrer Langer, der mich begleitet hat. Er hat diese anfängliche Verzweiflung sehr gut aufgefangen und hat mich ins Leben zurückgeholt.

„Ich bin zwar verurteilt worden, aber ich konnte vor mir selbst geradestehen, weil ich mir bewusst war, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.“ Heiko Bauder

Sie schreiben, dass Sie den Gerichtssaal trotz Verurteilung als freier Mensch verließen. Was meinen Sie damit?

Ich hatte ja im Buch beschrieben, dass ich entgegen der Maßgabe meines Rechtsanwalts bei dem geblieben bin, was ich in der Vernehmung gesagt hatte. Das war für mich in dem Sinne Befreiung. Ich bin zwar verurteilt worden, aber ich konnte vor mir selbst geradestehen, weil ich mir bewusst war, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Das war für mich eine innerliche Freiheit. Ich habe ein Strafmaß bekommen, das ich auch so akzeptiert habe, weil ich mir bewusst war, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich konnte aber in dem Gefühl, die Wahrheit gesagt zu haben, als „freier Mann“ den Gerichtssaal verlassen.

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Wenn wir es schaffen, aus dem Warum ein Wozu zu machen, bekommt das, was wir erlebt haben, eine neue Perspektive.“ Was hat das für Sie persönlich verändert?

Die Frage nach dem Warum hat mich irgendwann an den Punkt gebracht, dass ich immer nur nach hinten geschaut habe – also immer nur in die Vergangenheit. Daran kann ich nichts mehr ändern, egal, wie emotional aufgewühlt und laut ich nach dem Warum schreie. Ich bekomme darauf einfach keine Antwort, weil das Dinge sind, die waren, und ich kann sie nicht mehr beeinflussen. Irgendwann stellte ich mir die Frage: Wie kann ich mit dem, was passiert ist, in die Zukunft gehen? Dann kam mir plötzlich der Gedanke: Jetzt kann ich an der Vergangenheit nichts mehr ändern, aber ich kann die Zukunft gestalten. Wenn man dann auf die persönlichen Katastrophen zurückblickt, stellt man irgendwann auch mal fest, dass man Resilienz entwickelt hat. Das ist auch eine Stärke für mich und so dann wiederum auch für andere hilfreich.

All die Schicksalsschläge, die Sie erlebt haben, hätten laut Ihrer Aussage das Potenzial gehabt, Sie zu zerstören. Haben die Erlebnisse dazu geführt?

Nein, definitiv nicht. Sonst wäre ich heute nicht hier. Es kam nicht dazu, weil ich ganz tief drin Gott nie verlassen hatte. Ich wollte das damals nach der Bundeswehr tun, aber ich konnte es nicht. Mir war die Zunge festgenagelt. Ich konnte Gott nicht absagen. Ich hatte mich einige Jahre vor dem Unfall bei der Bundeswehr für Jesus entschieden und er hatte seinen Teil des Versprechens immer eingehalten. Sein Tod am Kreuz war für mich felsenfest versiegelt. Das hat mich getragen. Egal, in welches Loch wir als Familie gefallen sind, wir sind immer wieder in Gottes Hände gefallen – das ist jetzt keine Floskel, es war und ist tatsächlich so.

In so mancher Situation fragt man sich schon: Das kann doch alles nicht wahr sein, warum? Warum trifft es immer uns? Und dann klagt man Gott auch wieder an, aber im Rückblick sieht man dort auch die Segnungen. Dann sieht man die Menschen, die plötzlich da waren und geholfen haben, wie damals der Pfarrer Langer – Leute, mit denen man gar nicht gerechnet hat. Die haben mich und uns eine Zeit lang begleitet und sind dann vielleicht auch wieder weg gewesen – wie Lichtstrahlen, die an einem vorübergehen, in denen Gott sich zeigt und sagt: Ich bin da.

Sind Sie jetzt froh darüber, das Buch geschrieben zu haben?

Ja, absolut. Ich hatte schon so viele Rückmeldungen, die unendlich positiv waren. Viele Menschen haben mir gesagt: „Das war so wichtig, dass du das Buch geschrieben hast, genau das haben wir gebraucht.“ Das hat mir gezeigt, dass dieses Thema Schuld viel größeren Raum einnimmt, aber sich auch niemand traut, wirklich darüber zu reden. Ich bin regional bei einigen Lesungen gewesen und das war wirklich phänomenal, was da zurückkam.

Hat sich die Familie Ihres damaligen Kameraden auf das Buch hin nochmal gemeldet?

Ich durfte mich nochmal mit der Familie treffen. Es ging um Persönlichkeitsrechte im Buch. Ich glaube, dass es für beide Seiten nochmal ein sehr wichtiger Punkt und kein Zufall war.

Sie haben geschildert, dass Sie lange nach dem Unfall bei der Bundeswehr nicht so richtig lachen konnten. Später haben Sie weitere Schicksalsschläge und noch eine Verurteilung aufgrund eines Autounfalls erlebt. Würden Sie sagen, dass Sie heute wirklich wieder befreit lachen können?

Ja, definitiv. Ich bin ein sehr lebensbejahender Mensch, das war ich schon immer. Ich kann mich wieder am Leben freuen und bin voller Tatendrang. Ich habe schon oft gedacht: Ich bin jetzt 53 Jahre alt, aber habe noch so viele Ideen im Kopf – ich müsste nochmal 30 Jahre alt sein.

 

Heiko Bauder (Jg. 1971) lebt in einer kleinen Gemeinde am Fuße der Schwäbischen Alb. Beruflich arbeitet er als Ausbilder angehender Industriemechaniker.  Im Buch „Mein Gott, warum?“ beschreibt er seinen Umgang mit Schuld.

Tim Bergen führte das Interview. Er ist Volontär des Männermagazins MOVO und des Nachrichtenportals Jesus.de.

Hebamme

Allein unter Frauen: Hebamme, 33, männlich

Kilian Lanig selbst hat keine Kinder, war aber schon bei etlichen Geburten dabei. Er ist Hebamme, eine von nur rund 50 männlichen in ganz Deutschland.

Von Nathanael Ullmann

Mittwochabend gegen 18 Uhr. Im Stützpunkt, dem Hebammen-Dienstraum des Uniklinikums Essen, herrscht Pausenstimmung. Kilian Lanig klönt mit einer Kollegin darüber, wie ihr Job ihnen keine Zeit für feste Hobbys lässt. Plötzlich gellt ein Schrei über den Flur: „Kilian!“ Ohne ein weiteres Wort springt er auf, rennt in Kreißsaal 2. Minuten der Unruhe. Dann drückt irgendwer den roten Knopf in der Mitte des Flures. „Das ist so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann“, raunt eine Kollegin.

Wenige Stunden früher, bei Dienstbeginn um 14 Uhr, weiß Kilian Lanig noch nicht, wie stressig sein Tag heute werden wird. Der 33-Jährige würde in einem Fitnessstudio nicht weiter auffallen. Haar und Bart trägt er kurz. Die fehlenden Zentimeter Körpergröße macht er durch die kräftigen Arme wieder wett. Was ihn zum Medienstar macht, ist sein Beruf: Er ist Hebamme. Und damit ein echtes Unikat. Gerade einmal 0,2 Prozent aller Hebammen in Deutschland sind männlich.

Allein mit sechs Frauen

Gerade sitzt Lanig im Hebammen-Stützpunkt des Kreißsaals im Essener Universitätsklinikum. Der Stützpunkt ist der Dreh- und Angelpunkt der Station. Bildschirme hängen überall an den Wänden, darauf etliche Graphen und Sperrbildschirme. Ein Schiebefenster dient als Rezeption. An der Rückwand hängt eine Plexiglasscheibe. Mit Filzstift haben die Mitarbeitenden hier die Daten der Patientinnen eingetragen: Alter, Schwangerschaftsmonat, verabreichte Medikamente und mehr. Eine glückliche Mutter hat als Dankeschön Muffins fürs Personal auf den Tisch gestellt. Ballende Hitze drückt durch die Fenster.

Mit Lanig sitzen sechs Frauen im Raum. Die Besprechung zum Dienstwechsel steht an. Im Schnelldurchlauf gehen die Anwesenden die werdenden Mütter durch. Für den Laien ist das Kauderwelsch. Von Simslage, RFI und präexistentem Hypertonus ist da die Rede. Der 33-Jährige nickt wissend.

80 Bewerbungen bis zum Ausbildungsplatz

Um seinen Beruf ausüben zu können, war es ein langer Weg. Eigentlich möchte Lanig die Praxis seines Vaters übernehmen. Vier Jahre lang studiert er Humanmedizin in Ungarn und der Slowakei. Zurück in Deutschland wird sein Studium nicht anerkannt. Er absolviert eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Auf der Wochenbettstation merkt er: Das ist seine Berufung. Also bewirbt er sich initiativ an Hebammenschulen. Über 80 Bewerbungen schreibt er, bis er in Bochum einen Platz erhält. Nun ist er seit einem Jahr voll examiniert. Er arbeitet selbstständig – aber fest mit der Uniklinik zusammen.

Der Weg hat sich gelohnt. Hier kann er Familien bei einer der wichtigsten Lebensphasen begleiten: „Da ist genau der Scheidepunkt“, sagt er. Denn nach einer Geburt sei nichts mehr so wie vorher. In seinem Job prägt er Familien für ein Leben.

Von Geburten scheint der heutige Tag allerdings weit entfernt zu sein. Lanigs Aufgaben bestehen erst einmal darin, Kardiotokografien, kurz CTGs, durchzuführen. Bei dem Verfahren misst er den Puls der Frau, den Puls des Kindes und die Wehentätigkeit. Das CTG-Zimmer liegt schräg gegenüber dem Stützpunkt. Der kleine Raum ist mit Ledersesseln und Liege rudimentär eingerichtet. Es riecht – wie überall sonst im Krankenhaus – nach Desinfektionsmittel. Hier versorgt Lanig die ersten Frauen. „Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“, fragt er – und legt mit gezielten Handgriffen die Sensoren auf den Bauch auf. Routine. Auch für die Frauen, die vor der Geburt regelmäßig zu der Untersuchung müssen.

Immer wieder steuert er zwischen den Visiten den Stützpunkt an. Hier dokumentiert er, welche Auffälligkeiten sich bei den Untersuchungen ergeben. Oder er quatscht mit den Kolleginnen. „Für uns ist das kein Unterschied, dass er ein Mann ist“, erzählt eine der Hebammen. Lanigs Geschlecht scheint auch bei den zu behandelnden Frauen keine Rolle zu spielen. Für Lanig ist das ein Erfolg: Er will einfach nur eine Hebamme sein und keinen Sonderstatus als Mann innehaben. Ein paar mehr seiner Art würde er sich in dem Beruf trotzdem wünschen. „Aber viele merken erst bei der Geburt ihres ersten Kindes, dass es diesen Job gibt. Und dann ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Umschulung.“

Zwischen Stress und Langeweile

Der Rhythmus im Kreißsaal ist außergewöhnlich. Immer wieder gibt es Phasen der Ruhe. Dann flirrt plötzlich die Luft. „Hier wird ein Arzt gebraucht“, heißt es dann im Flur. Wenige Minuten später ein erleichtertes: „Das Kind ist da!“ Mal hallen in den Fluren die Schreie der Mütter in Wehen wider. Mal ist es still. Geburten lassen sich eben nicht planen.

Kilian Lanig kennt auch andere Tage. Ganze Schichten hat er schon damit verbracht, bei einer Geburt zu unterstützen. Als Hebamme muss er darauf achten, dass sich Mutter und Kind so wohl wie möglich fühlen. Doppelte Verantwortung also. Auch zu den Vätern hat er oft einen besonderen Draht – ein Vorteil männlicher Hebammen. Er hat ein Auge darauf, dass das Kind weder zu langsam noch zu schnell den Weg nach draußen findet. Und er hat den Blick auf die Nachgeburt und die Nachblutungen. Wenn Schmerz sich in Euphorie wandelt und das Kind da ist, ist das immer ein erhebender Moment: „Das sind Situationen, die mich zu Tränen rühren.“

Aber die Hebamme begleitet auch die Eltern, bei denen die Geburt nicht so fröhlich verläuft. Sternenkinder sind immer noch ein Tabuthema – zu Unrecht, wie Lanig findet. Das große Unglück hat er schon gesehen. Kinder, die noch leben, wenn sie aus dem Mutterleib kommen, aber nur zehn oder 20 Minuten auf dieser Welt haben. Oder ein kleiner Spatz, kaum größer als seine Hand, der vergeblich nach Luft ringt. „Dann heule ich selbst mit“, sagt er. Weihwasser für Bedarfstaufen steht im Kreißsaal bereit. Auch die Kontaktdaten ehrenamtlicher Sternenkindfotografen haben die Hebammen. Nach solchen Fällen geht der Katholik in eine Kirche – und zündet eine Kerze für die Verstorbenen an.

Mittlerweile ist es Abend und nichts deutet darauf hin, dass solche Schicksalsschläge heute der Fall sein könnten. Lanig hat mehrere CTGs bei den Müttern durchgeführt, ein paar Medikamente verabreicht, ein Bett neu bezogen. Die eigentlichen Kreißsäle – drei an der Zahl entlang eines langen Flurs – sind besetzt. In einem wird gerade eine Mutter per CTG überwacht, in einem anderen wartet eine Frau verzweifelt darauf, dass sich ihr Muttermund weiter öffnet. Wer vorbeigeht, sieht die Damen durch einen Spalt in der Tür. Mal sitzen sie auf ihren Sesseln, mal liegen sie auf dem voluminösen Stuhl, der dem eines Gynäkologen gleicht.

Die Hebamme sitzt wieder im Stützpunkt und wartet auf den Sushi-Lieferanten. Eigentlich würde heute nichts Aufregendes mehr passieren, sagt er gerade noch. Wie falsch er liegt. Denn wenige Momente später ist die Luft urplötzlich eine andere. Sobald der Schrei „Kilian“ ertönt, schlägt die Atmosphäre um. Menschen in Kitteln laufen hektisch über die Flure. In Kreißsaal 2 werfen sich Expertinnen und Experten schnelle Anweisungen zu. „Aus dem Weg!“, raunt eine Ärztin. Vier Minuten der Anspannung. Dann hallt es: „Drück den Knopf!“ Und noch einmal: „Positiv!“

Plötzlich Notkaiserschnitt

Vor einigen Stunden hat Lanig noch erklärt, was der rote Buzzer in der Flurmitte zu bedeuten hat, über dem „Notfall – Missbrauch strafbar“ steht. Wenn er gedrückt wird, heißt das: Notsectio – Kaiserschnitt. Binnen 180 Sekunden sei das Kind dann aus dem Leib der Mutter geholt, lobt die Hebamme. Sie hat nicht gelogen.

Sobald der rote Knopf gedrückt ist, beginnen die Telefone im Stützpunkt wie wild zu läuten. Wenige Sekunden später wird die Mutter auf einer Liege durch den Flur geschoben. Um sie herum laufen mehrere Menschen – unter anderem Kilian Lanig. Das Team verschwindet im OP-Saal. Hier hat nur das Klinikpersonal Zutritt. Wenige Minuten der höchsten Anspannung. Dann taucht die Hebamme wieder im Stützpunkt auf. Die Erschöpfung steht Lanig ins Gesicht geschrieben. „Dem Kind geht es gut“, sagt er. Im Hintergrund ist Babygeschrei zu hören. Der neue Erdenbürger ist jetzt bei seinem Vater in Kreißsaal 2. Jetzt erfolgt die detaillierte Erklärung: Der Herzschlag des Kleinen war plötzlich stark verringert – und das vier Minuten lang. Laut Protokoll heißt das: Kaiserschnitt. Für die Anwesenden ist das kein glücklicher Moment. Denn die Mutter erlebt das wichtige Ereignis nur unter Vollnarkose. Aber hier ging es um Lebensgefahr für das Kind.

Trotz solcher Momente will Kilian Lanig unbedingt selbst noch Vater werden. Vier Kinder, das ist sein Traum. „Kinder sind das Schönste auf der Welt“, sagt er. Und „auf alle Fälle ein Schöpfungswunder“. Mit seiner Partnerin habe er den Kinderwunsch auch direkt beim ersten Date geklärt. Nur, ob er die Geburten selbst durchführen will, weiß er noch nicht so recht. Können täte er es zumindest.

Nathanael Ullmann (32) ist Referent für Medien und Öffentlichkeitsarbeit im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland und ausgebildeter Theaterpädagoge.

Autofans aufgepasst: Das neue PS-Mekka liegt in Ewersbach!

Vergiss München, Monza oder Stuttgart! Die wirklich tollen Karren stehen im Nationalen Automuseum, The Loh Collection, in Ewersbach. MOVO-Redakteur Rüdiger Jope geriet beim Anblick von Chrom, Lack und Karbon ins Schwärmen.

„Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen“ heißt es im Märchen, aber wo genau das ist, das verraten die Brüder Grimm uns nicht. Ob sie damit die Gemeinde Dietzhölztal im mittelhessischen Lahn-Dill-Kreis meinten? Vielleicht. Die Abfahrt von der A45 führt uns ins grüne und hügelige Nichts. Auf dem Smartphone verschwinden die Verbindungsbalken. Der Tesla schnurrt durch Dörfer, die noch den Charme der Siebziger atmen. Dann stehen wir in Ewersbach auf einem großen Parkplatz. Eine Art Märchenschloss für kleine und große Jungs tut sich vor uns auf. Weiß auf rot schlägt es uns entgegen: Nationales Automuseum – The Loh Collection.

Das neue Mekka der Autofans

An der Pforte zu diesem geheimnisvollen Märchenland der PS begrüßt uns Florian Urbitsch. Er ist die gute, ordnende Fee in dieser benzin- und dieselgeschwängerten Welt der Autohistorie aus Chrom, Lack, Blech und Karbon. Urbitsch versteht es, mit Fakten zu zaubern. Dabei ist er ganz Profi, detailverliebt, absolut drin im Stoff. Er hat auf alle Fragen der zwei Väter und zwei Jungs zu diesen einzigartigen Kutschen auf vier Rädern eine Antwort parat. Schon nach den ersten zwei Schlitten ist mir klar: Vergiss Stuttgart! Vergiss München! Vergiss Monza! Das traumhafte Märchenland der Auto-Enthusiasten befindet sich seit Juli 2023 abseits der Metropolen. Dort in Ewersbach stehen sie poliert im Original, die Zwerge und Riesen von Porsche, Ferrari, Daimler, Ford, Bugatti & Co.

35 Jahre hat der Industrielle Friedhelm Loh Autos zusammengesucht, getauscht und gekauft, wie kleine Jungs Matchbox-Autos – aus 135 Jahren Automobilgeschichte. 150 dieser Unikate hat er jetzt in dieser Schatzkammer zugänglich gemacht. Dafür wurde eine alte Fabrikhalle ummantelt, ein Kino der Sechziger und eine historische Kfz-Werkstatt eingebaut, die schräge Pistenarena von Indianapolis nachempfunden, eine Art Setzkasten für fahrbare Schmuckstücke an die Wand geschraubt. Die dazugehörige Aura von roten Ziegeln, alten Stahlträgern, einer rostigen Kranbahn und blitzenden Karossen verfehlt ihre Wirkung nicht. Sie fesselt sogar einen Autoverschmäher wie mich. Jonathan (12) macht große Augen. Joshua (13) noch größere. Die Jungs sind geflasht. Sie stehen den Favoriten ihrer Autokartenspiele gegenüber. Zum Anfassen. Fast.

Autos mit besonderer Vita

Während sich die Jungs nach dem Besuch der Sonderausstellung „100 Jahre Paris – Le Monde“ mit der Kamera auf Motivjagd in der weitläufigen Halle der Dauerausstellung verlieren, entlocken Stefan und ich dem Hüter der Schätze noch einige Details. Dabei verrät er uns die Philosophie von Prof. Dr. Loh. Dieser sammele nicht wahllos, sondern „jedes Auto hat hier seine ganz besondere Geschichte“. Gleich am Eingang steht der Benz Victoria Phaeton (5 PS, 1895): Erstbesitzer die Familie Benz, dann Henry Ford, dann Friedhelm Loh. Auf dem Marktplatz glänzt der Ferrari 288 GTO (1985, 400 PS) von Asterix-Zeichner Albert Uderzo neben dem Porsche von Herbert von Karajan. Wenige Schritte davon entfernt findet sich der Lincoln Continental „Limo One“, das letzte Auto, das Präsident Kennedy lebend verließ. Hinter der Steilkurve parkt der Ferrari F1-2000, in dem Michael Schumacher zu seinem ersten WM-Titel raste, der McLaren MP4-5A von Ayrton Senna, mit dem dieser den Grand Prix 1989 gewann, der Peugeot, in dem Enzo Ferrari urlaubte,…Märchenhafter Moment

Wenige Meter davon entfernt strahlt eines der teuersten Autos der Welt, der Bugatti Veyron, 8,0-Liter-W16-Motor mit Vierfach-Turboaufladung. „Er verkörpert in Form, Funktion und Schönheit eine Philosophie, das Lebenselixier von Bugatti, die hier Hand in Hand geht“, so Urbitsch strahlend, um dann noch eins draufzusetzen. „Heute ist die Firma Bugatti draußen mit einem französischen Filmteam vor Ort.“ Sie nehmen Szenen mit dem alten Bugatti aus dem Museum auf, zusammen mit „einem Erlkönig, einem getarnten neuen Prototyp des Bugatti Veyron“. Knirschender Kies, ein röhrender Wagen. Ein Märchen für die Jungs. Sie haben feuchte Augen. Sie sind plötzlich echte Car-Spotter, werden zu Geheimnisträgern, denn die Bilder von diesem PS-Giganten dürfen zu dem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht werden.

Ehrfürchtiges Staunen vermischt sich mit Magenknurren. Der Museumsbesuch macht hungrig. Doch das Smartphone und der Tesla finden keine Verbindung. Wir rollen offline vom Parkplatz. In einer Kurve finden wir eine Imbissbude. Dort „hinter den sieben Bergen“ gefühlt „bei den sieben Zwergen“ lassen wir uns Pommes, Schnitzel und das Gesehene auf der Zunge zergehen, ganz im Sinne der Gebrüder Grimm: „Und wenn sie nicht verschrottet sind, leben sie noch heute – im Nationalen Automuseum.“

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO.

Nationales Automuseum – The Loh Collection

Das Nationale Automuseum in Dietzhölztal-Ewersbach öffnet jeweils von Mittwoch bis Freitag, 11 bis 18 Uhr, sowie Samstag und Sonntag von 10:30 bis 18 Uhr. Der Eintritt beträgt 19 Euro für Erwachsene, 15 Euro für Kinder. Das Familienticket kostet 50 Euro. Aktuell kann die Sonderausstellung „Ferrari“ angesehen werden. nationalesautomuseum.de

Ernährung, Schlaf und Sport helfen, Körper und Geist fit zu halten.

Essen, Schlafen und Bewegen – So kommst du zu einem ausgewogenen Leben

Um gut durch das Leben zu kommen, müssen wir Körper und Geist pflegen. Michael Stief erklärt, wie drei Standbeine für einen gesunden Körper und Geist sorgen.

„Du bist nicht du, wenn du hungrig bist!“ Dieser Werbeslogan für einen bekannten Schokoriegel bringt es auf den Punkt: Wir sind keine Geister in einer Maschine aus Fleisch und Blut. Stattdessen sind unser Körper und Geist aufs Engste miteinander verwoben. Wie aber funktioniert ein gutes Zusammenspiel von Körper und Geist und was können wir unserem Körper Gutes tun, damit auch unser Geist profitiert?

Nahrung für den Geist

Nicht nur Bücher sind „Nahrung für den Geist“, unser Essen ebenso. Es sorgt dafür, dass wir – neben der körperlichen – die geistige und seelische Energie haben, die wir täglich brauchen. Den engen Zusammenhang zwischen körperlicher und mentaler Verfassung bestätigt die empirische Wissenschaft: Wenn wir nicht genug essen, sinkt unweigerlich unser Blutzuckerspiegel und dadurch werden wir „hangry“, also hungrig und zornig zugleich, wie es auf Englisch heißt. So berichtet der US-Biologe Robert Sapolsky, dass Richter strengere Urteile fällen, wenn sie hungrig sind, als wenn sie gerade gegessen haben. Ebenso sprichwörtlich sind der „Hungerast“ oder das „Suppenkoma“, die beide beschreiben, wie zu wenig oder zu viel Nahrung uns gleichzeitig physisch und mental schwächt. Und nicht nur die Ernährung schlägt sich auf die Laune nieder. Der Kabarettist und Mediziner Eckart von Hirschhausen liefert dazu einen Fünf-Finger-Kurzcheck:

1. Wann habe ich zuletzt was gegessen?

2. Wann habe ich mich zuletzt unter freiem Himmel bewegt und durchgeatmet?

3. Wann habe ich zuletzt geschlafen?

4. Mit wem?

5. Und warum?

(Quelle: Glück kommt selten allein, S. 87)

Essen und Trinken, Bewegung und Schlaf sind in komplexe Stoffwechselkreisläufe eingebunden, die nicht nur unseren Körper funktionstüchtig halten, sondern auch unseren Geist. Die Idee, dass ein gesunder Geist einen gesunden Körper braucht, ist nicht neu – sie geht auf den griechischen Philosophen Platon zurück und wurde als Sinnspruch „mens sana in corpore sano“ („ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“) sprichwörtlich.

Der Mensch ist kein Geist in der Maschine

Dabei war diese Vorstellung immer wieder umstritten. Im Zuge der technischen Entwicklung gipfelte die Trennung von Geist und Körper bei dem französischen Philosophen René Descartes in der Erklärung: „Ich denke, also bin ich!“ Damit bahnte er der Vorstellung den Weg, dass der Mensch ein rein geistiges Wesen in einem uhrwerkgleichen Körper sei. Doch schon Jahrhunderte zuvor hatte sein griechischer Berufsgenosse Sokrates die Ideen für wirklicher erklärt als die Erscheinungen der Wirklichkeit. Damit begann die Überbewertung des Geistes und eine letztendliche Geringschätzung des Körpers (trotz des Körperkultes bei den Olympischen Spielen).

Unsere westlich-europäische Kultur hat so über die Jahrhunderte einen immer größeren Gegensatz zwischen Körper und Geist aufgetürmt und auf Kosten des Körpers aufgelöst: Der Körper ist lange Zeit zu einem Instrument, zu einem Lasttier degradiert worden. Erst in den letzten Jahrzehnten findet die Wissenschaft wieder zu der Erkenntnis, dass wir nicht einen Körper haben, sondern ein Körper sind – und kein Bewusstsein, das sich eines Körpers bedient oder schlimmstenfalls in diesen eingesperrt wäre. Wir essen, schlafen und bewegen uns also nicht, um eine Maschine intakt zu halten, sondern weil wir dieser Körper sind und weil unsere körperliche Verfassung auch unsere mentale Verfassung beeinflusst, unser Erleben, Denken und Entscheiden.

Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen

Was, wie viel und wann wir essen und trinken, hat einen maßgeblichen Einfluss auf unser subjektives Wohlbefinden, unsere körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit und die emotionale Regulation im zwischenmenschlichen Verhalten. „Der Mensch ist, was er isst!“ Das gilt im einfachen Sinne, dass unser Körper einen Teil der Nahrung in Energie für Bewegung und Hirnaktivität umsetzt, den anderen Teil aber tatsächlich in vielfältiger Weise in unserem Körper verbaut, wie z. B. aufgenommenes Eisen in neue Blutkörperchen oder Proteinbausteine in Muskeln. Wenn wir daher konsequent unsere Mahlzeiten selbst aus Wasser, Obst, Gemüse, Getreide und den weiteren Etagen der Ernährungspyramide zusammenstellen, anstatt an einem Computerdisplay zu einem „Happy Meal“, dann bekommen wir das nötige „Material“ für Muskelaufbau, einen optimalen Energiestoffwechsel, einen ausgeglichenen Hormonhaushalt und eine gesunde Hirnchemie.Wer die Ernährungspyramide aber regelmäßig auf den Kopf stellt, zu viel Zucker, Fett und Fleisch zu sich nimmt, der muss z. B. aufgrund der „Zucker-Fett-Falle“ mit krankhaftem Übergewicht, womöglich gar erworbenem Diabetes-II oder schlimmstenfalls mit ernährungsbedingten Formen von Krebs rechnen.

Aus dem Essen lässt sich eine Wissenschaft machen und teils auch eine Weltanschauung. Am Ende aber bleiben drei Erkenntnisse, wie wir so essen können, dass es unserem Körper, unserer Seele und unserem Geist guttut:

  • Wähle natürliche und unverarbeitete Nahrung.
  • Halte dich an die weitgehend unumstrittene Ernährungspyramide.
  • Esse maßvoll – pro Mahlzeit und über den ganzen Tag.

Und nicht zu vergessen: Trinke regelmäßig Wasser, 300-400 ml pro 10 Kilo Körpergewicht oder einfach rund 2 Liter.

Wer schläft, sündigt nicht

Wir verbringen ca. ein Drittel unserer Lebenszeit im Schlaf. Aber warum schlafen wir eigentlich? Das hat hauptsächlich drei Funktionen:

  • Im Schlaf verarbeiten wir die Sinneseindrücke, das Wissen und besonders die Emotionen des Tages, insbesondere im Traum und während des sogenannten „REM-Schlafes“.
  • Im Schlaf werden schädliche Stoffwechselprodukte im Gehirn abgebaut.
  • Im Schlaf regeneriert sich der Körper, das Immunsystem und die Wundheilung arbeiten in Tiefschlafphasen auf voller Leistung.

Umgekehrt bewirkt zu wenig Schlaf eine Einschränkung dieser Funktionen: Wundheilung und Immunsystem arbeiten schlechter, die kognitiven Funktionen werden zunehmend eingeschränkt und wir reagieren „dünnhäutiger“. „Hast du schlecht geschlafen?“, hören wir dann etwa, wenn wir vor Müdigkeit knatschig oder übel gelaunt sind. Wie aber kommen wir zu einem gesunden Nachtschlaf? Dabei spielt vor allem die Tatsache eine Rolle, dass unser Schlaf in einen 24-stündigen Tages-Nacht-Zyklus eingebettet ist. Dieser ist vom Tageslicht und dem lichtabhängigen Hormon Melatonin abhängig, das uns bei Dunkelheit schläfrig macht. Förderlich sind daher folgende Gewohnheiten:

  • Abends künstliches Licht und speziell das blaue Licht von Computerbildschirmen vermeiden, um die natürliche Melatonin-Produktion zu fördern.
  • Ein eigener regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus auch am Wochenende, um den natürlichen Zyklus nicht zu stören.
  • Regelmäßige ausreichende Bewegung am Tage, nur moderate Bewegung, Sport oder Yoga am Abend, um den Kreislauf nicht zu stark anzukurbeln und die Entspannung zu fördern.

Dieses Programm mag weniger verlockend klingen, als lange zu feiern, zu zocken oder Serien zu schauen, um dann erschöpft ins Bett zu fallen. Es hat jedoch einen Super-Bonus: Wer seinen Schlaf wie beschrieben pflegt, nimmt tendenziell an Gewicht ab, an Gelassenheit zu und vergrößert seine Chancen auf ein langes Leben. Dafür lohnt sich in der Regel der Verzicht auf „wilde Nächte“.

I like to move it, move it

Wer trotz maßvollen Essens und genügend Schlaf jede freie Stunde nur auf dem Kanapee verbringt, wird auf Dauer weder schlank noch gesund bleiben. Denn Ernährung und Schlaf dienen letztlich dem Zweck, uns tagsüber kraftvolle Aktivitäten zu ermöglichen. Auch wenn diese im 21. Jahrhundert immer öfter nur geistige und dazu sitzende Tätigkeiten sind. Gemacht ist unser Körper aber für die körperliche Aktivität, für das Gehen und Laufen, und dementsprechend ist Bewegung das dritte „Standbein“ für ein stabiles und gesundes Leben. In der Biologie gilt der Satz „use it or loose it“, frei übersetzt: „Wer’s nicht trainiert, verliert’s.“ Wenn wir unsere Muskeln, wenn wir Skelett und Gelenke oder auch unser Herz-Kreislauf-System nicht trainieren und fordern, dann verfällt unser Körper mit der Zeit wie ein ungepflegtes Haus. Unsere Muskeln wachsen und heilen nur, wenn sie genutzt werden. Unsere Knochen bleiben nur dann stabil. Unsere Gelenke werden nur versorgt, wenn wir sie bewegen. Herz, Arterien und Venen bleiben nur intakt bei Belastung. Wir bleiben nur dann fit und in Form, wenn wir mindestens die Kalorien, die wir verzehrt haben, auch wieder verbrauchen. Ja, selbst unser Schlaf wird besser, wenn wir die Stresshormone, die unser Körper im Alltag produziert, auch wieder abgearbeitet haben.

Wie viel Bewegung ist aber genug in einer Welt, in der Sitzen das neue Rauchen ist? 10.000 Schritte am Tag sollten es nach einer „urban legend“ angeblich sein. Doch das ist zu zwei Dritteln ein Marketing-Gag. Real und nach neuen Forschungen reichen auch schon 3.500. Optimal wäre ein auf die persönlichen Vorlieben und Bedürfnisse abgestimmtes Fitness-Programm. Doch das ist sicher nicht mit allen Lebensstilen heutzutage kompatibel. Drei Strategien können aber auch eingespannten Menschen weiterhelfen:

  • Gehe die Extra-Meile. Wann immer du eine Strecke zu Fuß zurücklegen kannst, gehe sie. Egal, ob es die Treppen zum nächsten Büro oder ins eigene Zuhause sind, der Weg zum Supermarkt oder zum Bäcker. Geh oder nimm das Rad, aber nutze jede Gelegenheit für zusätzliche Bewegung.
  • Mach Yoga. Das stärkt die Muskeln und hält beweglich. Dazu braucht es für den Anfang auch keinen Kurs und kein Yoga-Outfit.
  • Mach Krafttraining. Kniebeugen, Sit-ups und Liegestütze oder andere „Bodyweight-Übungen“ bieten auch hier einen niedrigschwelligen Einstieg.

Wer dieses Minimalprogramm konsequent durchzieht, erreicht mehr als mit sporadischen langen Joggingrunden aus schlechtem Gewissen.

Freundschaft zwischen Leib und Seele

Die moderne Lebenswelt hat uns Menschen immer weiter von unserer natürlichen Umwelt und Lebensweise entfernt, die unseren Körper und seine Funktion über Jahrtausende geformt hat. Heute übernehmen dies Fast Food und eine sitzende Lebensweise und sorgen so nicht nur für zunehmende Fettleibigkeit, sondern auch manche psychischen Belastungen. Eine maßvolle und ausgewogene „Diät“ ist daher nicht nur beim Essen eine gute Idee, sondern auch beim Schlafen und Bewegen. Wer Freunde hat, kümmert sich um sie und das sollte auch für unseren Körper gelten. Darum mögen wir dem Rat der Heiligen Teresa von Ávila folgen: „Tu deinem Körper etwas Gutes, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.“

Michael Stief (60) ist Berater für Positive Kommunikation in Führung, Teamentwicklung und Strategie und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Maurer, Pfarrer und Abrüstungsminister: Ein Gespräch mit Rainer Eppelmann

Ausgrenzung, Haft, Verrat und Vergebung. So kann man das Leben von Rainer Eppelmann kurz zusammenfassen. Wie er sein Leben in der DDR meisterte und warum unsere Demokratie so wertvoll ist, erzählt er im Interview mit Rüdiger Jope.

Rüdiger Jope: Als 18-Jähriger wollten Sie Architektur studieren. Warum taten Sie es nicht?

Rainer Eppelmann: (lacht) Salopp ausgedrückt, weil Walter Ulbricht (Anmerkung der Redaktion: der damalige Vorsitzende des Staatsrats der DDR) meinte, ich habe genug gelernt. Ich bin ja in Berlin aufgewachsen. Mein Vater arbeitete als Zimmermann auf einer Baustelle in Westberlin. Er gehörte daher zur unanständigen Kategorie der „Grenzgewinnler“.

Das hatte zur Folge?

Mir wurde der Zugang zum Abitur verwehrt. Meine Mutter fand dann in Westberlin ein Gymnasium, wo Jugendliche wie ich, denen aus religiösen oder politischen Gründen in der DDR der Zugang zum Abitur verweigert wurde, es absolvieren konnten. Am Ende der elften Klasse ging diese Tür zu.

Auf Umwegen

Warum?

Weil Walter Ulbricht am 13. August 1961 den „antifaschistischen Schutzwall“ zwischen Ost und West bauen ließ. Damit war der Weg zur Schule und zum Abitur versperrt. (etwas wehmütig) Ich habe es nie nachgeholt. Ich machte stattdessen eine Ausbildung zum Maurer.

Was haben Sie aus diesem vermeintlichen „Umweg“ fürs Leben gelernt?

Ich war später als Pfarrer ungeheuer dankbar, dass ich nicht von der Schule direkt zur Universität und dann ins Pfarramt gegangen bin, sondern sieben Jahre mit meiner Hände Arbeit mein Geld hart verdient habe. Ich habe dort auf den Baustellen ganz normale Menschen kennengelernt. Mir fiel es daher nicht schwer, einfachen Arbeitern auf Augenhöhe zu begegnen.

1967 verweigerten Sie den Dienst an der Waffe in der NVA (Nationale Volksarmee). Auch beim Gelöbnis auf den DDR-Staat stellten Sie sich quer. Das hatte zur Folge?

Ich war Bausoldat des 2. Jahrgangs in der DDR. In der Jungen Gemeinde (Anm. d. Red.: Kirchliche Jugendarbeit) hatten wir uns darauf verständigt: Wenn du jemandem etwas versprichst, dann muss das Gott oder Jesus gegenüber passieren, aber nicht der staatlichen Obrigkeit. Maßgeblich für dieses Nein war aber auch das, was in Auschwitz und in unserem Land von 1933 bis 1945 durch die Deutschen angerichtet wurde, namentlich auch durch meinen Erzeuger.

Mit der Bibel im Knast

Erzeuger? Wie meinen Sie das?

Ich habe bis heute Schwierigkeiten, Vater zu sagen. Mein Vater war bei der SS, gehörte zur Wachmannschaft im KZ-Buchenwald, war einer, der Befehle ausführte. Der rechtfertigte sich in Diskussionen über sein Tun: Ich habe doch einen Eid geschworen. Als ich dann vor der Frage des Eides stand, war mir klar: Das mache ich nicht! Warum sollte ich die verteidigen, die mich 1961 in diesem Land eingesperrt haben?

Mit Ihnen zusammen haben 21 Bausoldaten diesen Befehl verweigert …

Als dies ruchbar wurde, ließ man uns im Hof antreten. 22 Soldaten traten nicht raus zum Gelöbnis. Dann kam plötzlich der Militärstaatsanwalt dazu und sagte: Sie bekommen den Befehl jetzt noch einmal. Wer diesen verweigert, muss mit einer langjährigen Haftstrafe rechnen.

Und dann?

(nachdenklich) Sind 20 von 22 rausgetreten. Das brachte mir acht Monate Gefängnis ein.

Wie war das, plötzlich als junger Mann hinter Gittern zu sitzen?

Die ersten zwei Tage in der Haft waren sehr schwer. Da hat mir permanent das Wasser in den Augen gestanden. Das Gefühl des Eingesperrtseins war schrecklich. Nach drei Tagen habe ich gemerkt, dass mir Widerstandskraft zuwuchs. Im Rückblick kann ich sagen, diese acht Monate im Gefängnis haben mich angstfrei und furchtlos gemacht. Wenn man weiß, warum man im Gefängnis sitzt, nämlich um sich, seinem Glauben und seiner Weltanschauung treu zu bleiben, geht man da gestärkt heraus. In meinem Gepäck hatte ich eine Bibel. Diese habe ich von vorne bis hinten studiert. Diese Worte wurden mir zum Trost und Halt.

Sie waren in der U-Haft mit zehn Männern in einer Zelle. Die Tage vergingen im Schneckentempo …

Ja, wir hatten viel Langeweile. Wir fingen schließlich an, die Wächter zu ärgern. Du brauchtest bloß ein bisschen laut zu werden, da mussten die kommen. (heiter) Das Spiel haben wir dann besonders gerne nachts gespielt. Wir lärmten los. Der Wärter kam gerannt, schaute durchs Guckloch und alle riefen im Chor „Eins“. Das Spiel endete nach der 13. Dann kam er nicht mehr. Am nächsten Morgen wollten sie den Rädelsführer genannt haben. Doch wir hielten zusammen. Da wurde ich als „Soldat“, der die Gruppe zu führen hätte, zu einigen Wochen verschärftem Arrest verdonnert.

„In Berliner Gemeinden hat man es mit Intelligenzlern zu tun“

Nach den acht Monaten Gefängnis mussten Sie noch die komplette Bausoldatenzeit ableisten. Und dann?

Ich wäre gerne Journalist geworden, aber da führte kein Weg rein. Ich bekam dann mit, dass die evangelische Kirche händeringend Pfarrer suchte.

Sie nahmen ein Theologiestudium über den zweiten Bildungsweg am „Paulinum“ in Berlin auf …

Gleich zu Beginn des Studiums fragte mich der Ausbildungsleiter, wie ich mir das denn mit dem Pfarramt vorstellen würde. Ich habe ihm dann meine Beweggründe geschildert und ihm gesagt, dass ich hinterher gerne eine Berliner Gemeinde übernehmen würde. Da lachte dieser schallend und sagte: Das geht nicht – in Berliner Gemeinden hätte ich es mit Intelligenzlern zu tun.

Hat Sie das verletzt?

Nein, ich war mir meiner sicher. Die ersten Jahre habe ich mich sehr unter Druck gesetzt, bis in mir die Überzeugung heranreifte, dass auch ein Halbtheologe ohne Abitur und universitären Abschluss ein ganzer Theologe für die Menschen sein kann. (lacht) Ich bin dann tatsächlich Pfarrer und Kreisjugendpfarrer in Berlin Friedrichshain geworden. Später habe ich dann auch gemerkt: Deine Komplexe kannst du stecken lassen, dafür bist du mit deiner Maurererfahrung nahe dran an den Menschen.

Sie scherten mit politischen Äußerungen und den Blues-Messen in der Samariterkirche aus dem Konsens „Kirche im Sozialismus“ aus. Was passierte dadurch?

(lacht verschmitzt) Bei Jugendlichen kam das gut an. Blues-Veranstaltungen durften ja nach der DDR-Veranstaltungsordnung nicht in Kirchen stattfinden, aber Blues während eines Gottesdienstes war nicht verboten. Mit einem Kollegen wagte ich dieses Projekt. Wir tranken mit den Jugendlichen, die überall im Stadtteil herumlungerten, eine Pulle Bier, spielten mit ihnen Fußball, luden sie in unsere Räume ein. Die fingen an, von ihren Sorgen, Nöten und Ängsten zu erzählen. Die Blues-Messen ohne lange Liturgie wurden zum Herzschlag unserer Gemeindearbeit. Bis zu 8.000 junge Menschen rückten aus der ganzen DDR zu diesen Gottesdiensten in zwei Kirchen an.

Das hat Ihnen aber sicher nicht nur Beifall eingebracht?

Nein, mehr als einmal wurde ich im Pfarrkonvent gefragt: Wie viele davon haben sich taufen lassen? Wie viele davon zahlen inzwischen Kirchensteuer? Da habe ich gesagt: Das ist nicht meine Triebfeder. Ich wollte einfach das Wort Jesu: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“ (Matthäus 11,28) leben.

Wie hat der Staat, der ja für sich in Anspruch nahm, der einzig wahre Anbieter für die Arbeit mit Jugendlichen zu sein, auf diese Konkurrenz reagiert?

Der Ärger auf staatlicher Seite war groß. Sie übten auf meine Vorgesetzten massiven Druck aus, diese Gottesdienste einzustellen. Man wollte mich auf eine andere Stelle wegloben. Doch ich blieb, kämpfte für dieses Format bis zum Ende der DDR. Der Staat schwenkte schließlich um, fing an, Druck auf mich persönlich auszuüben.

Manipulierte Bremsen und Vergiftung

Man versuchte Sie dann mit einem Mordanschlag aus dem Verkehr zu ziehen …

Meine Stasi-Akten erzählen mir von vier Versuchen. Mir wurde an einer Kreuzung die Vorfahrt genommen. Der LKW-Fahrer ist bei rot gefahren und in mich hineingekracht. Mein Wagen hatte einen Totalschaden und ich zwei angebrochene Halswirbel. Im Krankenhaus stellte man fest, dass in meinen Händen und Füßen Lähmungserscheinungen anfingen. Ich wurde zum Glück schnell operiert, ansonsten wäre ich heute wohl querschnittsgelähmt. Einmal hatte ich Zucker im Tank, und das Lenkrad meines Dienstwagens wurde manipuliert. Ich fuhr mit meiner Frau und meinen vier Kindern einen Waldweg entlang, als ich plötzlich das Lenkrad in der Hand hatte. Ich fuhr zum Glück im Schritttempo und brauchte nur auf die Bremse drücken. Einen Tag vorher waren wir auf der Autobahn. Wir wären wohl alle ausgelöscht worden. Später wurde geplant, dass mich eine Frau aus der Gemeinde zum Abendessen einlädt. In eine Pilzsuppe wollte man mir Grüne Knollenblätterpilze untermischen.

Sie haben dann 1982 zusammen mit dem Bürgerrechtler Robert Havemann den Berliner Appell „Frieden schaffen ohne Waffen“ verfasst …

… der mir zwei Tage Stasi-Knast einbrachte und hinter den politischen Kulissen für heftigen Wirbel gesorgt hat. Die evangelische Kirche und die damalige Bundesregierung intervenierten bei der Regierung der DDR. Stasi-Chef Mielke wollte mich wegsperren oder aus der DDR rausschmeißen. Staatschef Erich Honecker wollte keinen zweiten Fall Biermann. Er sorgte dafür, dass ich wieder in der DDR freikam, rang der Kirche aber das Versprechen ab, dass der Eppelmann zukünftig in politischen Dingen seine Berliner Schnauze hält.

Das haben Sie dann auch getan?

(lacht) Ich habe denen gesagt, in der nächsten Woche lehne ich alle Interviewanfragen aus dem Westen ab, dann aber nicht mehr.

Keine freie Wahl

Als Pfarrer im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain haben Sie im Mai 1989 die Auszählung der Kommunalwahl mutig vor Ort mitverfolgt. Wie haben Sie die Auszählung kontrolliert?

Wir haben nicht mehr gemacht, als die Zahlen aufzuschreiben, die die Wahlhelfer im Wahllokal vor unseren Augen und Ohren genannt haben. Das waren keine errechneten oder erdachten Fantasiezahlen, die wir zusammengeschrieben haben.

Was haben Sie gedacht, als Sie das manipulierte Ergebnis hörten, welches DDR-Wahlleiter Egon Krenz in der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ verkündete?

Ich habe mich geärgert und wir haben uns bestätigt gefühlt. Wir sahen: Die haben das gemacht, was sie offensichtlich all die Jahre auch schon gemacht haben, nämlich uns zu betrügen.

Waren die gefälschten Wahlergebnisse der Anfang vom Ende der DDR?

Zumindest ein entscheidender Dominostein. Das Agieren hat manchen ehrlichen Menschen wie eine Keule getroffen. Ich bin vielen der SED Nahestehenden oder auch SED-Mitgliedern begegnet, die fassungslos waren. Die im Grunde ihres Herzens anständige Menschen sein wollten und dann auf einmal tief enttäuscht feststellten: Ihre Jungs da oben sind Heuchler und Lügner.

Sie sind auch bespitzelt worden?

(langes Schweigen) Das hat mich sehr getroffen. Mein bester Freund war Wolfgang Schnur – dachte ich zumindest. Er war als Anwalt der Ansprechpartner der Kirche im Blick auf den Beistand für Bausoldaten oder Totalverweigerer. Im März 1990, wenige Tage vor der ersten freien Wahl in der DDR, flog seine Tarnung auf. Es stellte sich heraus, dass er von 1965 bis 1989 einer der wichtigsten Stasi-Spitzel im Bereich der evangelischen Kirche gewesen ist. Ich habe ihn dann nach seinem Zusammenbruch im Krankenhaus besucht. Erst hat er mich stundenlang vor der Tür warten lassen, dann erzählte er mir, dass er dem Magazin Stern ein Interview zu seiner Tat gegeben habe. Zu meinem Erstaunen sagte er mir, „von irgendetwas muss ich ja jetzt noch leben“. Ich verließ das Krankenhaus tief enttäuscht, weil ihm kein Wort der Erklärung, der Bitte um Entschuldigung über die Lippen kam.

Sind Sie ihm nochmal begegnet?

Zehn Monate nach seiner Enttarnung war ich für eine Zeugenaussage vor Gericht in Rostock. Als ich die Treppe hochging, stand er da. Er wandte sich mir zu und wollte mir die Hand geben. Da habe ich ihm den Handschlag verweigert, ihm gesagt: „Wolfgang, du musst mir eine Menge erzählen, bevor ich dir wieder die Hand geben kann.“ So mancher hat mir danach gesagt: „Du als Pfarrer musst ihm doch verzeihen.“ Nein, sage ich, in meiner Bibel steht, dass man keine Perlen vor die Säue werfen soll. Wenn einem verziehen werden soll, muss zumindest ein Fünkchen Reue vorliegen.

Weg in die Politik

Wenige Wochen nach dem Mauerfall wurde der Pazifist Eppelmann Minister der Verteidigung bei der Volksarmee. War das nicht widersprüchlich?

Ich habe mit dieser Anfrage von Ministerpräsident Lothar de Maizière sehr gerungen. Ich habe ihm zuerst gesagt, nee, das mache ich nicht. Aber als Abrüstungs- und Verteidigungsminister würde ich zur Verfügung stehen. Später habe ich erfahren, dass andere ihm schon einen Korb für diese schwierige Aufgabe gegeben hatten. Als Pfarrer kam mir zugute, dass ich mich um die kümmerte, bei denen etwas zusammengebrochen ist. Und für die NVA-Militärs war auf einmal alles anders, für die war ihr Weltbild zusammengebrochen. Zugleich waren sie die Einzigen, die schwer bewaffnet waren. Wie würden die reagieren? Wie der Bär, der in die Ecke gedrängt wird?

Wie haben Ihre politischen Mitstreiter auf diesen Frontenwechsel reagiert?

(zögerlich, leise) Ich sehe heute noch das Schild an der Samariterstraße 27: „Eppelmann treibt uns in die NATO.“ Und ich habe noch heute die Zeitungsannonce von Katja Havemann und Bärbel Bohley vor Augen. Da stand: „Rainer Eppelmann! Wir schämen uns für dich.“

Hat Sie das verletzt?

Schön war es nicht. Ja, es hat mich geärgert und traurig gemacht.

Sie sind jetzt 81 Jahre alt. Was hat Sie davor bewahrt, in all den durchgestandenen Kämpfen nicht bitter zu werden?

Wir haben gewonnen, gewaltfrei und friedlich. Nicht die Honeckers, nicht die Mielkes und auch nicht die Stasi haben triumphiert, sondern wir als Volk. Und ganz sicher hat mir auch mein christlicher Glaube geholfen, die Dinge immer wieder einzuordnen, unter die Füße zu bekommen.

Demokratie ist nicht perfekt, aber…

Was macht Sie im Blick auf die Zukunft in diesen politisch unruhigen Zeiten hoffnungsvoll?

Demokratie ist nicht perfekt, es gibt Ungerechtes, Notvolles, Schwieriges, aber die Schicksalsfrage für uns Deutsche und Europäer lautet doch: Willst du in einer Diktatur oder in einer Demokratie leben? Mir ist klar, dass unsere Demokratie nicht das Paradies ist, aber es gibt meiner Überzeugung nach keine Staatsform, die dem am nächsten kommt. Diktatur hingegen ist immer unmenschlich, weil es Menschen zu Untertanen macht, aber nicht zu freien, fantasievollen und schöpferischen Staatsbürgern.

Gibt es ein Bibelwort, das Sie in all den Jahren begleitet hat?

Das Dreifachgebot der Liebe aus Matthäus 22. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt …
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Meine Erfahrung und tiefste Überzeugung ist: Ich kann kein unterstützendes, empathisches Verhältnis zu anderen haben, wenn ich mich selber nicht gern habe.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. Er ist gebürtiger Ostdeutscher und musste sich 1980 vor Pionierleiterin und der Klassenlehrerin rechtfertigen, warum er auf seiner Jacke den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ trug.

Rainer Eppelmann lernte den Beruf des Maurers. Nach seinem Dienst als Bausoldat studierte er Theologie und war bis 1989 Pfarrer in der Berliner Samaritergemeinde. Eppelmann war Mitbegründer der Partei „Demokratischer Aufbruch“ und in der frei gewählten Regierung de Maizière Minister für Abrüstung und Verteidigung. Von 1990 bis 2005 war er Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Eppelmann ist heute Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. bundesstiftung-aufarbeitung.de

 

Foto: Rüdiger Jope

Martin Kielbassa ist Kriminalkommissar in Essen. Bild: Rüdiger Jope

Kriminalkommissar: „Ich will Menschen davon abhalten, Straftaten zu begehen“

Martin Kielbassa jagt seit mehr als 40 Jahren Verbrecher. Doch er möchte auch verhindern, dass junge Leute überhaupt straffällig werden. Er berichtet, was ihn bewegt, was sich verändert hat und welcher Fall ihn nicht loslässt.

Es ist 7:28 Uhr in Essen-Steele. Ich drücke die Klingel an einem in die Jahre gekommenen Klinkerbau. „Polizeipräsidium Essen.“ Es surrt. Auf den gesprenkelten Terrazzoplatten tritt mir Essens 1. Kriminalhauptkommissar Martin Kielbassa (62) entgegen. Jeanshose und blauer Pulli statt Uniform und Waffe. Er wirkt locker. Seine Augen strahlen. Schon im ersten Moment spüre ich: Hier brennt einer für seinen Beruf und die Menschen.

Zwei Stockwerke höher. Wir sitzen vor zwei Bildschirmen. Martin überfliegt die Meldungen, die in der Nacht reingekommen sind. Ihm ist es wichtig, „vor die Welle zu kommen“. Er liest sich in zwei Wohnungseinbrüche, ein Drogendelikt, einen Raubüberfall und einen Erpressungsversuch ein. Das Telefon klingelt. „Ja, habe ich gelesen, spreche ich nachher in der großen Dienststellenrunde an. Nein, beim Spiel von Rot-Weiss Essen verlief diesmal alles normal. Glück auf!“ Dampf steigt auf aus zwei Kaffeetassen mit der Aufschrift „Grün ins Grau“.

Feuerwerkskörper, Rollerdiebstahl und Führungsbunker

7:57 Uhr. Stimmengewirr. Zehn Männer und drei Frauen haben sich zur donnerstäglichen Dienstbesprechung ins Zimmer ihres Chefs gequetscht. Auf dem Tisch ein grüner Adventskranz. „Hat jemand Streichhölzer für die Kerzen?“ „Wie war das mit ‚kein offenes Feuer in Diensträumen‘?!“ Gelächter. „Vanessa, ich wollte dir vorhin helfen, dein Auto von der Kreuzung zu schieben, doch gerade da rief der Staatsschutz an …“, sagt jemand. Ein anderer witzelt: „Deinen Smart schiebt man doch mit einer Hand.“ Lachen. Lebkuchen werden rumgereicht. Martin moderiert, hört aufmerksam zu, schreibt mit. „Bitte gebt noch eure Urlaubsanträge für 2024 ab. Und nochmals ein dickes Dankeschön an die zwei, die sich für den Bereitschaftsdienst an Silvester gemeldet haben. Zwei von uns sind übrigens in der nächsten Woche in die Mordkommission abgeordnet.“

Dann gibt er die Runde frei und berichtet, was sich in der letzten Woche in Essen und Mülheim an der Ruhr getan hat. „Bei Amazon wurden von einer Person explosive Stoffe in größerer Menge bestellt. Die Kollegen haben eins und eins zusammengezählt und bei einer Hausdurchsuchung eine größere Menge Feuerwerkskörper sichergestellt. Derzeit prüfen wir, ob ein Straftatbestand vorliegt …“ „Im Fall der Rollerdiebstähle haben wir vier Jugendliche festgenommen. Erste Ermittlungsergebnisse erwarte ich Mitte nächster Woche.“ „Vom Raubüberfall auf die zwei Supermärkte liegen jetzt gute Bilder im Fahndungsportal. Die Typen waren sehr auffällig, die werden mit Sicherheit bald gefasst.“ „Nach unserer Observation ist das SEK bei dem alten Mann rein. Der hat sich im Keller einen kleinen Führungsbunker eingerichtet. Es wurden Waffen sichergestellt. Bei ihm liegt wohl eher eine Erkrankung als eine Gefährdung vor. Er wurde in die Klinik eingewiesen.“ „Ein Arzt in der Uni-Klinik wurde mit einer Glasflasche angegriffen. Wir haben das Ganze als versuchten Tötungsdelikt eingestuft.“ „Eine aufmerksame Nachbarin hat uns auf den Drogenhandel in ihrer Nachbarschaft aufmerksam gemacht. Wir konnten den Tatverdächtigen festnehmen. In der Hand hatte er eine Plastiktüte mit allem, was das Herz begehrt …“

Vom Hauptschüler zum Hauptkommissar

8:55 Uhr. Wir sind unterwegs im Auto. Martin begleitet heute zwei Jugendkontaktbeamte in Essener Schulen. Ich lerne: „Prävention ist der beste Opferschutz.“ Erst mal stehen wir im Stau. Das Handy schweigt. Gelegenheit zum Nachfragen. „Wolltest du schon immer Polizist werden?“ Martin lacht und schüttelt den Kopf. „Mein Vater war Schlosser. Er meinte, dass die Hauptschule für mich langt, um schlau zu werden. Zu viel Intellekt verhindere zudem nur den christlichen Glauben.“ So tut Martin nicht mehr, als er muss, erlernt nach der 9. Klasse den Beruf des Kfz-Mechanikers. Bei der Bundeswehr verschlägt es ihn zu den Feldjägern. Diese arbeiten mit der Polizei zusammen. Dabei entdeckt er: Das ist „ein toller Job, der macht mir Spaß“. Er holt das Fachabitur nach, geht als Polizist auf Streife, schreibt sich zum Studium an der Polizeihochschule ein, wird Kriminalbeamter, leitet Brand-, Umweltdelikt-, Einbruchs-, Automatensprengungs- und Mordermittlungen und die Ermittlungsgruppe Jugend. Die Ampel springt auf grün. Es läuft, bei ihm und im Verkehr.

9:28 Uhr. Gesamtschule Essen Nord. Grau statt grün. Große Löcher klaffen in der Decke. Ein Riss zieht sich über die Wand. Eine alte Tafel, der Geruch eines feuchten Schwammes wabert durch den Raum. An der Pinnwand prangt ein vergilbter ZEIT-Artikel „Auf nach Mekka“. Die Jugendkontaktbeamtin Vanessa begrüßt die 8c. Die Jugendlichen wirken schüchtern. „Seid ihr immer so ruhig?“ Bei den Stichworten „Videos“ und „Mobbing“ brodelt es. „Darf ich den schlagen, der meine Mutter beleidigt hat? War doch nur ein Klatscher!“ Vanessa hört zu, fühlt sich ein, fragt nach, aber eiert auch nicht rum. Mit der Pistole im Halfter steht sie hier auch für einen sprachfähigen und wehrhaften Staat. Vier Halbwüchsige drängeln sich in den Vordergrund. „Jugendarrest ist doch wie Probewohnen im Knast“, entfährt es dem Einen belustigt. „Den Vater des Wortführers und seine Brüder kenne ich. Wenn die schon im Knast sitzen, ist es schwierig, aus der Vita der Familie auszusteigen“, merkt Martin nachdenklich auf dem Weg nach draußen an. Präventionsarbeit ist Sisyphusarbeit, aber „sie lohnt sich, denn jeden Euro, den wir hier investieren, müssen wir hinterher nicht in die Aufklärung und den Strafvollzug stecken“.

Tatorte und ein offener Fall

11:17 Uhr. Dank des grünen Pfeils dürfen wir rechts abbiegen. Die Straßen und Plätze auf dem Weg zur nächsten Schule erzählen Kriminalgeschichten. „Dort in der Einfahrt habe ich mal einen Autodieb festgenommen.“ „Hier an der Ecke haben wir einen Erpresser observiert.“ „Da drüben wurde ein Geldautomat gesprengt.“ „In das geöffnete Fenster im ersten Stock warf ein Schüler im Übermut eine Wunderkerze. Beim anschließenden Wohnungsbrand starb eine Frau.“ „Gibt es einen Fall, der dir noch nachhängt?“, frage ich. „Ja, für die Aufklärung dieser Geschichte würde ich sogar aus dem Ruhestand zurückkommen“, entfährt es dem 61-Jährigen spontan. Ein Mann meldet seine Frau als vermisst. Im Verhör verstrickt er sich. „Doch trotz intensiver Ermittlungsarbeiten hatte ich nur Indizien in der Hand. Die Leiche wurde bis heute nicht gefunden. Der Staatsanwalt signalisierte mir: ‚Martin, das langt nicht‘, obwohl ich zu 100 Prozent sicher bin, dass er der Täter ist.“ Ich spüre: Das nagt an ihm, auch Jahre nach Einstellung der Ermittlungen noch.

12:29 Uhr. „Glückauf“-Hauptschule in Essen. Auch dieser Schule mangelt es an Grün. 10. Klasse. Elf Jungs und drei Mädels sind anwesend, zwölf machen heute blau. Jürgen, der Jugendkontaktbeamte, referiert zum Thema „Online-Sicherheit“. Er füllt den Raum mit gelebter Präsenz, einem gesunden Selbstbewusstsein, enormem Hintergrundwissen und Schlagfertigkeit. Der ehemalige IT-Experte hat hier seine Berufung gefunden. Dem Polizisten gelingt es, den Schülerinnen und Schülern trotz deren permanenten Toilettengängen und Zwischenrufen Aufmerksamkeit abzuringen und sie für einen vorsichtigeren Umgang mit dem Internet zu sensibilisieren.

13:45 Uhr. Martins Magen knurrt. Doch zwischen Wettstuben und Shisha-Bars lässt sich kein Bäcker mehr finden. Knapp 40 Jahre ist er jetzt in Essen als Polizist unterwegs. „Was hat sich geändert in den Jahren?“, frage ich. „Der Respekt gegenüber der Polizei hat abgenommen. Wir haben es mehr mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu tun. Die Clan-Kriminalität ist hinzugekommen und früher gab es keine Prävention. Da wurde nur ermittelt und weggesperrt. Heute will ich Menschen davon abhalten, Straftaten zu begehen. Mein Ziel ist es, vor die Welle zu kommen. Dafür brenne ich“, sagt’s und winkt eine Frau mit Kinderwagen über den Fußgängerüberweg. Während er wieder Gas gibt, bohre ich nach. „Was wäre aus deiner Sicht wünschenswert?“ Martin überlegt nicht lange. „Ich wünsche mir wieder Eltern, die ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen und frühzeitig Grenzen setzen. Wenn Mama und Papa keine Vorbilder sind, was soll dann aus den Kids werden?“ Martins Worte fließen jetzt wie der Verkehr vor uns: „Wir haben als Polizei einen pädagogischen Auftrag. Mich und mein Team spornt es an, Jugendlichen Hilfe anzubieten, damit sie nicht (mehr) straffällig werden.“

Vor Gott sind alle Menschen gleich

14:05 Uhr. Wieder im Präsidium. Martin hat einen Apfelstrudel aufgetrieben. Er schenkt mir Kaffee ein. Ich spüre: Der 61-Jährige hat noch Freude an seinem Job. Neugierig hake ich nach: „Wie hast du dir diese Frische behalten? Wie bleibst du positiv in all dem Bösen?“ „Mein christlicher Glaube gibt mir jeden Tag Halt, Kraft und Zuversicht. Ich glaube an einen Gott, der mich geschaffen hat, der auch mich reparieren will und kann. Und dieser Gott differenziert nicht – du bist schuldig, egal, ob du jemanden getötet oder jemanden angelogen hast. Weil es ein Gott der zweiten Chance ist, will ich diese auch anderen geben.“ Martin geht mit seinem Christsein offen um. Da frotzelt schon auch mal jemand. „Du als Christ machst das so?“ Oder er wird mit dem Namen „Der barmherzige Martin“ betitelt. Das Telefon klingelt. „Martin, kannst du am Wochenende kurzfristig die Leitung der Gefangenensammelstelle beim Fußballspiel von Rot-Weiss Essen übernehmen?“

15:18 Uhr. Zeit für Verwaltungskram. Martin stöhnt. Führungskraft ist er jedoch gern. Sein Bestreben ist es, Mitarbeitende an der richtigen Stelle zur Entfaltung zu bringen. „Ich will den Menschen in meinem Team den Rücken freihalten. Sie sollen hier befreit aufspielen. Wenn sie glücklich sind, bringen sie auch Leistung“, spricht’s und zitiert im nächsten Atemzug seinen Lieblingsbibelvers. „Wer unter euch der Größte sein will, sei euer Diener“ (Matthäus 23,11). Er macht sich auf in die Küche, um den Stoß dreckiger Kaffeetassen abzuspülen.

18:35 Uhr. Martin sitzt hinter Gittern in der JVA Bochum. Um ihn in der Kapelle im Stuhlkreis herum 13 Inhaftierte. Er hört den Gefangenen zu, ermutigt sie, erzählt von seinem Glauben als Christ und feiert mit denen, die er und seine KollegInnen morgens hinter Schloss und Riegel brachten, einen Gottesdienst. Fröhlich greift er in die Saiten seiner Gitarre und schmettert mit ihnen adventlich im Chor „Macht hoch die Tür“.

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. Seit Januar 2024 geht er im Ehrenamt der Aufgabe eines Jugendschöffen am Amtsgericht Hagen nach.

General: „Soldaten stehen im Dienst an der Gesellschaft“

Seit dem Krieg in der Ukraine steht die Bundeswehr besonders im Fokus. General Jürgen-Joachim von Sandrart ist Soldat in zehnter Generation und erklärt, wie Soldaten der Gesellschaft dienen und selbst Gefahren auf sich nehmen.

Eigentlich wollte er Land- und Forstwirt werden, um dann, wie sein Großvater nach dem Ersten Weltkrieg, in Argentinien eine Farm aufzubauen. Aber dann kam alles anders. Jürgen-Joachim von Sandrart wurde Soldat und führte damit eine noch ältere Familientradition in der zehnten Generation fort. Er absolvierte die damals übliche Wehrpflicht, verpflichtete sich anschließend für zwei Jahre und schlug die Laufbahn zum Reserveoffizier ein. Als Zeitsoldat studierte er an der Universität der Bundeswehr in Hamburg Wirtschafts- und Organisationswissenschaften. Mit einem Schmunzeln denkt er an diese Zeit zurück: „Ich bin sicherlich kein Vorzeigestudent gewesen. Ich habe das Studium gemacht, weil es ein Auftrag war, eher schlecht als recht. Für mich stand immer im Vordergrund, Soldat zu sein – mit Menschen im Team zu arbeiten, zu gestalten und ein Team zu führen –, nicht Wirtschaftsakademiker.“ Da lag es nahe, dass er nach dem Studium schließlich Berufssoldat wurde. Auch seine zukünftige Frau Harriet fand ein Ja dazu. 1991 heirateten die beiden.

GEFÄHRDETE BEZIEHUNG

Er arbeitete sich hoch vom Leutnant bis zum Oberst. Dazu gehörte auch der häufige Wechsel der Standorte Hamburg – Lüneburg – Strasburg – Rosengarten – Wöhrden bei Stade – und damit verbunden viele Umzüge für die Familie von Sandrart. 2008 entschied sich das Ehepaar für eine Fernbeziehung zugunsten einer kontinuierlichen Schulbildung und einem stabilen Umfeld für die Kinder. Mutter Harriet zog mit den drei Söhnen und der Tochter nach Stade. Vater Jürgen-Joachim kam an den Wochenenden von seinem jeweiligen Standort angereist. Eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Sie sind dankbar, dass sie das als Familie und Paar so gut gemeistert haben. Das ist nicht selbstverständlich, denn die Scheidungsrate bei der Bundeswehr liegt deutlich im höheren zweistelligen Bereich.

Herausfordernd waren auch die Auslandseinsätze, an denen Jürgen-Joachim von Sandrart teilgenommen hat. Dreimal war er für jeweils mehrere Monate im Einsatz, dazu zählten Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan. Hier überlebte er 2011 nur knapp einen Anschlag, bei dem elf Menschen getötet und neun weitere schwer verletzt wurden. Bis heute redet er in der Öffentlichkeit „sehr ungern“ über dieses Ereignis. Er befürchtet, dass viele nur eine Abenteuergeschichte hören wollen und darüber vergessen, wie traurig und auch traumatisch alles war. Und wenn er doch etwas erzählt, dann spiegelt seine Mimik und Gestik wider, wie nah ihm das alles geht, auch heute noch, mehr als zwölf Jahre später. „Ich bin dankbar, dort unversehrt herausgekommen zu sein. Wir haben Kameraden verloren, die ich beide auch sehr gut kannte. Ich bin dankbar für eine herausragend gute Ausbildung, die mir erlaubt hat, zu überleben und richtig zu reagieren. Und ich danke dem lieben Gott.“ Den „lieben Gott“ kennt er von Kindesbeinen an. Der christliche Glaube wurde in seinem Elternhaus ganz natürlich gelebt und prägt bis heute seinen Alltag. „Das Ungewisse ist eine wesentliche Herausforderung des soldatischen Lebens. Wenn Sie im Einsatz führen, wissen Sie letztendlich nie zu hundert Prozent, was auf einen zukommt; wir bezeichnen dies als Handeln und Führen ins Ungewisse. Es gibt keine hundertprozentige Gewissheit, wie sich Dinge entwickeln werden, welche Herausforderungen vor einem liegen, welche Entscheidungen man treffen muss für die einem Anvertrauten und für sich selbst. Sie müssen sich in jeder Situation fragen: Was ist jetzt zielführend? Was ist richtig? Was ist auszuschließen? Was ist zweckmäßig?“

GEFÄHRDETES LEBEN

Vielleicht konnte er deshalb nach dem Anschlag in Afghanistan schneller wieder zur Tagesordnung übergehen. „Weitermachen! Wir wissen, dass das zum Soldatenberuf dazugehört“, war und ist seine Devise. Spätestens jetzt wird deutlich, dass „Soldat“ kein Beruf ist wie jeder andere. In kaum einem anderen Beruf legt man einen Eid ab, in dem man gelobt, „… der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe“. In letzter Konsequenz kann das bedeuten, dass „der Beruf auch hinter das irdische Leben führen kann“, so umschreibt es Jürgen-Joachim von Sandrart.

Trotzdem legt er an den Soldatenberuf letztlich die gleiche Messlatte an wie an jeden anderen Beruf. „Jeder soll sich authentisch, aufrecht und mit aller ihm zur Verfügung stehenden Energie seinem Berufsfeld widmen. Als Soldat stellt man sich in den Dienst einer Gesellschaft. Das tun viele Berufsfelder: Pfleger, Lehrer, Blaulichtorganisationen, Politiker, Pastoren und viele mehr. Der Unterschied zum Soldatenberuf liegt in der Tatsache begründet, dass sich der Soldat verpflichtet, notfalls mit seinem höchsten Gut – seinem Leben – für die Gesellschaft einzustehen.“ Diese Sicht findet sich auch im Selbstverständnis der Bundeswehr, das in diesen drei Worten zusammengefasst ist: „Wir.Dienen.Deutschland.“ 2020 hat von Sandrart als Kommandeur der 1. Panzerdivision Oldenburg anhand dieser drei Worte das Alleinstellungsmerkmal des Soldatenberufes und sein persönliches Führungsverständnis als Soldat und Kamerad in einem Kommandeur-Brief entfaltet. 20.000 Soldatinnen und Soldaten, für deren Ausbildung und Führung er als Generalmajor zuständig war, lasen seine Ausführungen. Darin, wie auch in Ansprachen an die jungen Feldwebel und Offiziere, zitiert er die Bibel. Zum Beispiel Worte aus dem Epheserbrief: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ „Für mich war der christliche Glaube immer das hilfreichste Koordinatenkreuz“, erklärt er. Missionieren will er auf keinen Fall. Er ist davon überzeugt, dass man auch in anderen Glaubensrichtungen und Werteverständnissen die gleichen fundamentalen Prinzipien des menschlichen Miteinanders findet wie im Christentum.

GEFÄHRDETER FRIEDEN

2021 nahm Jürgen-Joachim von Sandrart die nächste Karrierestufe. Er übernahm sein jetziges Kommando und wurde zum Generalleutnant ernannt. Als kommandierender General des Multinationalen Korps Nordost in Stettin ist er der höchste taktische militärische Führer für Landoperationen an der NATO Nordostflanke. Der Verantwortungsbereich des Multinationalen Korps Nordost umfasst die Länder Estland, Lettland, Litauen und Polen, die sämtlich eine gemeinsame Landgrenze mit Russland und Belarus teilen. Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 hat sein Korps, das aus vierundzwanzig Nationen besteht, eine ganz neue Bedeutung bekommen. Jürgen-Joachim von Sandrart trägt damit auch eine große Verantwortung. „Das Risiko, dass sich dieser Krieg ausweitet über das derzeitige Kriegsgeschehen in Russland und der Ukraine hinaus, ist grundsätzlich gegeben. Daraus sollte keine Untergangsstimmung entstehen, sondern daraus muss der Ansporn entstehen: Es ist wert, sich dafür einzusetzen, dass wir es gemeinsam hinbekommen, die Ausweitung des Krieges zu verhindern und gleichzeitig der Ukraine helfen, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Und ich bin auch sicher, dass wir das schaffen! Aber dafür müssen wir noch konsequenter sein. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass es keine schnelle Lösung zum Besseren geben wird.“

Bis Ende 2024 steht Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart noch dem Multinationalen Korps Nordost vor, das als „Schlüsselelement der Abschreckung und Verteidigung an der Nordostflanke der NATO in Europa“ fungiert, wie auf der Homepage der Bundeswehr zu lesen ist.* Wie es danach für den Generalleutnant weitergeht, ist noch nicht entschieden. Obwohl die Bundeswehr für ihn nur ein Plan B gewesen ist, hat ihn „der Zauber guter Führung und früher Verantwortungsübertragung bis heute aus inniger Überzeugung an den Soldatenberuf gefesselt“. Mit einem zufriedenen Lächeln kommentiert er das so: „Heute bin ich Hobby-Landwirt. Aber im Wesentlichen: Ehemann, Vater und Soldat! Und das sehr gerne. Ich bereue keine Minute meine Entscheidung! Mein unendlicher Dank gilt meiner Frau und den Kindern, die die Last der Wochenendehe, der Einsätze und der vielfältigen dienstlich begründeten Wechselspiele so großmütig und verständnisvoll getragen haben.“

Sabine Langenbach ist Journalistin, Moderatorin und Autorin. Mit einer Mischung aus Feingefühl und Hartnäckigkeit hat sie schon so manchem Interviewpartner vor Mikrofon, Kamera und Publikum Unerwartetes entlocken können. Als „Die Dankbarkeitsbotschafterin“ veröffentlicht sie regelmäßig den Montagsimpuls auf ihrem YouTube-Kanal. sabine-langenbach.de

General Jürgen-Joachim von Sandrart (61), verheiratet, vier erwachsene Kinder. Seit November 2021 ist er Kommandierender General des Multinationalen Korps Nordost in Stettin. Als taktischer Führer ist er verantwortlich für alle Landoperationen an der NATO-Nordostflanke, die an Russland und Belarus grenzen: also Estland, Lettland, Litauen, Polen. Der Korpsstab besteht aus vierundzwanzig Nationen und führt derzeit unter anderem mehrere Divisionen und Brigaden. *bundeswehr.de/de/organisation/heer/organisation/multinationales-korps-nordost

Stress lass nach! Symbolbild: Getty Images / filadendron / Getty Images E+

Stress lass nach! So gelingt ein gesunder Umgang mit Stress

„Ich bin im Stress!“, antworten wir manchmal voreilig auf die Frage, wie es uns geht. Aber was ist Stress eigentlich? Und vor allem: Was hilft wirksam gegen Stress?

STRESS IST NICHT NUR EIN WORT

Ständige Beschleunigung und eine wachsende Unsicherheit über den Erfolg der Arbeit sind die beiden hervorstechenden Merkmale der modernen Arbeitswelt. Die klare Vorstellung eines „Tagwerkes“ stand in der vorindustriellen Gesellschaft noch für ein Zeitmaß und gesundes Tagesziel, nämlich für die Ackerfläche, die ein Mensch an einem Tag bearbeiten konnte. Heute ist unsere Arbeitswelt von Unsicherheit geprägt, Ziele sind häufig vage und widersprüchlich, die wirtschaftlichen und technischen Zusammenhänge und die Zusammenarbeit im Team immer öfter komplex.

Diese vier Phänomene, Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität, sind die Säulen einer Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftwelt, die deswegen auch VUKA-Welt heißt. Jeder dieser Faktoren aber steigert die Unsicherheit für erfolgreiches Handeln, die Möglichkeit eines Scheiterns oder Versagens und das macht Angst. Aber Angst ist nicht nur Gift für effektives Arbeiten, Angst ist auch Gift für unseren Körper und das liegt genau an der biologisch uralten Stress-Reaktion, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben.

WAS IST STRESS?

Stress hatten schon die Neandertaler und unsere Vorfahren die Ur-Menschen, nur der Begriff dafür ist modern. Dieser kam so richtig erst Anfang des 20. Jahrhunderts auf, wurde dann aber immer populärer bis er dann in den neunzehnachtziger Jahren „viral ging“. Zu dieser Zeit unterstrichen manche ihre eigene Wichtigkeit und Geschäftigkeit mit dem Spruch „Ich bin im Stress“.

Mit „Stress“, einem Begriff aus der Werkstoffkunde, bezeichnete der Mediziner Hans Selye in den 1930er Jahren die unwillkürlichen Reaktionen des menschlichen Körpers auf Bedrohungen und Belastungen. Diese Reaktion hatte zuvor der Biologe Walter Cannon nach ihrem Zweck als Kampf-oder-Flucht-Reaktion beschrieben.

Wenn wir im Alltag von Stress reden, meinen wir aber selten die Lawine von Stoffwechselveränderungen, die unser Gehirn in der Folge von Bedrohungsreizen durch unser autonomes Nervensystem und eine Flut von Hormonen in Gang setzt.

ALARMSIGNALE ALS STRESS-AUSLÖSER: STRESSOREN

Wir meinen eher die auslösenden Reize, die sog. „Stressoren“ oder Stress-Faktoren. Dies sind 21. Jahrhundert nicht mehr der Anblick eines Säbelzahntigers, wie bei den Urmenschen, und auch seltener reale Bedrohungen. Heute spielen äußere und innere mentale Bedrohungsszenarien eine größere, aber nicht weniger schädliche Rolle.

Die Psychiater Holmes und Rahe stellten schon 1967 eine Liste von 43 Faktoren zusammen. Darunter stellt nur einer, nämlich eine Verletzung oder Krankheit, eine reale Bedrohung dar. Den größten, fast doppelt so großen, Stress verursacht dagegen der Tod des Lebenspartners. Selbst erfreuliche Ereignisse wie Familienzuwachs oder ein großer persönlicher Erfolg und die damit verbunden Veränderungen können Stress auslösen.

Dabei ist die Stressreaktion nicht immer ein negativer „Disstress“, wie es Selye nannte. In einer realen Bedrohung ist die Stressreaktion angemessen und ermöglicht Flucht oder Kampf. In der richtigen Dosis verhilft sie als „Eustress“ bei Herausforderungen wie einem sportlichen Wettkampf, auf einer Bühne oder in einer Prüfungssituation sogar zu Höchstleistungen. Mehr noch, wenn wir große Herausforderungen als bewältigbar und uns selbst als handlungsfähig empfinden, erleben wir in optimalen Fall sogar ein positives „Aufgehen im Tun“. „Flow“ nennt der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi diesen Zustand und das damit verbundene nachfolgenden Glücksgefühl.

Unserem Gehirn und unserem Körper aber sind die Feinheiten dieser Stressoren jedoch ziemlich egal: Reiz-Verarbeitung und die Reiz-Reaktion laufen im Wesentlichen immer gleich ab. Egal, ob es sich um eine unmittelbare Gefahr, eine mittelbare Bedrohung, eine Angst oder eine Herausforderung handelt.

DIE STRESS-REAKTION: UNSER BIOLOGISCHES ERBE

An Anfang der Stress-Reaktion steht die Überraschung. Unser Körper und unsere Psyche sind biologisch auf möglichst gleichförmige Rahmenbedingungen ausgelegt: Solange in unserer Umgebung scheinbar alles gleich abläuft, bleiben Körper und Geist in Ruhe. Sobald aber markante Veränderung auftreten, etwa laute Geräusche, grelle Lichtblitze oder plötzliche Stöße, bewertet unser Nervensystem diese Reize, bevor wir die Situation überhaupt bewusst erfassen.

Verantwortlich dafür ist im Gehirn die Amygdala, der Mandelkern. Sie überprüft blitzschnell alle Reize auf die Frage „Will mich hier etwas fressen oder gibt es hier etwas zu fressen?“ Hat die Amygdala eine scheinbare Gefahr erkannt (wobei sie hier aus Überlebensgründen pessimistisch vorgeht) stößt sie über das autonome Nervensystem und Hormone wie das Adrenalin und Cortisol die körperliche Stress-Kaskade an:

  • der Herzschlag beschleunigt sich
  • der Blutdruck steigt
  • die Muskeln werden stärker durchblutet
  • Blutzucker wird freigesetzt
  • die Verdauung wird gehemmt

Der Körper macht mobil für eine physische Höchstleistung. Ist er in einer realen Gefahr, dann hat er danach alle Ressourcen parat, um zu fliehen oder ihr entgegenzutreten: Maximale Energie und Fokus.

Doch reale Gefahren sind heute viel seltener. Unsere häufigsten Stressoren sind andere.

STRESS-REAKTION IM 21. JAHRHUNDERTS

Die Anzahl der Konfrontationen mit Säbelzahntigern beträgt heutzutage null, nicht aber die mit Terminen, Problemen oder Mitmenschen. Natürlich gibt es auch heute noch grundlegende äußere und innere Stressoren. Umweltfaktoren wie extreme Temperaturen, schwierige Arbeitsbedingungen, zwischenmenschliche Probleme, finanzielle Sorgen oder dramatische Lebensereignisse oder körperliche und seelische Beschwerden und Krankheiten.

Dagegen ist das Spektrum der externen und internen Stressoren breiter geworden: Straßenlärm, Luftverschmutzung, Anonymisierung von Leben- und Arbeitswelt, zwischenmenschliche Konflikte oder Arbeitsplatzunsicherheit, besonders aber alle Formen von Arbeitsverdichtung, Vertriebsdruck oder erfolgsunsicherer Entwicklungsarbeit usw.

Diese „neuen“ Stressoren haben so zugenommen, dass sich laut einer deutschen Studie aus 2016 etwa 82% der Menschen zwischen 30 und 39 regelmäßig gestresst fühlten. Die häufigsten Ursachen dabei waren:

  • die Arbeit
  • hohe Ansprüche an sich selbst
  • Termine und Verpflichtungen in der Freizeit
  • Straßenverkehr
  • Ständige Erreichbarkeit

Mobilität, Vernetzung und die Vielfalt einer multi-kulturellen, multi-optionalen Welt verursachen immer häufiger soziale Konflikte. In der Arbeit wachsen Unsicherheit, Zeitdruck und Verantwortung. Familiäre Bindungen werden überdehnt. Hinzu kommen immer höhere eigene und fremde Ansprüche, Perfektionismus und die immer anspruchsvolleren Ziele einer global vernetzen Gesellschaft, die Sorgen, Selbstzweifel und negative Gedankenmuster befeuern können.

WAS BEWIRKT DAUER-STRESS?

Mit Stress in Maßen kommen unser Körper und unsere Psyche eigentlich ganz gut klar: Die Stress-Reaktion soll ja ein Überleben in Notsituationen überhaupt erst ermöglichen. Doch auch hier liegt der Unterschied zwischen Medizin und Gift in der Dosis.

Die Notfallmaßnahmen, die unser Körper einleitet, um eine körperliche Maximalleistung zu ermöglichen, sind nicht geeignet für die Anforderungen einer sitzenden Tätigkeit. Ein Blutzuckerspiegel, Atemrhythmus und Herzschlag, der uns zu einem Hochleistungsprint befähigen würde, und eine Tunnelwahrnehmung, bei der unser Denken weitgehend ausgeschaltet sind, sind für eine Büro- oder Kreativtätigkeit kontraproduktiv und dauerhaft schädlich.

Unserem Körper ist das aber egal. Er durchläuft bei anhaltenden Stressoren immer wieder die unmittelbare Alarmreaktion und geht nach einiger Zeit in eine Widerstandsphase über, um sich an den chronischen Stress anzupassen, bis schließlich eine Erschöpfungsphase erreicht wird, in der das Immunsystem und die Psyche angegriffen werden. Die Folgen sind ein Spiegel der fortwährenden Notfallmaßnahmen:

  • Angstzustände bis hin zu Depression und Burn-out
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Verspannungen und Kopfschmerzen
  • Atemnot / Asthma
  • Krankheiten der Verdauungsorgane

ERSTE HILFE GEGEN STRESS

Was aber hilft uns gegen dieses biologisch-festgelegte düstere Horror-Szenario?

Eines vorweg: Hinter individuellem Stress-Erleben können auch medizinische und soziale Gründe stehen, die professionelle Hilfe erfordern: Wenn einer dauerhaften Überforderung eine reale Depression zugrunde liegt, objektiv überfordernde Arbeitsbedingungen einen Burn-out befördern, eine toxische Beziehung Dauerstress auslöst oder im Arbeitsumfeld Mobbing durch ein Team oder eine Führungskraft auftritt. Im Verdachtsfall ist daher das Gespräch mit medizinischen, psychologischen oder arbeitsrechtlichen Fachkräften unersetzlich.

Sonst hilft uns das Wissen und das Verständnis über diesen biologischen Vorgang. Unsere moderne Arbeitswelt ist gerade einmal hundert, vielleicht 200 Jahre alt. Unser Körper aber ist für Lebensumstände optimiert, die über viele tausend Jahre grundlegend die gleichen waren. Entsprechend helfen folgende Sofort-Maßnahmen.

  • Stress ausagieren. Die Aktivierung, der Blutzucker und das Adrenalin wollen genutzt und verbraucht werden. Bitten Sie die Menschen im Umfeld um einen „timeout“ und verschaffen Sie sich Bewegung. Dazu gehört auch jede Form von „Ausgleichssport“ nach der unmittelbaren Stress-Situation. Dadurch kann sich der Körper wieder regulieren und entspannen.
  • Stress wegatmen. Klingt komisch, funktioniert aber, denn durch bewusstes Atmen können wir den Para-Sympatikus aktivieren, einen wichtigen Teil des autonomen Nervensystems, der die Stress-Reaktion wird „einfängt“.
    US-Marines, die häufig realen Bedrohungen ausgesetzt sind, haben dazu das „Box-Breathing“ entwickelt: Im Abstand von jeweils vier Sekunden atmen Sie dazu ein, halten die Luft an, atmen aus, halten wieder die Luft an und beginnen dann von vorn. Das ruhige regelmäßige Atmen dient dabei als Botschaft an unser Hirn, dass doch alles in Ordnung ist und wir nicht hechelnd vor einer Bedrohung flüchten müssen.
    Noch einfacher geht es mit der Methode des Stanford-Psychologen Andrew Huberman: Zweimal unmittelbar nacheinander durch die Nase einatmen und dann durch den Mund „seufzend“ ausatmen bis die Lungen ganz geleert sind. Dieses Atemmuster tritt beim Schlafen auch spontan auf und heißt daher „Physiologisches Seufzen“ („physiological sigh“). Es versorgt den Körper wieder mit Sauerstoff und beruhigt buchstäblich die Nerven des autonomen Nervensystems.
  • Stressoren wahrnehmen. Wir reagieren individuell unterschiedlich auf Stressoren. Mentale Stabilität ist zum Teil auch ein Persönlichkeitszug, zum Teil können wir unsere Stress-Resistenz oder Resilienz auch trainieren. Grundlage ist dazu, die persönlichen Trigger zu erkennen. Dann können wir uns selbst und unser Umfeld besser steuern, Prioritäten und Grenzen so setzen, dass die Stress-Reaktion gar nicht erst einsetzt.
  • Stress-Situationen kommunizieren. Heutzutage entsteht Stress in besonders hohem Maße in sozialen Situationen. Daher hilft es mit den Menschen in unserem Umfeld zu sprechen, wie wir akute Stressoren reduzieren, regulieren oder ausschalten können.

Der beste Stress aber ist der, den wir gar nicht erst haben. Darum ist die beste Mittel gegen Stress das aktive Gestalten des eigenen Lebensstiles.

VOM OPFER ZUM SCHÖPFER

Dazu helfen Bewegung und Entspannung, um uns körperlich in die Lage zu versetzen, mit Stress-Situationen besser umzugehen. Letzteres hat den zusätzlichen Vorteil, dass auch die schädlichen Auswirkungen unseres häufig sitzenden Lebensstils entgegengewirkt wird (s. „Sitzen ist das neue Rauchen“). Gesunde Ernährung statt Junk Food, Zuckerzeug oder Alkohol vermeidet „oxidativem Stress“ im Körper, der auch die Psyche belastet.

Entspannungstechniken oder Achtsamkeitsübungen können die Bereitschaft des Körpers zur Stress-Reaktion weiter reduzieren.

Positive Beziehung und Mitgefühl helfen stark Stress abzubauen und in Schach zu halten. Teilen Sie Emotionen, Sorgen und Ängste mit ihren Mitmenschen. Klagen sie ruhig! Doch auch das dosiert: Lassen Sie zügig den Druck ab und formulieren Sie dann lösungsorientiert ihre Probleme.

Auch die Techniken der Positive Psychologie sind hilfreich, zum Beispiel ein Dankbarkeitstagebuch oder das Schreiben von Selbst-Empathie-Briefen und positiven Zukunftsbilder (s. Happiness-Workout). Sie helfen positive Gefühlszustände zu aktivieren, die eigene Selbst-Wirksamkeit zu erkennen und die persönlichen Stärken, Optimismus und Zuversicht zu stärken. Auf dieser Basis können wir durch positives Zeit- und Selbstmanagement Ziele, Prioritäten und Grenzen so setzen, dass wir immer öfter in unsere Flow-Zone als unserer Stress-Zone agieren.

Die Psychologie Barbara Fredrickson hat herausgefunden, dass durch häufigere positive Unterbrechungen eine Gegenbewegung zu Stress, Überlastung und Burn-out in Gang kommt. Nach dieser Broaden-and-Build-Theorie kommt es sogar zu einer Erweiterung unserer Wahrnehmung für unsere eigenen Ressourcen, Gestaltungsmöglichkeiten und wirkt so nachhaltig gegen Stress.

Und wer unmittelbar nach einem Stressor süße Tierbilder ansieht oder herzlich über einen Witz des persönlichen Lieblingscomedians lacht, der kann sogar einen „Undo-Effekt“ erleben, bei dem das positive Gefühl das Stress-Erleben „überschreibt“.

POSITIVE LEADERSHIP

Zum Schluss: Stress ist keine Privatsache. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht darin das Zeitphänomen einer Gesellschaft, die versucht „möglichst viele Optionen zu realisieren aus jener unendlichen Palette der Möglichkeiten, die die Welt uns eröffnet“.

Auch in der Arbeitswelt sind Arbeitsverdichtung, anspruchsvolle Ziele, Rationalisierung, Automation und beständiger Wandel kein Naturgesetz wie die Schwerkraft. Sie sind das Resultat unternehmerischer Entscheidungen.

Führungskräfte und Mitarbeitende können durch Positive Leadership und Feelgood Management gemeinsam ein angstfreies menschenfreundliches Arbeitsumfeld gestalten – durch positive Kommunikation und Beziehungen, positives Klima und Sinnerleben im Unternehmen. Vertrauen, Offenheit, Feedback und Fehlertoleranz, Rollen- und Zielklarheit, gegenseitige Unterstützung schaffen dabei psychologische Sicherheit.

Je positiver und angstfreier das Arbeitsumfeld gestaltet ist, umso weniger Boden hat der Stress zu gedeihen, und wo der nicht überhandnimmt, können Menschen auch produktiv, glücklich und gesund arbeiten. So profitieren alle, die Einzelnen und das Unternehmen, von einem gesunden Umgang mit Stress.

Michael Stief (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Marcus Schneider

Mit Gott in der Muckibude: Unterwegs mit dem breitesten Pastor

Ortstermin beim „breitesten Pastor Deutschlands“: Marcus Schneider verbindet in seinem Fitnessstudio „Mutig und stark“ christlichen Glauben und Krafttraining.

Von Rüdiger Jope

Die Nordbahntrasse Wuppertal: Ein 22 Kilometer langer, breit ausgebauter Radweg auf einer ehemaligen Eisenbahnstrecke zwischen den Dächern der Stadt, in der 100.000 Menschen leben. Das viel befahrene Faszinosum ist ein Relikt aus der Zeit, als der Großraum Wuppertal zu den stärksten Industrie- und Wirtschaftsmetropolregionen Europas zählte. Bereits im Jahre 1875 leisteten in der Wuppertaler Textilindustrie 424 Dampfmaschinen 3.973 Pferdestärken. Der gebürtige Wuppertaler Friedrich Engels und sein Freund Karl Marx versuchten von hier aus, eine Antwort auf die soziale Frage zu finden. 150 Jahre später sind die Dampfloks, Textilmaschinen und Pferde verschwunden. Geblieben sind die Probleme und alte Fabrikgebäude.

Mutig und Stark

In einem von diesen sitze ich nun, neben dem Radweg inmitten von Hanteln, Kraftmaschinen und Gewichten. Außen bröckelnde Ziegel, innen unter alten Antriebsrädern und einem Kran ein hippes Fitnessstudio. Mir gegenüber: Marcus Schneider, der „breiteste Pastor Deutschlands“. Dunkler Vollbart. Schmale, verschmitzt sprühende Augen. Ein wacher, zugewandter Geist. Unter dem weißen T-Shirt verbirgt sich ein tätowierter Oberköper. Auf dem rechten Oberarm prangt ein Totenkopf, in den ein Kruzifix gerammt ist. Die Wand hinter ihm ziert der Bibelvers „Sei mutig und stark“. Im Sessel seiner Muckibude wirkt der große Influencer kleiner als im Internet. Wir stoßen mit einer Cola an.

Marcus kommt ins Erzählen. Fromm sozialisiert, suchte der Teenager nach tragfähigen Antworten fürs Leben. Er findet Jesus, leistet nach dem Abitur seinen Zivildienst in einer christlichen Drogenreha-Einrichtung. Dort futtert er sich im ersten Jahr sechs Kilogramm mehr auf die Rippen. Zu Besuch bei seiner Freundin erkennt diese ihn fast nicht wieder. Die Zivis besorgen sich Gewichte, pushen sich gegenseitig. Marcus schweißt sich eine Hantelbank. Zur Jesusliebe gesellt sich die Leidenschaft fürs „Pumpen“, auch mal 170 Kilo.

„Ich will mit Menschen chillen, ihnen zuhören, sie aufbauen. Wenn das Gespräch auf Gott kommt, ist das gut, wenn nicht, ist es auch ok.“

Nach dem Studium der Theologie verschlägt es ihn in die Credo Kirche nach Wuppertal. Die Stadtteile Oberbarmen und Langerfeld gelten als ein schwieriger Sozialraum. Hier wohnen Menschen aus 150 Nationen eng beieinander. Der Pastor sieht die Not, träumt von einem Fitnessstudio für Jugendliche, denn „Sport verbindet, da kommen Jugendliche nicht auf dumme Ideen“. Sieben Jahre lang baut er mit Verbündeten die industrielle Bruchbude aus, sucht Sponsoren. Um sich zu finanzieren, jobbt er als Dachdecker. Im Sommer 2020 feiern sie die Einweihung von „Mutig und Stark“. Ein halbes Jahr nach dem Start bremst die zweite Welle des Coronavirus die hoffnungsvolle Gründung vorerst brutal aus.

Die Stahltür quietscht. Marcus lächelt, steht auf, begrüßt die fünf Jungs, die schüchtern eintreten. „Ihr wollt heute mal reinschnuppern? Habt ihr Schuhe dabei?“ „Ja.“ „Alles klar.“ „Boxen?“ „Na klar, am Ende, wenn ihr noch Lust und Kraft habt. Erst werden jedoch die Muskeln aufgewärmt …“ Ein Bufdi übernimmt die Truppe. Niko (13), ein Schüler, gesellt sich zu ihnen, macht ihnen Sit-ups und Liegestützen vor.

Wo die Hanteln predigen

Wir stehen an einer Kraftmaschine. „Pumpen ist cool. Das gehört zu mir. Aber noch wichtiger ist mir, was dahinter liegt.“ Marcus will jungen Menschen vermitteln, dass ein dicker Bizeps super ist, aber nicht das, was ihren Wert ausmacht. Der breiteste Pastor ist einer von ihnen. Aufmerksam, zugewandt, authentisch und integer. Er gibt Hilfestellung, montiert die Gewichte, klatscht die Jungs in der Basketballhalle nebenan ab. Stolz präsentiert er mir die frisch eingerichteten Umkleideräume. Den Räumen haftet nichts von in die Jahre gekommenen Schulräumen an. Mit Straßenschuhen läuft hier keiner herum. Schneider ist überzeugt: Für die Gute Nachricht ist nur das Beste gut genug. Hier bringen sie Qualität und Glauben zusammen. „Es bringt doch nichts, wenn ich die beste Botschaft der Welt habe, aber keiner hört zu. In der Bibel heißt es, dass du jemandem erst mal Klamotten besorgen musst – oder eine Hantel“, erklärt er lachend und schiebt nach: „Wenn du mit einem Menschen gemeinsam schwitzt, entsteht Beziehung, dann kannst du auch mit ihm über andere Dinge reden.“ So versteht er sein Fitnessstudio: Ein Ort, wo Menschen mit dem Übersinnlichen in Berührung kommen können. „Mutig & Stark“ ist eine Brücke – aber nicht nur, es ist auch Sport.

„Cool, dass du da bist, Ali!“ Die Augen des Jungen leuchten. „Ich will authentisch sein“, sagt Marcus. „Klar gibt es auch den Proleten in mir“, erklärt er lachend. „Ich weiß ihn aber auch zu reflektieren, meinen Selbstwert nicht aus Muskeln und medialer Aufmerksamkeit zu ziehen. Mir geht es hier im Fitnessstudio wirklich um den einzelnen Menschen. Ich will mit Menschen chillen, ihnen zuhören, sie aufbauen. Wenn das Gespräch auf Gott kommt, ist das gut, wenn nicht, ist es auch ok.“ Während Marcus für eine kleine Challenge mit Manu eine Maschine einrichtet, schnuppere ich in den Boxkurs. Amir (13) findet es toll hier. „Ich bin Moslem, kein Christ, aber ich fühle mich absolut wohl hier. Hier werde ich respektvoll behandelt, fühle mich herzlich willkommen. Meine Eltern finden es gut, dass ich hier hergehe und keinen Scheiß mache“, keucht er und schlägt weiter gegen den Boxsack. Inzwischen duellieren sich Marcus und Manu. Letzterer ist Bankangestellter. In einem YouTube-Video stieß er auf den „breitesten Pastor“ und stellte überraschend fest: Der lebt ja in meiner Stadt! Jetzt trainiert er hier nach Feierabend.

Ort der Begegnung und des Respekts

Marcus holt sich einen Cappuccino. „Nimmst du auch einen?“ Ins Klappern des Löffels frage ich: „Dem Christsein haftet ja der latente Vorwurf an, es sei etwas für Schwache. Du wirkst nicht schwach. Warum glaubst du trotzdem?“ Der Pastor lacht. „Ich bin manchmal sehr schwach. Meine Schwachheit anzuerkennen, gerade darin liegt auch Stärke für uns Männer.“ Sagt’s und wendet sich freundlich den zwei Jungs zu, die verspätet zum Boxkurs eintreffen. „Ey, super, dass ihr da seid!“

Rüdiger Jope ist Redaktionsleiter des Männermagazins MOVO

Symbolbild: PeopleImages / iStock / Getty Images Plus

Sitzen ist das neue Rauchen: Drei Strategien gegen die Sitz-Krankheit

Regelmäßiges, zu langes Sitzen schadet dem Körper mindestens genauso viel wie Rauchen. Im Büro lässt es sich aber schlecht vermeiden. Was hilft?

Von Michael Stief

„Use it or loose it“, frei übersetzt: Wer‘s nicht benutzt, verliert‘s. So lautet das vielleicht wichtigste Gesetz in der Biologie des Menschen.

Gehirne von Säuglingen werden zunächst mit einer Überzahl an Hirnzellen geboren. Von denen sterben mit der Zeit all jene, die wir nicht benutzen. So ergeht es im weiteren Leben auch vielen anderen Körperfunktionen.

Am deutlichsten wird das bei den Muskeln: Hier werden diejenigen abgebaut, die wir nicht gebrauchen; und diejenigen werden stärker, die wir ständig nutzen. Wir sehen es auch an einmal Gelerntem. Je seltener wir eine Fremdsprache benutzen, umso weniger wissen wir von dem, was wir vielleicht in der Schule einmal mehr oder weniger gerne gelernt haben.

Ja, sogar unser Immunsystem vergisst, wenn es nicht mehr mit bestimmten Umgebungsreizen und Erregung konfrontiert wird. Dies erklärt zum Beispiel den überraschenden Anstieg an gewöhnlichen Erkältungskrankheiten nach dem Ende der Corona-Pandemie. Nachdem wir uns so lange durch Maskentragen alle Erreger ferngehalten hatten, erkannte unser Immunsystem auch die häufigeren Erkältungsviren nicht mehr schnell genug als Gefahr.

Was aber hat das damit zu tun, dass das Sitzen das neue Rauchen sein soll?

Sitzen = Rauchen: Übertreibung oder Fakt

Rauchen schadet. Wir nehmen dabei das Nervengift Nikotin, Teer und viele weitere teils krebserregende Stoffe auf. Diese legen die Reinigungsfunktion unserer Lungen lahm und nehmen dabei viele weitere Schadstoffe aus der Umgebung auf. Zudem wird unser Blut mit Kohlenmonoxid übersättigt. Bei einem Brand können wir von zu viel Rauch eine „Rauchvergiftung“ bekommen. Diese Tatsache macht intuitiv klar, dass Rauchen ungesund ist. Auch wenn es aktive Raucher gerne verdrängen.

Was aber sollte am Sitzen schlecht oder schädlich sein? Wenn wir uns nach ausgedehnter körperlicher Arbeit oder nach intensivem Sport hinsetzen und ausruhen, tut uns das gut. Doch eben nur dieser Wechsel von Anstrengung und Entspannung ist das eigentlich Wohltuende und Gesunde. Für das Sitzen selbst gilt der Satz: „Die Menge macht das Gift!“ Was in der Wechselbelastung Erholung bewirkt, verursacht auf Dauer Erschlaffung und Fehlbelastungen.

Born to run

Der menschliche Körper ist für den aufrechten Gang und das Laufen ausgelegt. Anders als unsere nächsten Verwandten die Menschenaffen gehen wir jenseits des Krabbelalters in aller Regel nicht auf allen Vieren. Im Gegenteil: Völker wie die afrikanischen Massai oder die mittelamerikanischen Tarahumara laufen ganz alltäglich Strecken, wie sie in Europa nur für Langstreckenathleten im Training üblich sind.

Wir Menschen sind für langes beständiges Laufen gebaut. Vergleichbar mit einem Rallyewagen mit Turbodiesel. Statt 10 oder 20 Kilometer am Tag zu laufen, sitzen wir jedoch zehn oder zwölf Stunden – am Frühstückstisch, im Bürostuhl und auf dem Sofa. Das ist, als würden wir unsere Turbodiesel-Rallyemaschine in die Garage stellen. Dort versottet der Motor, werden die Leitungen brüchig und frisst sich der Flugrost in die Karosserie.

Entsprechend finden Mediziner bei sitzenden Büro-Bewohnern häufig folgende „Mängel“:

  1. Muskelschwäche
  2. Verschlechterte Körperhaltung
  3. Schlechte Durchblutung
  4. Erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten
  5. Mentale Auswirkungen

Kurz gesagt: Regelmäßiges, zu langes Sitzen schadet Körper, Geist und Seele.

Auswirkungen auf den Körper

Genau darum werden – nach der biologischen Grundregel Use-it-or-loose-it – unsere Laufmuskeln schwächer. Andere Muskelgruppen überbeanspruchen wir dagegen: Die Hals- und Nackenmuskeln sollen beim Laufen nur einen aufrechten Kopf stabilisieren. Jetzt müssen sie einen vorgebeugten Kopf tatsächlich halten. Dies entspricht etwa einem Gewichtunterschied von 23 kg: 28 kg beim Halten im Vergleich zu 5 kg beim Stabilisieren. Das führt langfristig zum Upper Cross Syndrom mit Verspannungen, Schmerzen, Knorpel- und Knochenschäden bis hin zu Belastungen für die inneren Organe.

Unser Herz, das ja auch ein Muskel ist, bekommt ebenfalls nicht das notwendige Training. Es wird dadurch sowohl für die Wechsel-, Dauer- als auch Spitzenbelastung schwächer. Unsere Blutbahnen werden weniger rhythmisch vom Blut durchgewalkt und damit schwächer; Fettablagerungen werden nicht mehr weggespült. Unsere Venen, die nur passiv durch Muskelbewegungen aktiviert werden, können sich entzünden.

Schadstoffe, die durch ein bewegtes Lymphsystem abtransportiert werden, lagern sich mit „Wasser in den Beinen“ ab.  Ja, sogar unser Verdauungssystem wird nicht mehr naturgemäß beansprucht, was zu Verdauungsbeschwerden und schlimmstenfalls zu Diabetes führen kann.

Psychische und körperliche Schäden

Und nicht zuletzt ist unser Körper mit einem Belohnungssystem ausgestattet. Dieses belohnt uns für Bewegung und Anstrengung mit Glückshormonen. Nicht nur in Form des Runners High, sondern auch durch ein gutes Gefühl nach jeder positiven Anstrengung. Wo diese Glückshormone dauerhaft zu wenig produziert werden, wird seelischen Verstimmungen bis hin zur Depression der Weg gebahnt.

Noch mehr: Die natürliche Stressreaktion auf erlebte Bedrohungen ist besonders auf eine eilige Flucht hin optimiert. Der mentale Dauerstress von Bürobewohnern hinterlässt sowohl psychisch als auch körperlich Schäden, wenn die stressbedingte Aktivierung des Körpers nicht durch natürliche Bewegung verwertet wird.

All dies ist schon lange bekannt und wurde wiederholt in wissenschaftlichen Studien belegt. Doch trotz Schrittzählern, periodisch auftretenden Lauf-Päpsten und zuletzt auch SmartWatches und Fitness-Trackern gehen und bewegen wir uns kollektiv zu wenig. Was tun? An ausreichend körperlicher Bewegung führt kein Weg vorbei. Doch was ist „ausreichend körperliche Bewegung“?

Der 10.000 Schritte Mythos

Zu Zeiten unserer Großeltern hieß es zum Beispiel: Nach dem Essen sollst Du ruhen oder 1.000 Schritte tun. Diese Alternative mag Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts noch gut funktioniert haben, als große Teile der Bevölkerung einer überwiegend körperlichen Arbeit nachgingen. Heute ist eher die Regel 10.000 Schritte pro Tag eine brauchbare Orientierung, auch wenn sie nicht wissenschaftlich verbürgt ist, sondern auf einen japanischen Marketinggag zurückgeht.

Im Gefolge der Olympische Spiele in Tokio 1964 brachte die Firma Yamasa den ersten kommerziellen Schrittzähler heraus. Der erhielt auf Japanisch den knackigen Namen „manpomeetaa“, also „10.000-Schritte-Zähler“. Das Japanische hat eine zusätzliche Zählschwelle bei 10.000 mit der Bezeichnung „man“. Das klingt viel besser als „nanasengohyaku“. Auf Deutsch 7.500, was laut aktueller Forschung das Optimum wäre, um die Lebenserwartung zu erhalten. „ichinichi ichimanpo“, „jeden Tag 10.000 Schritte“, gab für japanische Hörgewohnheiten jedoch einen unwiderstehlichen Slogan ab.

Die US-Gesundheitswissenschaftlerin Catrine Tudor-Locke pushte in den 2000er Jahren die Praxis des 10.000-Schritte-Zählens mit einem sehr kleinen, sehr dünnen und sehr reißerischen Buch. Heute ist dieses Schrittziel in vielen Fitness-Trackern und SmartWatches als Default-Einstellung vorgegeben.

Dennoch: Als Tagesziel sind die 10.000 Schritte brauchbar. So erreichen wir auch dann einen gesunden Bewegungsdurchschnitt, wenn uns Sitzungs-Marathons, Schulungen oder die gelegentliche eigene Trägheit aufs Sofa zwingen.

3 Strategien gegen die Sitz-Krankheit

Es heißt: Die Menge macht das Gift. So ist es auch mit dem Sitzen. Passende Strategien brechen unsere ungesunden Sitzgewohnheiten auf. Diese setzen an drei Stellen an:

  • Dauer
  • Haltung
  • Ausgleich

Weniger lange sitzen, öfter aufstehen

Sitzen Sie weniger und wenn das in Summe nicht geht, dann weniger lange am Stück. Handelsübliche Fitness-Tracker erinnern einen daran, einmal pro Stunde ein paar Schritte zu gehen. Es reicht aber auch schon, sich am Glockenschlag der nächsten Kirchturmuhr zu orientieren.

Das passt auch gut zu anderen förderlichen Gewohnheiten, wie zum Beispiel regelmäßig zu trinken oder die Augen durch entspanntes Sehen auf unterschiedliche Distanzen zu entspannen. Durch ein „Gewohnheiten stapeln“ lassen sich die ohnehin nötigen Bio-Pausen kreativ aufwerten: Beispielsweise durch einfache Bewegungsübungen wie Rumpfdrehen, seitliches Abbeugen in den Hüften, Vorbeugen oder Rückendehnen. Oder durch einen Mini-Spaziergang in Form eines kleinen Umweges zum eigentlichen Ziel, seien es Kaffeemaschine, Wasserspender oder Toilette. Eine gute Orientierung liefert sinngemäß das vom Evangelisten Matthäus überlieferte Jesus-Wort: „Wenn Dich jemand nötigt eine Meile zu gehen, so gehe mit ihm zwei.“

Haltung bewahren

Natürlich lassen sich nicht alle Arbeiten im Gehen oder Stehen erledigen. Wenn wir also schon sitzen, dann kommt es dabei auf drei Dinge an: Bewusste Haltung, einen ergonomischen Arbeitsplatz und die richtige Sicht. Wer sich beim Arbeiten in den Stuhl lümmelt, multipliziert die negativen Auswirkungen des Sitzens. Unser Kopf ist weit schwerer als wir wahrnehmen. Unsere Muskeln sind dafür gebaut, diesen mit wenig Kraft dynamisch zu balancieren, anstatt ihn statisch mit viel Kraft zu halten. Daher also eine aufrechte Haltung bewahren, Füße stabil auf dem Boden, etwas Körperspannung und den Kopf locker balancieren.

Ebenso hilft ein ergonomischer Arbeitsplatz mit den passenden Abständen und Winkeln von Stuhl, Tisch, Tastatur und Monitor sowie für Brillenträger eine aktuelle Bildschirmbrille. Optiker werden bestätigen, dass die meisten Menschen mit Brille dazu neigen, fehlende Sehschärfe auszugleichen, indem sie den Kopf nach vorne beugen. Dann ist es schnell vorbei mit dem lockeren Balancieren unseres Hauptes.

Zum Haltung bewahren gehört auch das passende Mindset. Den Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen muss man wirklich wollen und nicht getrieben von einem falschen Fleiß stundenlang durcharbeiten. Moralische Unterstützung bekommen wir dabei auch von der Psychologie. Die belegt, dass wir auch mental effektiver sind, wenn wir Pausen machen. Erst recht, wenn wir uns in diesen Pausen bewegen.

Ausgleich schaffen

Wenn wir unsere Gewohnheiten unter die Lupe nehmen, finden sich viele Möglichkeiten, unsere Arbeit- oder Freizeitaktivitäten im Stehen oder Gehen zu erledigen. Ein persönliches Brainstorming lässt sich Dank der Diktierfunktion des Smartphones auf einem kurzen Spaziergang erledigen. Im Team finden sich im Stehen am Flipchart oder Whiteboard auch oder gar mehr kreative Ideen. Einzelne Unternehmen haben die Stühle aus ehemaligen Sitzungszimmern verbannt – mit positiven Effekten. Sitzungen wurden dadurch nicht nur kürzer, sondern auch produktiver.

Führungskräften empfehle ich gerne, Mitarbeitergespräche im Gehen zu führen. Dabei bringt die notwendige gemeinsame Perspektive beim Gehen wie auch die taktgleiche Bewegung selbst zusätzliche subtile positive Effekte für die Kommunikation. Gleichzeitig sorgt es für den Wechsel von Sitzen und Bewegung.

Und natürlich gehört an diese Stelle auch der Sport: Gehen, Laufen, Schwimmen, Radfahren oder auch Krafttraining können uns helfen, die negativen Effekte des „sesshaften“ Lebensstiles zu kompensieren. Hier ist eine hohe Frequenz wichtiger als eine hohe Dosis: Einmal in der Woche in einem Mannschaftstraining im Fußball oder Volleyball durchzupowern, pusht vielleicht den Kreislauf und pustet die Blutgefäße durch. Das ersetzt aber nicht den täglichen Ausgleich.

Beim Putzen die Fitness aufpolieren

Hier mag jeder seinen speziellen Weg finden, doch eine überraschende Erkenntnis aus der Forschung hilft nicht nur öfter zu „trainieren“, sondern auch quasi nebenbei: Mit der entsprechenden Einstellung haben nämlich auch gewöhnliche Hausarbeiten einen sportlichen Effekt.

Die Harvard-Psychologinnen Alia Crum und Ellen Langer fanden vor zehn Jahren in einer Vergleichsstudie mit 84 Zimmermädchen heraus, dass die Kenntnis über die positiven gesundheitlichen Effekte bei Reinigungstätigkeiten konkrete Auswirkungen auf Blutdruck und BMI bzw. Körpergewicht haben.

Also gerne öfter den Staubsauger-Roboter in Urlaub schicken und selbst mit dem Handstaubsauger dynamisch durch die Zimmer wirbeln, den Staublappen schwenken oder beim Müll entsorgen einen Schritt schneller gehen oder gar einen Umweg mache.

Und falls Sie es zwischenzeitlich noch nicht getan haben: Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt aufzustehen und ein paar Dutzend Schritte zu gehen … und in einer Stunde wieder!

Michael Stief (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).