General: „Soldaten stehen im Dienst an der Gesellschaft“

Seit dem Krieg in der Ukraine steht die Bundeswehr besonders im Fokus. General Jürgen-Joachim von Sandrart ist Soldat in zehnter Generation und erklärt, wie Soldaten der Gesellschaft dienen und selbst Gefahren auf sich nehmen.

Eigentlich wollte er Land- und Forstwirt werden, um dann, wie sein Großvater nach dem Ersten Weltkrieg, in Argentinien eine Farm aufzubauen. Aber dann kam alles anders. Jürgen-Joachim von Sandrart wurde Soldat und führte damit eine noch ältere Familientradition in der zehnten Generation fort. Er absolvierte die damals übliche Wehrpflicht, verpflichtete sich anschließend für zwei Jahre und schlug die Laufbahn zum Reserveoffizier ein. Als Zeitsoldat studierte er an der Universität der Bundeswehr in Hamburg Wirtschafts- und Organisationswissenschaften. Mit einem Schmunzeln denkt er an diese Zeit zurück: „Ich bin sicherlich kein Vorzeigestudent gewesen. Ich habe das Studium gemacht, weil es ein Auftrag war, eher schlecht als recht. Für mich stand immer im Vordergrund, Soldat zu sein – mit Menschen im Team zu arbeiten, zu gestalten und ein Team zu führen –, nicht Wirtschaftsakademiker.“ Da lag es nahe, dass er nach dem Studium schließlich Berufssoldat wurde. Auch seine zukünftige Frau Harriet fand ein Ja dazu. 1991 heirateten die beiden.

GEFÄHRDETE BEZIEHUNG

Er arbeitete sich hoch vom Leutnant bis zum Oberst. Dazu gehörte auch der häufige Wechsel der Standorte Hamburg – Lüneburg – Strasburg – Rosengarten – Wöhrden bei Stade – und damit verbunden viele Umzüge für die Familie von Sandrart. 2008 entschied sich das Ehepaar für eine Fernbeziehung zugunsten einer kontinuierlichen Schulbildung und einem stabilen Umfeld für die Kinder. Mutter Harriet zog mit den drei Söhnen und der Tochter nach Stade. Vater Jürgen-Joachim kam an den Wochenenden von seinem jeweiligen Standort angereist. Eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Sie sind dankbar, dass sie das als Familie und Paar so gut gemeistert haben. Das ist nicht selbstverständlich, denn die Scheidungsrate bei der Bundeswehr liegt deutlich im höheren zweistelligen Bereich.

Herausfordernd waren auch die Auslandseinsätze, an denen Jürgen-Joachim von Sandrart teilgenommen hat. Dreimal war er für jeweils mehrere Monate im Einsatz, dazu zählten Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan. Hier überlebte er 2011 nur knapp einen Anschlag, bei dem elf Menschen getötet und neun weitere schwer verletzt wurden. Bis heute redet er in der Öffentlichkeit „sehr ungern“ über dieses Ereignis. Er befürchtet, dass viele nur eine Abenteuergeschichte hören wollen und darüber vergessen, wie traurig und auch traumatisch alles war. Und wenn er doch etwas erzählt, dann spiegelt seine Mimik und Gestik wider, wie nah ihm das alles geht, auch heute noch, mehr als zwölf Jahre später. „Ich bin dankbar, dort unversehrt herausgekommen zu sein. Wir haben Kameraden verloren, die ich beide auch sehr gut kannte. Ich bin dankbar für eine herausragend gute Ausbildung, die mir erlaubt hat, zu überleben und richtig zu reagieren. Und ich danke dem lieben Gott.“ Den „lieben Gott“ kennt er von Kindesbeinen an. Der christliche Glaube wurde in seinem Elternhaus ganz natürlich gelebt und prägt bis heute seinen Alltag. „Das Ungewisse ist eine wesentliche Herausforderung des soldatischen Lebens. Wenn Sie im Einsatz führen, wissen Sie letztendlich nie zu hundert Prozent, was auf einen zukommt; wir bezeichnen dies als Handeln und Führen ins Ungewisse. Es gibt keine hundertprozentige Gewissheit, wie sich Dinge entwickeln werden, welche Herausforderungen vor einem liegen, welche Entscheidungen man treffen muss für die einem Anvertrauten und für sich selbst. Sie müssen sich in jeder Situation fragen: Was ist jetzt zielführend? Was ist richtig? Was ist auszuschließen? Was ist zweckmäßig?“

GEFÄHRDETES LEBEN

Vielleicht konnte er deshalb nach dem Anschlag in Afghanistan schneller wieder zur Tagesordnung übergehen. „Weitermachen! Wir wissen, dass das zum Soldatenberuf dazugehört“, war und ist seine Devise. Spätestens jetzt wird deutlich, dass „Soldat“ kein Beruf ist wie jeder andere. In kaum einem anderen Beruf legt man einen Eid ab, in dem man gelobt, „… der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe“. In letzter Konsequenz kann das bedeuten, dass „der Beruf auch hinter das irdische Leben führen kann“, so umschreibt es Jürgen-Joachim von Sandrart.

Trotzdem legt er an den Soldatenberuf letztlich die gleiche Messlatte an wie an jeden anderen Beruf. „Jeder soll sich authentisch, aufrecht und mit aller ihm zur Verfügung stehenden Energie seinem Berufsfeld widmen. Als Soldat stellt man sich in den Dienst einer Gesellschaft. Das tun viele Berufsfelder: Pfleger, Lehrer, Blaulichtorganisationen, Politiker, Pastoren und viele mehr. Der Unterschied zum Soldatenberuf liegt in der Tatsache begründet, dass sich der Soldat verpflichtet, notfalls mit seinem höchsten Gut – seinem Leben – für die Gesellschaft einzustehen.“ Diese Sicht findet sich auch im Selbstverständnis der Bundeswehr, das in diesen drei Worten zusammengefasst ist: „Wir.Dienen.Deutschland.“ 2020 hat von Sandrart als Kommandeur der 1. Panzerdivision Oldenburg anhand dieser drei Worte das Alleinstellungsmerkmal des Soldatenberufes und sein persönliches Führungsverständnis als Soldat und Kamerad in einem Kommandeur-Brief entfaltet. 20.000 Soldatinnen und Soldaten, für deren Ausbildung und Führung er als Generalmajor zuständig war, lasen seine Ausführungen. Darin, wie auch in Ansprachen an die jungen Feldwebel und Offiziere, zitiert er die Bibel. Zum Beispiel Worte aus dem Epheserbrief: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ „Für mich war der christliche Glaube immer das hilfreichste Koordinatenkreuz“, erklärt er. Missionieren will er auf keinen Fall. Er ist davon überzeugt, dass man auch in anderen Glaubensrichtungen und Werteverständnissen die gleichen fundamentalen Prinzipien des menschlichen Miteinanders findet wie im Christentum.

GEFÄHRDETER FRIEDEN

2021 nahm Jürgen-Joachim von Sandrart die nächste Karrierestufe. Er übernahm sein jetziges Kommando und wurde zum Generalleutnant ernannt. Als kommandierender General des Multinationalen Korps Nordost in Stettin ist er der höchste taktische militärische Führer für Landoperationen an der NATO Nordostflanke. Der Verantwortungsbereich des Multinationalen Korps Nordost umfasst die Länder Estland, Lettland, Litauen und Polen, die sämtlich eine gemeinsame Landgrenze mit Russland und Belarus teilen. Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 hat sein Korps, das aus vierundzwanzig Nationen besteht, eine ganz neue Bedeutung bekommen. Jürgen-Joachim von Sandrart trägt damit auch eine große Verantwortung. „Das Risiko, dass sich dieser Krieg ausweitet über das derzeitige Kriegsgeschehen in Russland und der Ukraine hinaus, ist grundsätzlich gegeben. Daraus sollte keine Untergangsstimmung entstehen, sondern daraus muss der Ansporn entstehen: Es ist wert, sich dafür einzusetzen, dass wir es gemeinsam hinbekommen, die Ausweitung des Krieges zu verhindern und gleichzeitig der Ukraine helfen, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Und ich bin auch sicher, dass wir das schaffen! Aber dafür müssen wir noch konsequenter sein. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass es keine schnelle Lösung zum Besseren geben wird.“

Bis Ende 2024 steht Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart noch dem Multinationalen Korps Nordost vor, das als „Schlüsselelement der Abschreckung und Verteidigung an der Nordostflanke der NATO in Europa“ fungiert, wie auf der Homepage der Bundeswehr zu lesen ist.* Wie es danach für den Generalleutnant weitergeht, ist noch nicht entschieden. Obwohl die Bundeswehr für ihn nur ein Plan B gewesen ist, hat ihn „der Zauber guter Führung und früher Verantwortungsübertragung bis heute aus inniger Überzeugung an den Soldatenberuf gefesselt“. Mit einem zufriedenen Lächeln kommentiert er das so: „Heute bin ich Hobby-Landwirt. Aber im Wesentlichen: Ehemann, Vater und Soldat! Und das sehr gerne. Ich bereue keine Minute meine Entscheidung! Mein unendlicher Dank gilt meiner Frau und den Kindern, die die Last der Wochenendehe, der Einsätze und der vielfältigen dienstlich begründeten Wechselspiele so großmütig und verständnisvoll getragen haben.“

Sabine Langenbach ist Journalistin, Moderatorin und Autorin. Mit einer Mischung aus Feingefühl und Hartnäckigkeit hat sie schon so manchem Interviewpartner vor Mikrofon, Kamera und Publikum Unerwartetes entlocken können. Als „Die Dankbarkeitsbotschafterin“ veröffentlicht sie regelmäßig den Montagsimpuls auf ihrem YouTube-Kanal. sabine-langenbach.de

General Jürgen-Joachim von Sandrart (61), verheiratet, vier erwachsene Kinder. Seit November 2021 ist er Kommandierender General des Multinationalen Korps Nordost in Stettin. Als taktischer Führer ist er verantwortlich für alle Landoperationen an der NATO-Nordostflanke, die an Russland und Belarus grenzen: also Estland, Lettland, Litauen, Polen. Der Korpsstab besteht aus vierundzwanzig Nationen und führt derzeit unter anderem mehrere Divisionen und Brigaden. *bundeswehr.de/de/organisation/heer/organisation/multinationales-korps-nordost

Stress lass nach! Symbolbild: Getty Images / filadendron / Getty Images E+

Stress lass nach! So gelingt ein gesunder Umgang mit Stress

„Ich bin im Stress!“, antworten wir manchmal voreilig auf die Frage, wie es uns geht. Aber was ist Stress eigentlich? Und vor allem: Was hilft wirksam gegen Stress?

STRESS IST NICHT NUR EIN WORT

Ständige Beschleunigung und eine wachsende Unsicherheit über den Erfolg der Arbeit sind die beiden hervorstechenden Merkmale der modernen Arbeitswelt. Die klare Vorstellung eines „Tagwerkes“ stand in der vorindustriellen Gesellschaft noch für ein Zeitmaß und gesundes Tagesziel, nämlich für die Ackerfläche, die ein Mensch an einem Tag bearbeiten konnte. Heute ist unsere Arbeitswelt von Unsicherheit geprägt, Ziele sind häufig vage und widersprüchlich, die wirtschaftlichen und technischen Zusammenhänge und die Zusammenarbeit im Team immer öfter komplex.

Diese vier Phänomene, Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität, sind die Säulen einer Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftwelt, die deswegen auch VUKA-Welt heißt. Jeder dieser Faktoren aber steigert die Unsicherheit für erfolgreiches Handeln, die Möglichkeit eines Scheiterns oder Versagens und das macht Angst. Aber Angst ist nicht nur Gift für effektives Arbeiten, Angst ist auch Gift für unseren Körper und das liegt genau an der biologisch uralten Stress-Reaktion, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben.

WAS IST STRESS?

Stress hatten schon die Neandertaler und unsere Vorfahren die Ur-Menschen, nur der Begriff dafür ist modern. Dieser kam so richtig erst Anfang des 20. Jahrhunderts auf, wurde dann aber immer populärer bis er dann in den neunzehnachtziger Jahren „viral ging“. Zu dieser Zeit unterstrichen manche ihre eigene Wichtigkeit und Geschäftigkeit mit dem Spruch „Ich bin im Stress“.

Mit „Stress“, einem Begriff aus der Werkstoffkunde, bezeichnete der Mediziner Hans Selye in den 1930er Jahren die unwillkürlichen Reaktionen des menschlichen Körpers auf Bedrohungen und Belastungen. Diese Reaktion hatte zuvor der Biologe Walter Cannon nach ihrem Zweck als Kampf-oder-Flucht-Reaktion beschrieben.

Wenn wir im Alltag von Stress reden, meinen wir aber selten die Lawine von Stoffwechselveränderungen, die unser Gehirn in der Folge von Bedrohungsreizen durch unser autonomes Nervensystem und eine Flut von Hormonen in Gang setzt.

ALARMSIGNALE ALS STRESS-AUSLÖSER: STRESSOREN

Wir meinen eher die auslösenden Reize, die sog. „Stressoren“ oder Stress-Faktoren. Dies sind 21. Jahrhundert nicht mehr der Anblick eines Säbelzahntigers, wie bei den Urmenschen, und auch seltener reale Bedrohungen. Heute spielen äußere und innere mentale Bedrohungsszenarien eine größere, aber nicht weniger schädliche Rolle.

Die Psychiater Holmes und Rahe stellten schon 1967 eine Liste von 43 Faktoren zusammen. Darunter stellt nur einer, nämlich eine Verletzung oder Krankheit, eine reale Bedrohung dar. Den größten, fast doppelt so großen, Stress verursacht dagegen der Tod des Lebenspartners. Selbst erfreuliche Ereignisse wie Familienzuwachs oder ein großer persönlicher Erfolg und die damit verbunden Veränderungen können Stress auslösen.

Dabei ist die Stressreaktion nicht immer ein negativer „Disstress“, wie es Selye nannte. In einer realen Bedrohung ist die Stressreaktion angemessen und ermöglicht Flucht oder Kampf. In der richtigen Dosis verhilft sie als „Eustress“ bei Herausforderungen wie einem sportlichen Wettkampf, auf einer Bühne oder in einer Prüfungssituation sogar zu Höchstleistungen. Mehr noch, wenn wir große Herausforderungen als bewältigbar und uns selbst als handlungsfähig empfinden, erleben wir in optimalen Fall sogar ein positives „Aufgehen im Tun“. „Flow“ nennt der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi diesen Zustand und das damit verbundene nachfolgenden Glücksgefühl.

Unserem Gehirn und unserem Körper aber sind die Feinheiten dieser Stressoren jedoch ziemlich egal: Reiz-Verarbeitung und die Reiz-Reaktion laufen im Wesentlichen immer gleich ab. Egal, ob es sich um eine unmittelbare Gefahr, eine mittelbare Bedrohung, eine Angst oder eine Herausforderung handelt.

DIE STRESS-REAKTION: UNSER BIOLOGISCHES ERBE

An Anfang der Stress-Reaktion steht die Überraschung. Unser Körper und unsere Psyche sind biologisch auf möglichst gleichförmige Rahmenbedingungen ausgelegt: Solange in unserer Umgebung scheinbar alles gleich abläuft, bleiben Körper und Geist in Ruhe. Sobald aber markante Veränderung auftreten, etwa laute Geräusche, grelle Lichtblitze oder plötzliche Stöße, bewertet unser Nervensystem diese Reize, bevor wir die Situation überhaupt bewusst erfassen.

Verantwortlich dafür ist im Gehirn die Amygdala, der Mandelkern. Sie überprüft blitzschnell alle Reize auf die Frage „Will mich hier etwas fressen oder gibt es hier etwas zu fressen?“ Hat die Amygdala eine scheinbare Gefahr erkannt (wobei sie hier aus Überlebensgründen pessimistisch vorgeht) stößt sie über das autonome Nervensystem und Hormone wie das Adrenalin und Cortisol die körperliche Stress-Kaskade an:

  • der Herzschlag beschleunigt sich
  • der Blutdruck steigt
  • die Muskeln werden stärker durchblutet
  • Blutzucker wird freigesetzt
  • die Verdauung wird gehemmt

Der Körper macht mobil für eine physische Höchstleistung. Ist er in einer realen Gefahr, dann hat er danach alle Ressourcen parat, um zu fliehen oder ihr entgegenzutreten: Maximale Energie und Fokus.

Doch reale Gefahren sind heute viel seltener. Unsere häufigsten Stressoren sind andere.

STRESS-REAKTION IM 21. JAHRHUNDERTS

Die Anzahl der Konfrontationen mit Säbelzahntigern beträgt heutzutage null, nicht aber die mit Terminen, Problemen oder Mitmenschen. Natürlich gibt es auch heute noch grundlegende äußere und innere Stressoren. Umweltfaktoren wie extreme Temperaturen, schwierige Arbeitsbedingungen, zwischenmenschliche Probleme, finanzielle Sorgen oder dramatische Lebensereignisse oder körperliche und seelische Beschwerden und Krankheiten.

Dagegen ist das Spektrum der externen und internen Stressoren breiter geworden: Straßenlärm, Luftverschmutzung, Anonymisierung von Leben- und Arbeitswelt, zwischenmenschliche Konflikte oder Arbeitsplatzunsicherheit, besonders aber alle Formen von Arbeitsverdichtung, Vertriebsdruck oder erfolgsunsicherer Entwicklungsarbeit usw.

Diese „neuen“ Stressoren haben so zugenommen, dass sich laut einer deutschen Studie aus 2016 etwa 82% der Menschen zwischen 30 und 39 regelmäßig gestresst fühlten. Die häufigsten Ursachen dabei waren:

  • die Arbeit
  • hohe Ansprüche an sich selbst
  • Termine und Verpflichtungen in der Freizeit
  • Straßenverkehr
  • Ständige Erreichbarkeit

Mobilität, Vernetzung und die Vielfalt einer multi-kulturellen, multi-optionalen Welt verursachen immer häufiger soziale Konflikte. In der Arbeit wachsen Unsicherheit, Zeitdruck und Verantwortung. Familiäre Bindungen werden überdehnt. Hinzu kommen immer höhere eigene und fremde Ansprüche, Perfektionismus und die immer anspruchsvolleren Ziele einer global vernetzen Gesellschaft, die Sorgen, Selbstzweifel und negative Gedankenmuster befeuern können.

WAS BEWIRKT DAUER-STRESS?

Mit Stress in Maßen kommen unser Körper und unsere Psyche eigentlich ganz gut klar: Die Stress-Reaktion soll ja ein Überleben in Notsituationen überhaupt erst ermöglichen. Doch auch hier liegt der Unterschied zwischen Medizin und Gift in der Dosis.

Die Notfallmaßnahmen, die unser Körper einleitet, um eine körperliche Maximalleistung zu ermöglichen, sind nicht geeignet für die Anforderungen einer sitzenden Tätigkeit. Ein Blutzuckerspiegel, Atemrhythmus und Herzschlag, der uns zu einem Hochleistungsprint befähigen würde, und eine Tunnelwahrnehmung, bei der unser Denken weitgehend ausgeschaltet sind, sind für eine Büro- oder Kreativtätigkeit kontraproduktiv und dauerhaft schädlich.

Unserem Körper ist das aber egal. Er durchläuft bei anhaltenden Stressoren immer wieder die unmittelbare Alarmreaktion und geht nach einiger Zeit in eine Widerstandsphase über, um sich an den chronischen Stress anzupassen, bis schließlich eine Erschöpfungsphase erreicht wird, in der das Immunsystem und die Psyche angegriffen werden. Die Folgen sind ein Spiegel der fortwährenden Notfallmaßnahmen:

  • Angstzustände bis hin zu Depression und Burn-out
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Verspannungen und Kopfschmerzen
  • Atemnot / Asthma
  • Krankheiten der Verdauungsorgane

ERSTE HILFE GEGEN STRESS

Was aber hilft uns gegen dieses biologisch-festgelegte düstere Horror-Szenario?

Eines vorweg: Hinter individuellem Stress-Erleben können auch medizinische und soziale Gründe stehen, die professionelle Hilfe erfordern: Wenn einer dauerhaften Überforderung eine reale Depression zugrunde liegt, objektiv überfordernde Arbeitsbedingungen einen Burn-out befördern, eine toxische Beziehung Dauerstress auslöst oder im Arbeitsumfeld Mobbing durch ein Team oder eine Führungskraft auftritt. Im Verdachtsfall ist daher das Gespräch mit medizinischen, psychologischen oder arbeitsrechtlichen Fachkräften unersetzlich.

Sonst hilft uns das Wissen und das Verständnis über diesen biologischen Vorgang. Unsere moderne Arbeitswelt ist gerade einmal hundert, vielleicht 200 Jahre alt. Unser Körper aber ist für Lebensumstände optimiert, die über viele tausend Jahre grundlegend die gleichen waren. Entsprechend helfen folgende Sofort-Maßnahmen.

  • Stress ausagieren. Die Aktivierung, der Blutzucker und das Adrenalin wollen genutzt und verbraucht werden. Bitten Sie die Menschen im Umfeld um einen „timeout“ und verschaffen Sie sich Bewegung. Dazu gehört auch jede Form von „Ausgleichssport“ nach der unmittelbaren Stress-Situation. Dadurch kann sich der Körper wieder regulieren und entspannen.
  • Stress wegatmen. Klingt komisch, funktioniert aber, denn durch bewusstes Atmen können wir den Para-Sympatikus aktivieren, einen wichtigen Teil des autonomen Nervensystems, der die Stress-Reaktion wird „einfängt“.
    US-Marines, die häufig realen Bedrohungen ausgesetzt sind, haben dazu das „Box-Breathing“ entwickelt: Im Abstand von jeweils vier Sekunden atmen Sie dazu ein, halten die Luft an, atmen aus, halten wieder die Luft an und beginnen dann von vorn. Das ruhige regelmäßige Atmen dient dabei als Botschaft an unser Hirn, dass doch alles in Ordnung ist und wir nicht hechelnd vor einer Bedrohung flüchten müssen.
    Noch einfacher geht es mit der Methode des Stanford-Psychologen Andrew Huberman: Zweimal unmittelbar nacheinander durch die Nase einatmen und dann durch den Mund „seufzend“ ausatmen bis die Lungen ganz geleert sind. Dieses Atemmuster tritt beim Schlafen auch spontan auf und heißt daher „Physiologisches Seufzen“ („physiological sigh“). Es versorgt den Körper wieder mit Sauerstoff und beruhigt buchstäblich die Nerven des autonomen Nervensystems.
  • Stressoren wahrnehmen. Wir reagieren individuell unterschiedlich auf Stressoren. Mentale Stabilität ist zum Teil auch ein Persönlichkeitszug, zum Teil können wir unsere Stress-Resistenz oder Resilienz auch trainieren. Grundlage ist dazu, die persönlichen Trigger zu erkennen. Dann können wir uns selbst und unser Umfeld besser steuern, Prioritäten und Grenzen so setzen, dass die Stress-Reaktion gar nicht erst einsetzt.
  • Stress-Situationen kommunizieren. Heutzutage entsteht Stress in besonders hohem Maße in sozialen Situationen. Daher hilft es mit den Menschen in unserem Umfeld zu sprechen, wie wir akute Stressoren reduzieren, regulieren oder ausschalten können.

Der beste Stress aber ist der, den wir gar nicht erst haben. Darum ist die beste Mittel gegen Stress das aktive Gestalten des eigenen Lebensstiles.

VOM OPFER ZUM SCHÖPFER

Dazu helfen Bewegung und Entspannung, um uns körperlich in die Lage zu versetzen, mit Stress-Situationen besser umzugehen. Letzteres hat den zusätzlichen Vorteil, dass auch die schädlichen Auswirkungen unseres häufig sitzenden Lebensstils entgegengewirkt wird (s. „Sitzen ist das neue Rauchen“). Gesunde Ernährung statt Junk Food, Zuckerzeug oder Alkohol vermeidet „oxidativem Stress“ im Körper, der auch die Psyche belastet.

Entspannungstechniken oder Achtsamkeitsübungen können die Bereitschaft des Körpers zur Stress-Reaktion weiter reduzieren.

Positive Beziehung und Mitgefühl helfen stark Stress abzubauen und in Schach zu halten. Teilen Sie Emotionen, Sorgen und Ängste mit ihren Mitmenschen. Klagen sie ruhig! Doch auch das dosiert: Lassen Sie zügig den Druck ab und formulieren Sie dann lösungsorientiert ihre Probleme.

Auch die Techniken der Positive Psychologie sind hilfreich, zum Beispiel ein Dankbarkeitstagebuch oder das Schreiben von Selbst-Empathie-Briefen und positiven Zukunftsbilder (s. Happiness-Workout). Sie helfen positive Gefühlszustände zu aktivieren, die eigene Selbst-Wirksamkeit zu erkennen und die persönlichen Stärken, Optimismus und Zuversicht zu stärken. Auf dieser Basis können wir durch positives Zeit- und Selbstmanagement Ziele, Prioritäten und Grenzen so setzen, dass wir immer öfter in unsere Flow-Zone als unserer Stress-Zone agieren.

Die Psychologie Barbara Fredrickson hat herausgefunden, dass durch häufigere positive Unterbrechungen eine Gegenbewegung zu Stress, Überlastung und Burn-out in Gang kommt. Nach dieser Broaden-and-Build-Theorie kommt es sogar zu einer Erweiterung unserer Wahrnehmung für unsere eigenen Ressourcen, Gestaltungsmöglichkeiten und wirkt so nachhaltig gegen Stress.

Und wer unmittelbar nach einem Stressor süße Tierbilder ansieht oder herzlich über einen Witz des persönlichen Lieblingscomedians lacht, der kann sogar einen „Undo-Effekt“ erleben, bei dem das positive Gefühl das Stress-Erleben „überschreibt“.

POSITIVE LEADERSHIP

Zum Schluss: Stress ist keine Privatsache. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht darin das Zeitphänomen einer Gesellschaft, die versucht „möglichst viele Optionen zu realisieren aus jener unendlichen Palette der Möglichkeiten, die die Welt uns eröffnet“.

Auch in der Arbeitswelt sind Arbeitsverdichtung, anspruchsvolle Ziele, Rationalisierung, Automation und beständiger Wandel kein Naturgesetz wie die Schwerkraft. Sie sind das Resultat unternehmerischer Entscheidungen.

Führungskräfte und Mitarbeitende können durch Positive Leadership und Feelgood Management gemeinsam ein angstfreies menschenfreundliches Arbeitsumfeld gestalten – durch positive Kommunikation und Beziehungen, positives Klima und Sinnerleben im Unternehmen. Vertrauen, Offenheit, Feedback und Fehlertoleranz, Rollen- und Zielklarheit, gegenseitige Unterstützung schaffen dabei psychologische Sicherheit.

Je positiver und angstfreier das Arbeitsumfeld gestaltet ist, umso weniger Boden hat der Stress zu gedeihen, und wo der nicht überhandnimmt, können Menschen auch produktiv, glücklich und gesund arbeiten. So profitieren alle, die Einzelnen und das Unternehmen, von einem gesunden Umgang mit Stress.

Michael Stief (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Marcus Schneider

Mit Gott in der Muckibude: Unterwegs mit dem breitesten Pastor

Ortstermin beim „breitesten Pastor Deutschlands“: Marcus Schneider verbindet in seinem Fitnessstudio „Mutig und stark“ christlichen Glauben und Krafttraining.

Von Rüdiger Jope

Die Nordbahntrasse Wuppertal: Ein 22 Kilometer langer, breit ausgebauter Radweg auf einer ehemaligen Eisenbahnstrecke zwischen den Dächern der Stadt, in der 100.000 Menschen leben. Das viel befahrene Faszinosum ist ein Relikt aus der Zeit, als der Großraum Wuppertal zu den stärksten Industrie- und Wirtschaftsmetropolregionen Europas zählte. Bereits im Jahre 1875 leisteten in der Wuppertaler Textilindustrie 424 Dampfmaschinen 3.973 Pferdestärken. Der gebürtige Wuppertaler Friedrich Engels und sein Freund Karl Marx versuchten von hier aus, eine Antwort auf die soziale Frage zu finden. 150 Jahre später sind die Dampfloks, Textilmaschinen und Pferde verschwunden. Geblieben sind die Probleme und alte Fabrikgebäude.

Mutig und Stark

In einem von diesen sitze ich nun, neben dem Radweg inmitten von Hanteln, Kraftmaschinen und Gewichten. Außen bröckelnde Ziegel, innen unter alten Antriebsrädern und einem Kran ein hippes Fitnessstudio. Mir gegenüber: Marcus Schneider, der „breiteste Pastor Deutschlands“. Dunkler Vollbart. Schmale, verschmitzt sprühende Augen. Ein wacher, zugewandter Geist. Unter dem weißen T-Shirt verbirgt sich ein tätowierter Oberköper. Auf dem rechten Oberarm prangt ein Totenkopf, in den ein Kruzifix gerammt ist. Die Wand hinter ihm ziert der Bibelvers „Sei mutig und stark“. Im Sessel seiner Muckibude wirkt der große Influencer kleiner als im Internet. Wir stoßen mit einer Cola an.

Marcus kommt ins Erzählen. Fromm sozialisiert, suchte der Teenager nach tragfähigen Antworten fürs Leben. Er findet Jesus, leistet nach dem Abitur seinen Zivildienst in einer christlichen Drogenreha-Einrichtung. Dort futtert er sich im ersten Jahr sechs Kilogramm mehr auf die Rippen. Zu Besuch bei seiner Freundin erkennt diese ihn fast nicht wieder. Die Zivis besorgen sich Gewichte, pushen sich gegenseitig. Marcus schweißt sich eine Hantelbank. Zur Jesusliebe gesellt sich die Leidenschaft fürs „Pumpen“, auch mal 170 Kilo.

„Ich will mit Menschen chillen, ihnen zuhören, sie aufbauen. Wenn das Gespräch auf Gott kommt, ist das gut, wenn nicht, ist es auch ok.“

Nach dem Studium der Theologie verschlägt es ihn in die Credo Kirche nach Wuppertal. Die Stadtteile Oberbarmen und Langerfeld gelten als ein schwieriger Sozialraum. Hier wohnen Menschen aus 150 Nationen eng beieinander. Der Pastor sieht die Not, träumt von einem Fitnessstudio für Jugendliche, denn „Sport verbindet, da kommen Jugendliche nicht auf dumme Ideen“. Sieben Jahre lang baut er mit Verbündeten die industrielle Bruchbude aus, sucht Sponsoren. Um sich zu finanzieren, jobbt er als Dachdecker. Im Sommer 2020 feiern sie die Einweihung von „Mutig und Stark“. Ein halbes Jahr nach dem Start bremst die zweite Welle des Coronavirus die hoffnungsvolle Gründung vorerst brutal aus.

Die Stahltür quietscht. Marcus lächelt, steht auf, begrüßt die fünf Jungs, die schüchtern eintreten. „Ihr wollt heute mal reinschnuppern? Habt ihr Schuhe dabei?“ „Ja.“ „Alles klar.“ „Boxen?“ „Na klar, am Ende, wenn ihr noch Lust und Kraft habt. Erst werden jedoch die Muskeln aufgewärmt …“ Ein Bufdi übernimmt die Truppe. Niko (13), ein Schüler, gesellt sich zu ihnen, macht ihnen Sit-ups und Liegestützen vor.

Wo die Hanteln predigen

Wir stehen an einer Kraftmaschine. „Pumpen ist cool. Das gehört zu mir. Aber noch wichtiger ist mir, was dahinter liegt.“ Marcus will jungen Menschen vermitteln, dass ein dicker Bizeps super ist, aber nicht das, was ihren Wert ausmacht. Der breiteste Pastor ist einer von ihnen. Aufmerksam, zugewandt, authentisch und integer. Er gibt Hilfestellung, montiert die Gewichte, klatscht die Jungs in der Basketballhalle nebenan ab. Stolz präsentiert er mir die frisch eingerichteten Umkleideräume. Den Räumen haftet nichts von in die Jahre gekommenen Schulräumen an. Mit Straßenschuhen läuft hier keiner herum. Schneider ist überzeugt: Für die Gute Nachricht ist nur das Beste gut genug. Hier bringen sie Qualität und Glauben zusammen. „Es bringt doch nichts, wenn ich die beste Botschaft der Welt habe, aber keiner hört zu. In der Bibel heißt es, dass du jemandem erst mal Klamotten besorgen musst – oder eine Hantel“, erklärt er lachend und schiebt nach: „Wenn du mit einem Menschen gemeinsam schwitzt, entsteht Beziehung, dann kannst du auch mit ihm über andere Dinge reden.“ So versteht er sein Fitnessstudio: Ein Ort, wo Menschen mit dem Übersinnlichen in Berührung kommen können. „Mutig & Stark“ ist eine Brücke – aber nicht nur, es ist auch Sport.

„Cool, dass du da bist, Ali!“ Die Augen des Jungen leuchten. „Ich will authentisch sein“, sagt Marcus. „Klar gibt es auch den Proleten in mir“, erklärt er lachend. „Ich weiß ihn aber auch zu reflektieren, meinen Selbstwert nicht aus Muskeln und medialer Aufmerksamkeit zu ziehen. Mir geht es hier im Fitnessstudio wirklich um den einzelnen Menschen. Ich will mit Menschen chillen, ihnen zuhören, sie aufbauen. Wenn das Gespräch auf Gott kommt, ist das gut, wenn nicht, ist es auch ok.“ Während Marcus für eine kleine Challenge mit Manu eine Maschine einrichtet, schnuppere ich in den Boxkurs. Amir (13) findet es toll hier. „Ich bin Moslem, kein Christ, aber ich fühle mich absolut wohl hier. Hier werde ich respektvoll behandelt, fühle mich herzlich willkommen. Meine Eltern finden es gut, dass ich hier hergehe und keinen Scheiß mache“, keucht er und schlägt weiter gegen den Boxsack. Inzwischen duellieren sich Marcus und Manu. Letzterer ist Bankangestellter. In einem YouTube-Video stieß er auf den „breitesten Pastor“ und stellte überraschend fest: Der lebt ja in meiner Stadt! Jetzt trainiert er hier nach Feierabend.

Ort der Begegnung und des Respekts

Marcus holt sich einen Cappuccino. „Nimmst du auch einen?“ Ins Klappern des Löffels frage ich: „Dem Christsein haftet ja der latente Vorwurf an, es sei etwas für Schwache. Du wirkst nicht schwach. Warum glaubst du trotzdem?“ Der Pastor lacht. „Ich bin manchmal sehr schwach. Meine Schwachheit anzuerkennen, gerade darin liegt auch Stärke für uns Männer.“ Sagt’s und wendet sich freundlich den zwei Jungs zu, die verspätet zum Boxkurs eintreffen. „Ey, super, dass ihr da seid!“

Rüdiger Jope ist Redaktionsleiter des Männermagazins MOVO

Symbolbild: PeopleImages / iStock / Getty Images Plus

Sitzen ist das neue Rauchen: Drei Strategien gegen die Sitz-Krankheit

Regelmäßiges, zu langes Sitzen schadet dem Körper mindestens genauso viel wie Rauchen. Im Büro lässt es sich aber schlecht vermeiden. Was hilft?

Von Michael Stief

„Use it or loose it“, frei übersetzt: Wer‘s nicht benutzt, verliert‘s. So lautet das vielleicht wichtigste Gesetz in der Biologie des Menschen.

Gehirne von Säuglingen werden zunächst mit einer Überzahl an Hirnzellen geboren. Von denen sterben mit der Zeit all jene, die wir nicht benutzen. So ergeht es im weiteren Leben auch vielen anderen Körperfunktionen.

Am deutlichsten wird das bei den Muskeln: Hier werden diejenigen abgebaut, die wir nicht gebrauchen; und diejenigen werden stärker, die wir ständig nutzen. Wir sehen es auch an einmal Gelerntem. Je seltener wir eine Fremdsprache benutzen, umso weniger wissen wir von dem, was wir vielleicht in der Schule einmal mehr oder weniger gerne gelernt haben.

Ja, sogar unser Immunsystem vergisst, wenn es nicht mehr mit bestimmten Umgebungsreizen und Erregung konfrontiert wird. Dies erklärt zum Beispiel den überraschenden Anstieg an gewöhnlichen Erkältungskrankheiten nach dem Ende der Corona-Pandemie. Nachdem wir uns so lange durch Maskentragen alle Erreger ferngehalten hatten, erkannte unser Immunsystem auch die häufigeren Erkältungsviren nicht mehr schnell genug als Gefahr.

Was aber hat das damit zu tun, dass das Sitzen das neue Rauchen sein soll?

Sitzen = Rauchen: Übertreibung oder Fakt

Rauchen schadet. Wir nehmen dabei das Nervengift Nikotin, Teer und viele weitere teils krebserregende Stoffe auf. Diese legen die Reinigungsfunktion unserer Lungen lahm und nehmen dabei viele weitere Schadstoffe aus der Umgebung auf. Zudem wird unser Blut mit Kohlenmonoxid übersättigt. Bei einem Brand können wir von zu viel Rauch eine „Rauchvergiftung“ bekommen. Diese Tatsache macht intuitiv klar, dass Rauchen ungesund ist. Auch wenn es aktive Raucher gerne verdrängen.

Was aber sollte am Sitzen schlecht oder schädlich sein? Wenn wir uns nach ausgedehnter körperlicher Arbeit oder nach intensivem Sport hinsetzen und ausruhen, tut uns das gut. Doch eben nur dieser Wechsel von Anstrengung und Entspannung ist das eigentlich Wohltuende und Gesunde. Für das Sitzen selbst gilt der Satz: „Die Menge macht das Gift!“ Was in der Wechselbelastung Erholung bewirkt, verursacht auf Dauer Erschlaffung und Fehlbelastungen.

Born to run

Der menschliche Körper ist für den aufrechten Gang und das Laufen ausgelegt. Anders als unsere nächsten Verwandten die Menschenaffen gehen wir jenseits des Krabbelalters in aller Regel nicht auf allen Vieren. Im Gegenteil: Völker wie die afrikanischen Massai oder die mittelamerikanischen Tarahumara laufen ganz alltäglich Strecken, wie sie in Europa nur für Langstreckenathleten im Training üblich sind.

Wir Menschen sind für langes beständiges Laufen gebaut. Vergleichbar mit einem Rallyewagen mit Turbodiesel. Statt 10 oder 20 Kilometer am Tag zu laufen, sitzen wir jedoch zehn oder zwölf Stunden – am Frühstückstisch, im Bürostuhl und auf dem Sofa. Das ist, als würden wir unsere Turbodiesel-Rallyemaschine in die Garage stellen. Dort versottet der Motor, werden die Leitungen brüchig und frisst sich der Flugrost in die Karosserie.

Entsprechend finden Mediziner bei sitzenden Büro-Bewohnern häufig folgende „Mängel“:

  1. Muskelschwäche
  2. Verschlechterte Körperhaltung
  3. Schlechte Durchblutung
  4. Erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten
  5. Mentale Auswirkungen

Kurz gesagt: Regelmäßiges, zu langes Sitzen schadet Körper, Geist und Seele.

Auswirkungen auf den Körper

Genau darum werden – nach der biologischen Grundregel Use-it-or-loose-it – unsere Laufmuskeln schwächer. Andere Muskelgruppen überbeanspruchen wir dagegen: Die Hals- und Nackenmuskeln sollen beim Laufen nur einen aufrechten Kopf stabilisieren. Jetzt müssen sie einen vorgebeugten Kopf tatsächlich halten. Dies entspricht etwa einem Gewichtunterschied von 23 kg: 28 kg beim Halten im Vergleich zu 5 kg beim Stabilisieren. Das führt langfristig zum Upper Cross Syndrom mit Verspannungen, Schmerzen, Knorpel- und Knochenschäden bis hin zu Belastungen für die inneren Organe.

Unser Herz, das ja auch ein Muskel ist, bekommt ebenfalls nicht das notwendige Training. Es wird dadurch sowohl für die Wechsel-, Dauer- als auch Spitzenbelastung schwächer. Unsere Blutbahnen werden weniger rhythmisch vom Blut durchgewalkt und damit schwächer; Fettablagerungen werden nicht mehr weggespült. Unsere Venen, die nur passiv durch Muskelbewegungen aktiviert werden, können sich entzünden.

Schadstoffe, die durch ein bewegtes Lymphsystem abtransportiert werden, lagern sich mit „Wasser in den Beinen“ ab.  Ja, sogar unser Verdauungssystem wird nicht mehr naturgemäß beansprucht, was zu Verdauungsbeschwerden und schlimmstenfalls zu Diabetes führen kann.

Psychische und körperliche Schäden

Und nicht zuletzt ist unser Körper mit einem Belohnungssystem ausgestattet. Dieses belohnt uns für Bewegung und Anstrengung mit Glückshormonen. Nicht nur in Form des Runners High, sondern auch durch ein gutes Gefühl nach jeder positiven Anstrengung. Wo diese Glückshormone dauerhaft zu wenig produziert werden, wird seelischen Verstimmungen bis hin zur Depression der Weg gebahnt.

Noch mehr: Die natürliche Stressreaktion auf erlebte Bedrohungen ist besonders auf eine eilige Flucht hin optimiert. Der mentale Dauerstress von Bürobewohnern hinterlässt sowohl psychisch als auch körperlich Schäden, wenn die stressbedingte Aktivierung des Körpers nicht durch natürliche Bewegung verwertet wird.

All dies ist schon lange bekannt und wurde wiederholt in wissenschaftlichen Studien belegt. Doch trotz Schrittzählern, periodisch auftretenden Lauf-Päpsten und zuletzt auch SmartWatches und Fitness-Trackern gehen und bewegen wir uns kollektiv zu wenig. Was tun? An ausreichend körperlicher Bewegung führt kein Weg vorbei. Doch was ist „ausreichend körperliche Bewegung“?

Der 10.000 Schritte Mythos

Zu Zeiten unserer Großeltern hieß es zum Beispiel: Nach dem Essen sollst Du ruhen oder 1.000 Schritte tun. Diese Alternative mag Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts noch gut funktioniert haben, als große Teile der Bevölkerung einer überwiegend körperlichen Arbeit nachgingen. Heute ist eher die Regel 10.000 Schritte pro Tag eine brauchbare Orientierung, auch wenn sie nicht wissenschaftlich verbürgt ist, sondern auf einen japanischen Marketinggag zurückgeht.

Im Gefolge der Olympische Spiele in Tokio 1964 brachte die Firma Yamasa den ersten kommerziellen Schrittzähler heraus. Der erhielt auf Japanisch den knackigen Namen „manpomeetaa“, also „10.000-Schritte-Zähler“. Das Japanische hat eine zusätzliche Zählschwelle bei 10.000 mit der Bezeichnung „man“. Das klingt viel besser als „nanasengohyaku“. Auf Deutsch 7.500, was laut aktueller Forschung das Optimum wäre, um die Lebenserwartung zu erhalten. „ichinichi ichimanpo“, „jeden Tag 10.000 Schritte“, gab für japanische Hörgewohnheiten jedoch einen unwiderstehlichen Slogan ab.

Die US-Gesundheitswissenschaftlerin Catrine Tudor-Locke pushte in den 2000er Jahren die Praxis des 10.000-Schritte-Zählens mit einem sehr kleinen, sehr dünnen und sehr reißerischen Buch. Heute ist dieses Schrittziel in vielen Fitness-Trackern und SmartWatches als Default-Einstellung vorgegeben.

Dennoch: Als Tagesziel sind die 10.000 Schritte brauchbar. So erreichen wir auch dann einen gesunden Bewegungsdurchschnitt, wenn uns Sitzungs-Marathons, Schulungen oder die gelegentliche eigene Trägheit aufs Sofa zwingen.

3 Strategien gegen die Sitz-Krankheit

Es heißt: Die Menge macht das Gift. So ist es auch mit dem Sitzen. Passende Strategien brechen unsere ungesunden Sitzgewohnheiten auf. Diese setzen an drei Stellen an:

  • Dauer
  • Haltung
  • Ausgleich

Weniger lange sitzen, öfter aufstehen

Sitzen Sie weniger und wenn das in Summe nicht geht, dann weniger lange am Stück. Handelsübliche Fitness-Tracker erinnern einen daran, einmal pro Stunde ein paar Schritte zu gehen. Es reicht aber auch schon, sich am Glockenschlag der nächsten Kirchturmuhr zu orientieren.

Das passt auch gut zu anderen förderlichen Gewohnheiten, wie zum Beispiel regelmäßig zu trinken oder die Augen durch entspanntes Sehen auf unterschiedliche Distanzen zu entspannen. Durch ein „Gewohnheiten stapeln“ lassen sich die ohnehin nötigen Bio-Pausen kreativ aufwerten: Beispielsweise durch einfache Bewegungsübungen wie Rumpfdrehen, seitliches Abbeugen in den Hüften, Vorbeugen oder Rückendehnen. Oder durch einen Mini-Spaziergang in Form eines kleinen Umweges zum eigentlichen Ziel, seien es Kaffeemaschine, Wasserspender oder Toilette. Eine gute Orientierung liefert sinngemäß das vom Evangelisten Matthäus überlieferte Jesus-Wort: „Wenn Dich jemand nötigt eine Meile zu gehen, so gehe mit ihm zwei.“

Haltung bewahren

Natürlich lassen sich nicht alle Arbeiten im Gehen oder Stehen erledigen. Wenn wir also schon sitzen, dann kommt es dabei auf drei Dinge an: Bewusste Haltung, einen ergonomischen Arbeitsplatz und die richtige Sicht. Wer sich beim Arbeiten in den Stuhl lümmelt, multipliziert die negativen Auswirkungen des Sitzens. Unser Kopf ist weit schwerer als wir wahrnehmen. Unsere Muskeln sind dafür gebaut, diesen mit wenig Kraft dynamisch zu balancieren, anstatt ihn statisch mit viel Kraft zu halten. Daher also eine aufrechte Haltung bewahren, Füße stabil auf dem Boden, etwas Körperspannung und den Kopf locker balancieren.

Ebenso hilft ein ergonomischer Arbeitsplatz mit den passenden Abständen und Winkeln von Stuhl, Tisch, Tastatur und Monitor sowie für Brillenträger eine aktuelle Bildschirmbrille. Optiker werden bestätigen, dass die meisten Menschen mit Brille dazu neigen, fehlende Sehschärfe auszugleichen, indem sie den Kopf nach vorne beugen. Dann ist es schnell vorbei mit dem lockeren Balancieren unseres Hauptes.

Zum Haltung bewahren gehört auch das passende Mindset. Den Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen muss man wirklich wollen und nicht getrieben von einem falschen Fleiß stundenlang durcharbeiten. Moralische Unterstützung bekommen wir dabei auch von der Psychologie. Die belegt, dass wir auch mental effektiver sind, wenn wir Pausen machen. Erst recht, wenn wir uns in diesen Pausen bewegen.

Ausgleich schaffen

Wenn wir unsere Gewohnheiten unter die Lupe nehmen, finden sich viele Möglichkeiten, unsere Arbeit- oder Freizeitaktivitäten im Stehen oder Gehen zu erledigen. Ein persönliches Brainstorming lässt sich Dank der Diktierfunktion des Smartphones auf einem kurzen Spaziergang erledigen. Im Team finden sich im Stehen am Flipchart oder Whiteboard auch oder gar mehr kreative Ideen. Einzelne Unternehmen haben die Stühle aus ehemaligen Sitzungszimmern verbannt – mit positiven Effekten. Sitzungen wurden dadurch nicht nur kürzer, sondern auch produktiver.

Führungskräften empfehle ich gerne, Mitarbeitergespräche im Gehen zu führen. Dabei bringt die notwendige gemeinsame Perspektive beim Gehen wie auch die taktgleiche Bewegung selbst zusätzliche subtile positive Effekte für die Kommunikation. Gleichzeitig sorgt es für den Wechsel von Sitzen und Bewegung.

Und natürlich gehört an diese Stelle auch der Sport: Gehen, Laufen, Schwimmen, Radfahren oder auch Krafttraining können uns helfen, die negativen Effekte des „sesshaften“ Lebensstiles zu kompensieren. Hier ist eine hohe Frequenz wichtiger als eine hohe Dosis: Einmal in der Woche in einem Mannschaftstraining im Fußball oder Volleyball durchzupowern, pusht vielleicht den Kreislauf und pustet die Blutgefäße durch. Das ersetzt aber nicht den täglichen Ausgleich.

Beim Putzen die Fitness aufpolieren

Hier mag jeder seinen speziellen Weg finden, doch eine überraschende Erkenntnis aus der Forschung hilft nicht nur öfter zu „trainieren“, sondern auch quasi nebenbei: Mit der entsprechenden Einstellung haben nämlich auch gewöhnliche Hausarbeiten einen sportlichen Effekt.

Die Harvard-Psychologinnen Alia Crum und Ellen Langer fanden vor zehn Jahren in einer Vergleichsstudie mit 84 Zimmermädchen heraus, dass die Kenntnis über die positiven gesundheitlichen Effekte bei Reinigungstätigkeiten konkrete Auswirkungen auf Blutdruck und BMI bzw. Körpergewicht haben.

Also gerne öfter den Staubsauger-Roboter in Urlaub schicken und selbst mit dem Handstaubsauger dynamisch durch die Zimmer wirbeln, den Staublappen schwenken oder beim Müll entsorgen einen Schritt schneller gehen oder gar einen Umweg mache.

Und falls Sie es zwischenzeitlich noch nicht getan haben: Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt aufzustehen und ein paar Dutzend Schritte zu gehen … und in einer Stunde wieder!

Michael Stief (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Michael Blume (Foto: SCM Bundes-Verlag / MOVO / Rüdiger Jope)

„Jedes Leben zählt!“: Der Mann, der 1.000 Menschen rettete

Michael Blume hat 1.000 jesidischen Frauen und Kindern geholfen, aus dem Nordirak zu fliehen. Wie kam es dazu?

Herr Blume, am 23. Dezember 2014 bekamen Sie aus dem Auswärtigen Amt und dem Innenministerium in Berlin „gelbes Licht“ für welche Aktion?

Michael Blume: Das Land Baden-Württemberg dürfe 1.000 jesidische Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufnehmen, die sich auf der Flucht vor dem IS befanden. Allerdings war es nur „gelbes Licht“, weil die sagten: „Wir spielen doch nicht den Buhmann und verbieten eine humanitäre Aktion. Macht es, aber bitte auf eigene Verantwortung und auf eigenes Risiko!“

Welche Frage stellte Ihnen Ministerpräsident Winfried Kretschmann daraufhin?

Blume: Er fragte mich: „Würden Sie es denn machen, Herr Blume?“

Sie kamen sich vor wie im Film „Schindlers Liste“. Sie besprachen diesen wahnsinnigen Auftrag mit Ihrer Frau. Sie schaut Ihnen in die Augen und sagt?

Blume: Meine Frau ist Muslimin. Sie schämte sich sehr, was der IS im Namen ihres Glaubens da im Irak anrichtet. Sie brach in Tränen aus, sagte dann aber: „Wir glauben beide, dass Gott uns einmal fragen wird, was wir mit den Elenden vor unserer Tür gemacht haben. Michael, mach es! Jedes Leben zählt!“ Wir hatten drei kleine Kinder. Sie hat die 14 Dienstreisen über 13 Monate in den gefährlichen Irak mitgetragen.

Waren Sie schon immer so ein tapferer und cooler Mann?

Blume: (schmunzelt) Nein! (lacht) Ich war für Mädels nicht cool, nicht chic, nicht so richtig vorzeigbar. Meine Familie stammt aus der ehemaligen DDR. Mein Vater hat Stasihaft und Folter erlitten. Ich bin daher mit einer tiefen Dankbarkeit gegenüber unserem Rechtsstaat und den Menschenrechten aufgewachsen. Dazu kam, dass ich als Jugendlicher einen Sinn im christlichen Glauben gefunden habe. Die glückliche Beziehung mit meiner Frau hat mich zum Mann reifen lassen.

„Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können“

Was hat Ihnen geholfen, Ihr Potenzial zu entfalten?

Blume: (spontan) Unbedingt geliebt, ein Kind Gottes zu sein, aber eben auch das Wissen und die Erfahrung: Ich bin nicht unfehlbar, ich darf auch scheitern. Der Rückhalt meiner Frau, die mir in dieser schwierigen Entscheidung vermittelt hat: Es lohnt sich, sein Bestes zu geben. Sie hatte verstanden: Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können.

Sie retteten mit einem kleinen Team über 1.000 Jesidinnen das Leben. Sie setzen sich ein für Geschundene, Geflüchtete … Ist dies in Ihrer DNA angelegt, weil Ihr Vater in der DDR im Knast saß, Ihre Eltern aus der DDR flüchten mussten?

Blume: Unbedingt. Als Jugendlicher habe ich eine große Politikverdrossenheit um mich herum erlebt. Dies hat mich unglaublich geärgert. Wir Menschen, die wir im Wohlstand und in Freiheit aufwachsen, tendieren leicht dazu, dies zu verachten, nicht mehr wertzuschätzen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir in einer Demokratie leben, dass wir Menschenrechte haben, dass Mädchen die Schule besuchen dürfen und Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Dafür sollten wir kämpfen! Mein Vater hat Folter ertragen, weil er wollte, dass seine Kinder einmal in Freiheit aufwachsen. Wer bin ich, der ich dieses Geschenk der Freiheit wegwerfen würde oder anderen vorenthalte?

Nadia Murad, eine der Jesidinnen, die Sie gerettet haben, erhielt im Dezember 2018 den Friedensnobelpreis. Welches Gefühl löste dies in Ihnen aus?

Blume: Ich war mit Ministerpräsident Kretschmann bei der Verleihung in Oslo dabei. Das war sehr bewegend. Nadia selber war zuerst gar nicht so glücklich darüber, weil ihr damit klar war: Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückziehen, jetzt muss ich ein Leben lang eine öffentliche Rolle einnehmen. Sie, diese tapfere Frau, hat dieses Geschenk, aber eben auch diese Herausforderung dann angenommen und der freien Welt signalisiert: Frauenrechte sind nicht selbstverständlich und gerade wir Männer sollten dafür einstehen.

Beinahe-Antisemitismus-Skandal: „Das wird eine heftige Geschichte“

Sie brechen als junger Mann ein Volkswirtschaftsstudium ab, um Religionswissenschaften zu studieren. Mit einem Aufsatz über Ihre Biografie als „Wossi“ gewinnen Sie einen Preis. Die Stuttgarter Zeitung veröffentlicht einen Artikel über Sie. Diesen Beitrag liest …?

Blume: (lacht) … Staatsminister Christoph Palmer. Ich hatte damals einen Beitrag zum Thema „Heimat und Identität“ eingereicht. Damit gewann ich einen Preis als einziger Deutscher ohne Migrationshintergrund, wenn wir die DDR nicht mitzählen. Palmer hat mich dann von der Universität direkt ins Staatsministerium geholt.

Am 11. April 2007 sagte der damalige württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger in Freiburg auf der Beerdigung von Hans Filbinger, einem seiner Vorgänger, den Satz: „Filbinger war kein Nationalsozialist. Es gibt kein Urteil von ihm [Anm.d.Red.: Er war NS-Marinerichter], durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte.“ Warum wurde Ihnen da mulmig?

Blume: An der Rede war ich nicht beteiligt. Als ich sie hinterher hörte – heute würde sie ja sofort im Internet stehen –, war klar: Das wird eine heftige Geschichte. Diese Aussage könnte ihn sein Amt kosten. Man soll ja über Verstorbene nichts Böses sagen, aber hier war eine Grenze überschritten worden, eine Umdeutung passiert. Unbestrittene Tatsache ist: Filbinger hat noch in den letzten Kriegstagen Menschen zum Tode verurteilt.

Wie haben Sie die politische Kuh vom sprichwörtlichen Eis bekommen?

Blume: Ich habe Günther Oettinger geraten, den Vorwärtsgang einzulegen, nicht darauf zu warten, dass die medialen Rücktrittsforderungen abebben. Wir sind zur jüdischen Gemeinde Stuttgart gefahren, haben mit dem Zentralrat der Juden direkt gesprochen. Die jüdischen Gemeinden wussten, dass Oettinger ein feiner Kerl und kein Antisemit ist, aber die mediale Dynamik hätte alle zermalmen können. Der Ministerpräsident bedauerte den Fehler, die jüdische Gemeinde zog die Rücktrittsforderung zurück.

Und Sie bekamen ein Dankeschön der Kanzlerin?

Blume: (lacht) Sie haben sich aber gut informiert! Ja. Angela Merkel rief Günther Oettinger über mein Handy an. Ich konnte meinen Teil tun.

Sie sind Mitglied der CDU. Was bedeutet Ihnen das C? Und wie kam es dazu, dass Sie für eine Landesregierung arbeiten, in der die Grünen am Ruder sind?

Blume: Das Christliche ist mir zentral wichtig. Auch als Entlastung von Politik, weil sie nicht versuchen sollte, ein Paradies auf Erden zu schaffen. Ministerpräsident Kretschmann hat ein Faible für das C. Das verbindet uns. Als er gewählt und sein Vorgänger Stefan Mappus abgewählt war, fragte er mich, ob ich trotzdem bleiben würde. Ich sagte ihm zu, wenn er die zwei Mitarbeiterinnen mit übernehmen würde, die für mich bis dahin gearbeitet haben. Er hat seinen Teil eingehalten und ich den meinen. Wir arbeiten bis heute sehr vertrauensvoll zusammen. Ich stelle immer wieder fest: Viele Grüne schätzen es, wenn sie mit einem Christdemokraten zu tun haben, der sein Parteibuch nicht taktisch versteckt, wenn es der Karriere schädlich sein könnte, sondern zu seinen Werten steht.

„Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer“

Sie sind heute Antisemitismusbeauftragter. Wie würden Sie einem Kind diesen Beruf erklären?

Blume: Das Judentum war die erste Religion, die mit dem Alphabet geschrieben hat. Deshalb denken viele Menschen, dass die Juden besonders schlau seien und die Welt kontrollieren. Ich würde dem Kind dann sagen: Niemand kontrolliert die Welt außer Gott. Ich gewinne Menschen dafür, sich zu bilden und zu lernen und keinen Hass auf eine Gruppe oder Religion zu haben.

Was ist Antisemitismus?

Blume: Antisemitismus ist eine Form von Menschenfeindlichkeit, die immer mit Verschwörungsmythen verbunden ist. Im Antisemitismus wird behauptet, Juden seien besonders schlau, reich und mächtig. Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer. Sie sind deshalb auch zur Radikalisierung und Gewalt bereit.

Warum trifft es durch die Jahrhunderte und viele Kulturen hindurch immer wieder die Juden?

Blume: Weil sie die erste Religion der Schrift waren. Im ersten Buch Mose heißt es: Der Mensch sei im Bilde Gottes geschaffen. Daraus entsteht der Begriff der Bildung, der unsere europäische Kultur entscheidend geprägt hat. Die Idee, dass wir einmal in einer Welt leben, in der jedes Mädchen, jeder Junge lesen und schreiben kann, entstammt dem Judentum. Deshalb konnte der zwölfjährige Handwerkersohn Jesus drei Tage im Tempel mit den Schriftgelehrten diskutieren.

„Bekämpft Antisemitismus für eure eigene Zukunft!“

Ist Antisemitismus mehr als Hass auf Juden?

Blume: Rabbiner Lord Jonathan Sacks formulierte es so: „Dieser Hass beginnt immer bei den Juden, endet aber nie bei ihnen.“ Er setzte sich im Dritten Reich bei den Sinti und Roma oder den Homosexuellen fort. Im Islamischen Staat setzte sich dieser Hass gegen Jesiden, Wissenschaftler und Journalisten fort. Ich sage daher: Bitte bekämpft den Antisemitismus nicht nur den jüdischen Menschen zuliebe, sondern für eure eigene Zukunft! Wer glaubt, dass die Gesellschaft von der Verschwörung gesteuert wird, ist zur Demokratie nicht mehr in der Lage.

Es heißt, der Antisemitismus in Deutschland nehme wieder zu. Ist dies auch Ihre Feststellung?

Blume: Jein. Nach allen Daten, die uns vorliegen, nimmt die Zahl der Antisemiten weiter ab. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Die Menschen, die antisemitisch agieren, haben aber das Internet, und damit nimmt ihre Radikalisierung und Gewaltbereitschaft zu.

Was können wir gegen Antisemitismus tun?

Blume: Wir sind gefragt, zuzugeben, dass wir nicht alles wissen. Verschwörungsmythen geben eine scheinbar einfache Erklärung. Wenn ich sage, diese Verschwörer sind schuld, habe ich eine vermeintliche Erklärung für COVID-19, die Klimakrise, den Krieg in der Ukraine. Stattdessen zu sagen: Ich weiß, dass wir Männer die Wahrheit nicht mehr besitzen, sondern Unsicherheiten aushalten müssen – diese Stärke wünsche ich mir von uns Männern. Lebenslange Bildung macht uns stark gegen Antisemitismus.

Wann haben Sie als Beauftragter einen guten Job gemacht?

Blume: Wenn ich eingeladen werde, Menschen an diesem Thema Interesse zeigen, ich dafür sorgen kann, dass Menschen gar nicht erst zu Antisemiten werden. Jede Seele zählt.

„Die vernünftige Mitte bricht zusammen“

Sie differenzieren zwischen Verschwörungsmythen und Verschwörungstheorien. Warum?

Blume: Theorie ist ein Begriff aus der Wissenschaft. Verschwörungsmythen wollen nur Schuldige benennen. Das waren im Mittelalter die Hexen, heute werden die Zugewanderten als Invasoren betrachtet oder man wirft Frauen vor, dass sie für niedrige Geburtenraten sorgen. Wir müssen ertragen, dass sich die Welt nicht in gute und böse Gruppen spalten lässt, dass wir herausgefordert sind, das Böse in uns zu bekämpfen.

Warum haben Verschwörungsmythen und Fake News derzeit so Hochkonjunktur?

Blume: Immer dann, wenn neue Medien auftreten, haben wir eine Explosion von Verschwörungsmythen. Der Hexenwahn war nicht im vermeintlich finsteren Mittelalter, sondern fand vom 15. bis zum 18. Jahrhundert statt. Heute werden in 44 Ländern der Erde Frauen als Hexen verfolgt. Immer dann, wenn neue Medien wie Buchdruck oder elektronische Medien an Bedeutung gewinnen, ergeben sich unendliche neue Chancen für Bildung, aber es tauchen eben auch wieder alte Vorwürfe auf. Das erleben wir gerade mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit.

Sehen Sie einen Zusammenhang von zurückgehenden Kirchenmitgliedszahlen, einem schwindenden Glauben in der Gesellschaft und einer Zunahme von Mythen?

Blume: Ja. Unbedingt. Wir erleben leider in allen Religionen das Phänomen, dass die vernünftige Mitte zusammenbricht. Es wird die Religionslosigkeit propagiert. Es gibt immer mehr säkulare Menschen. Diese stehen den religiösen Dualisten gegenüber, die sich gegen den sogenannten Mainstream mit Verschwörungsmythen abgrenzen. Die vernünftige Mitte zerbröselt. Das ist der Teil, der mir am meisten Sorgen macht.

Blume geht gerichtlich gegen Hassnachrichten vor

Sind Männer anfälliger für Verschwörungsmythen als Frauen?

Blume: Ja! Bei Männern sehen wir öfter ein kämpferisches Weltbild. Da herrscht die Stimmung vor: Ich zerschlage jetzt die Verschwörer, wenn es sein muss auch mit Gewalt. Dies kickt vor allem jüngere Männer. Darin lassen sie sich dann gerne von älteren Männern bestätigen. Von daher sage ich, auch als ehemaliger Soldat: Liebe Mitmänner, die eigentlichen Helden stellen sich erst einmal ehrlich den Abgründen der eigenen Seele.

KI in Form von ChatGPT & Co. bringt nochmals eine ganz neue Herausforderung in puncto Fake News mit. Was wird in Zukunft wichtig(er) werden? Wie können wir Mythen oder Fake News entzaubern?

Blume: ChatGPT ist ein Werkzeug, welches unsere gesamte Welt verändern wird. Wir werden zukünftig mehrere KIs nutzen. Ob wir es wollen oder nicht, KI wird ein Teil unserer Mitwelt. Sie wird uns selbst verändern, wie uns auch das Smartphone verändert hat. Mein Ratschlag lautet: Mitmachen, aber auch nachdenken, was wir da eigentlich tun!

Hassnachrichten gehören zu Ihrem Tagesgeschäft. Wie gehen Sie damit um?

Blume: Am Anfang habe ich sie einfach ignoriert. Doch dann richteten sie sich gegen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und vor allem gegen meine Familie. Seitdem wehre ich mich auch gerichtlich.

Sie klagen gegen Twitter. Warum?

Blume: Viele Bürger haben gar nicht die Möglichkeit, gegen diesen Giganten vorzugehen. Das ist unglaublich teuer. Stellvertretend für die Menschen streite ich daher gemeinsam mit HateAid. Ich will nicht den Hass im Internet bejammern, sondern mich auch hinstellen und den Hetzern und Trollen die Stirn bieten! Es hat mich Überwindung gekostet, im Regierungskabinett solch eine an mich adressierte Hassnachricht vorzulesen.

Was ist der aktuelle Stand der Klage?

Blume: Twitter vertritt die Auffassung, dass die gesendete Hassnachricht gelöscht werden kann, doch die Kläger sollen jede einzelne Hassnachricht neu melden. Wir halten dagegen und haben vom Landgericht Frankfurt/Main Recht gesprochen bekommen, dass Twitter kerngleiche Inhalte selbst löschen muss. Wenn also gegen eine Person eine Kampagne läuft, ist Twitter gefordert, löschend einzuschreiten. Twitter kann sich nicht zurücklehnen nach dem Motto: Meldet es und wir schauen dann mal. Twitter wehrt sich sehr dagegen …

„Jede Religion kann man liebevoll oder auch feindselig leben“

Was ängstigt Sie? Was macht Ihnen Hoffnung?

Blume: Mich treibt die Sorge um, dass die Klimakrise zur Wasserkrise wird. Ich habe im Irak gesehen, wie ein Staat zerfällt, wenn es nicht mehr genügend Wasser für alle gibt. Wasser ist ein mächtigeres Element als Öl. Es ist übrigens auch das erste Element, welches in der Bibel genannt wird, noch vor dem Licht! Es werden immer weniger Teile der Erde bewohnbar sein. Ich bin überzeugt: Wir werden die Krise meistern, aber die vor uns liegenden Jahre werden hart. Es geht ums Überleben in unserer Mitwelt. Dafür braucht es Frauen und Männer, die über sich hinauswachsen.

Sie sind atheistisch aufgewachsen, haben dann zum christlichen Glauben gefunden. Was hat Sie überzeugt?

Blume: Ich war politisch sehr aktiv. Im Angesicht der Hungerkatastrophe in Somalia stellte ich als junger Mensch fest: Es gelingt uns trotz allem Engagement nicht, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Das brachte mich in eine Sinnkrise. Und in dieser frustrierenden Situation hat Gott mich aufgefangen und angesprochen in dem Sinne: Michael, wenn du tust, was du kannst, ist das genug. Du bist unendlich geliebt! Das hat mich unglaublich entlastet und bewahrt mich davor, mich selbst zu überfordern.

Sie und Ihre Frau entstammen einer Arbeiterfamilie. Sie sind ein glückliches Paar. Was sagen Sie Menschen, die Christen vor allem als Kreuzritter und Kolonisatoren und Muslime als Machos und Terroristen sehen?

Blume: Jede Religion kann man liebevoll oder auch dualistisch, feindselig, extremistisch leben. Das gilt fürs Christentum, den Islam und jede andere Glaubensrichtung. Zehra und ich haben jetzt unsere silberne Hochzeit gefeiert. Wir sind sehr glücklich miteinander. Wir haben drei gemeinsame Kinder, die sich in der evangelischen Kirche engagieren. Meiner Auffassung nach sollte sich Religion niemals gegen die Liebe stellen, sondern sie immer unterstützen.

Infolge der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie, des Krieges in der Ukraine erleben wir eine starke Polarisierung der Gesellschaft. Wie geht es weiter? Was ist Ihre Prognose?

Blume: Wir alle stehen vor der Charakterfrage. Gerade auch wir Männer. Große Teile der Welt werden unbewohnbar werden. Es wird sogenannte Archeregionen geben, in denen Menschen überleben können. Wir alle stehen da vor der Herausforderung, die Menschen zu beschützen, die uns anvertraut sind, aber eben auch ein großes Herz gegenüber denen an den Tag zu legen, die bei uns Schutz suchen. Dies wird die Herausforderung des 21. Jahrhunderts werden. Sind wir Männer fähig, echte Partner zu sein, zu lieben statt zu hassen? Das wird die Aufgabe von uns Männern sein!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Heißer Lesetipp für den Sommer:

„Eine Blume für Zehra – Liebe bis zu den Pforten der Hölle“ (bene!) Andreas Malessa erzählt eindrücklich die Liebes- und Familiengeschichte von Blumes. Ein packendes Stück deutscher Geschichte im Kleinformat.

Symbolbild: andresr / E+ / Getty Images

Für ungehemmten Sex: Warum sich Sterilisation beim Mann lohnt

Heiko Kienbaum und seine Frau haben genug vom „Nachwuchsroulette“ und wollen wieder sorglos den Sex genießen. Die Lösung: Heiko lässt sich sterilisieren.

„Zum Goldenen Horn” – allein der Straßenname löst in mir noch heute einen Schmunzler aus. Das Wissen, dass dies die Adresse eines Urologen mit Spezialisierung auf „Vasektomie“, also Sterilisation des Mannes, ist, gibt dem Straßennamen nochmal eine süffisante Note, wie ich finde. In wenigen Minuten betrete ich die urologische Praxis im Süden von Berlin. Überall an den Wänden hängen humoristische Illustrationen zu den Themen „Mannsein” und gelebte Männlichkeit. Bei den Zeitungen finden sich „Men’s Health-Gesundheitsmagazine”, Barbecue-Grill-Magazine mit wirklich fleischigen Gourmettipps, Outdoor- und Karrierehefte komplettieren das Literaturangebot. Hier weiß wohl jemand, was wahre Männer lesen.

Bin ich jetzt noch ganz Mann?

Normalerweise ist das alles nicht ungewöhnlich, aber für mich in diesem Moment schon. Es fühlt sich für mich an, als würde mir nochmal so kurz, bevor es losgeht, das „echte” Mannsein präsentiert, bevor dann „Dr. Schnipp Schnapp” sein Skalpell an meinen Sack anlegt und das alte Leben abschneidet bzw. durchtrennt. Mir wird mulmig zumute. So ein Quatsch, antwortet mein „Verstand” in Richtung meines „Gefühls” und konstatiert übertrieben selbstbewusst: „Das Durchschneiden zweier Samenleiter ändert nichts, aber rein gar nichts an meiner Männlichkeit.” Das Gefühl flüstert und fragt zurück: „Und was, wenn doch? Dann ist’s zu spät, einmal schnipp und die Nummer ist durch. Danach isst du nur noch vegan und trinkst den ganzen Tag Decaf Latte Macchiato mit Hafermilch. Das, was dich als Mann ausmacht, deine ‚Identität‘, deine ‚Fruchtbarkeit‘ ist erledigt. Willst du das wirklich?”

Während ich noch in dem Gedanken verharre, springt die Tür vom Wartezimmer auf und ein dynamischer End-50er-Herr im weißen Kittel kommt mir entgegen. „Herr Kienbaum”, tönt er, „schön, dass Sie da sind. Na dann wollen wir mal, bevor man sich dit anders überlegt, wa?” Äh, stimmt. „Ich komme”, antworte ich etwas zurückhaltender.

Die Überlegungen zur Vasektomie gab es wirklich nicht erst seit gestern. Immer wieder gab es zwischen mir und meiner Frau die Frage, wie das Thema Familienplanung nach der Geburt unserer drei Kids so ganz praktisch für uns in Zukunft aussehen sollte. Ich erinnere mich noch gut, wie oft dieses Thema für uns und unsere Freunde eine Art „Running Gag” war, wenn wir uns trafen und wieder mal miteinander folgenden Satz teilten: „Hui, diesmal, also, könnte es aber wieder knapp gewesen sein …“ „Ah echt, bei euch auch?“ „Schließt doch mal ein Schwangerschaftstest-Abo ab.“ Danke für den Tipp, Freunde.

Sex ohne Hormone und Kondome

Irgendwann nervte das Thema „Was ist, wenn nochmal (ungeplanter) Nachwuchs kommt?” so sehr, dass eine Entscheidung hermusste. Die Fragen, die uns beschäftigten, waren vielschichtig: War unsere Nachwuchsplanung abgeschlossen oder wollten wir nicht doch nochmal den Zauber eines neugeborenen Kindes erleben? Unsere Tochter wünschte sich doch auch noch eine jüngere Schwester … Und was ist eigentlich mit der Glaubensebene? Etwas evangelikal geprägt war das durchaus eine Frage, ob man(n) sozusagen so drastisch in das Thema „Fruchtbarkeit“ eingreifen darf?! Stück für Stück merkten wir, dass wir als Familie und als Paar mit unseren Lebensplänen nicht mehr in Richtung Familienvergrößerung dachten, und so entschieden wir dankbar, dass wir unseren Lebensfokus auf andere Dinge als eine nochmalige Kleinkindphase legen wollten. Und ja, natürlich war auch Sex ein Thema. Wir spürten auch, wie uns die Unklarheit in dieser Entscheidung in diesem Bereich hemmte. Noch ein Grund zu handeln. Denn die hormonelle Behandlung bei der Frau schied aus. Kondom? Diese Entscheidung haben wir dann schon beim nächsten Mal bereut.

Die innerliche und dann auch physische Checkliste für mich und für uns wurde immer klarer:

Auf Sex ab Ende 30 verzichten: Nein.

Warten mit dem Sex, bis meine Frau in der Menopause ist (puh, könnte lang werden, sie war damals 36): Nein.

Frau soll Hormone schlucken, sich diese unter die Haut ballern oder Gerätschaften in die Gebärmutter einsetzen lassen (irgendwie wollte ich das auch nicht – und sie auch nicht, also): Nein.

Frau sterilisieren lassen – denkbar, aber nicht unaufwendig: Nein.

Mann sterilisieren lassen – viel einfacher, warum nicht?: Ja!

Gamechanger im Freundeskreis

Echt jetzt, als Mann sterilisieren lassen? Wer macht denn sowas? Ich weitete meinen Blick. Kenne ich jemanden, der das gemacht hat? Kenne ich jemanden, den das auch betreffen könnte? Der Gedanke war für mich ein Gamechanger in dem Spiel „Nachwuchsroulette”. Ich fragte rum in unserem Freundeskreis und siehe da, die Mehrheit in unserem Umfeld in der Lebensphase zwischen Mitte 30 bis Anfang 40 inklusive ein bis vier Kinder beschäftigen sich genau mit diesem Thema! Es war auf einmal gar kein Tabuthema mehr. Von daher: Redet mit euren Freunden über dieses Thema. Unsere Gespräche waren so unfassbar erfrischend. Was haben wir über die gleichen „Herausforderungen” miteinander gelacht!

„Ich kann’s auch mit verbundenen Augen, soll ich? Herr Kienbaum?” „Dr. Pullermann” steht vor mir mit einer kleinen Betäubungskanone, wenige Zentimeter von meinem Gemächt entfernt. „Machen Sie sich keine Sorgen”, so der Dr. weiter, „ich habe das über 10.000 mal durchgeführt, ich kann so einen Samenleiter zwei Meter entfernt, mit verbundenen Augen und leicht angetütert sauber durchtrennen.” Ich wollte immer wissen, wo meine persönliche Humorgrenze angesetzt ist – hier war sie erreicht und ich antwortete recht zurückhaltend, dass es mir lieber wäre, er würde auf Nummer sicher gehen. Keine 30 Minuten später war der Spuk vorbei und ich stand mit hochgezogener und geschlossener Hose, etwas wackelig und breitbeinig wieder auf der Straße und machte mich auf den Weg zu meinem Auto. Als Abschiedsgruß des Dr. hatte ich noch im Ohr: „Herr Kienbaum, uffm Rückweg holen sich zwee schöne kalte Flaschen Pils, eine für in den Körper und eine für an den Körper, und schonen Sie sich ein paar Tage. Und vergessen Sie nicht nach 30 Ejakulationen zur Nachkontrolle ’ne Probe abzugeben. Erst dann kriegen Sie ’ne Freigabe von mir. Melden Sie sich, wenn was ist, hier ist meine Nummer.”

Den restlichen Tag verbrachte ich mit Kühlpacks auf der Hängematte am Balkon mit Blick auf die Spitze des Berliner Fernsehturms. Apropos Spitze, richtig spitze und so richtig männlich war das Gefühl danach: Nämlich das Thema „Familienplanung” in Abstimmung mit meiner Frau total konstruktiv und in Eigenverantwortung übernommen und einen Weg gewählt zu haben, der für alle Beteiligten passt und sinnvoll erscheint. Danke an dieser Stelle an meinen Special Doc aus Berlin. Er ist ein Meister seines Fachs und der etwas derbe Berliner Humor hat mir sehr gutgetan. Ich gehöre zur Gattung Mann, die schon bei kleinsten Schmerzen heult und jammert (siehe Männergrippe und Zahnarzt), aber das Kopfkino vor dem Eingriff war um ein Vielfaches schlimmer als in der Realität.

Nicht schlimmer als die Männergrippe

Da wir jetzt schon (fast) Fachleute von „Samenleiterdurchtrennungen” sind: Meine gewählte Methode war die sogenannte „Non Skalpell Methode”. Vergnügungssteuerpflichtig ist die ganze Sache natürlich nicht. Mit ein paar Tagen ziehendem Schmerz in der Leistengegend und Druckempfindlichkeit der Hoden müsst ihr rechnen. Aber wer schon mal ’ne Männergrippe überstanden hat, wird hieran nicht verzweifeln. Versprochen! Mein Tipp an jeden Mann: Zieht diese Form der Verhütung ernsthaft in Betracht, lasst euch darauf ein, einmal komplett vorbehaltlos von Gesellschafts-, Gender- oder religiösen Rollenbildern darüber nachzudenken, und – ganz wichtig! – sucht euch einen Arzt und eine Durchführungsmethode, die zu euch passen. Und wenn Kopf und Herz dann zusammen unterwegs sind, dann zieht es durch, am besten gemeinsam im Freundeskreis, und danach: Feiert das Leben und genießt diese neue Art der Sexualität. Es lohnt sich! Und es hat meiner männlichen Identität keinen Abbruch getan.

Heiko Kienbaum ist Autor von „Was Paare glücklich macht”. Zusammen leiten er und seine Frau das C-STAB Werte-Netzwerk für christliche Therapeut:innen, Berater:innen und Seelsorger:innen und Coaches. c-stab.net

Weiterführende Quellen:

  • quarks.de/gesundheit/medizin/das-solltest-ueber-eine-vasektomie-wissen/
  • vasektomie-experten.de
  • vasektomie-experten.ch
Angst Gefühle Frau

Emotionales Judo: So gehen Sie richtig mit negativen Gefühlen um

Negative Emotionen wie Angst und Wut haben einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, sagen Psychologen. Denn: Sie signalisieren Probleme und können so zu einem besseren Leben verhelfen.

„Und morgen bringe ich ihn um!“ betitelte die langjährige Chefsekretärin Katharina Münk ihre Arbeitsbiografie über den Dschungel des deutschen Top-Management, wo neben echten und selbsterklärten Lichtgestalten auch Machiavellisten, Narzissten und Soziopathen unterwegs sind. „Und morgen bringe ich ihn um!“, werden auch manche kurz über Partner, Arbeitskollegen oder den eigenen Chef gedacht haben, um es zum Segen für den Auslöser dieses inneren Wutausbruchs und das eigene Lebensglück dann doch nicht zu tun.

Wut, Abscheu, Angst und Trauer. Das sind vier der wichtigsten Emotionen, die wir umgangssprachlich und auch die Psychologie im Fachbegriff als „negativ“ labeln. Natürlich kann uns auch die Freude überwältigen, doch damit haben wir meist selbst kein großes Problem und gesellschaftlich akzeptiert ist es auch.

Was aber machen wir mit unseren „negativen Emotionen“? Ausagieren? Uns darin suhlen? Wegdrücken? Wahrscheinlich kennen wir alle diese spontanen Reaktionen; haben schon erlebt und erlitten, dass uns keine dieser drei Strategien wirklich guttut. Die richtige Antwort lautet „Emotionales Judo“ oder wie es die Harvard-Psychologin Susan David nennt: „Emotionale Agilität“.

Endgegner Emotion?

Wenn wir einem übermächtigen Gegner begegnen, der viel stärker ist als wir selbst, hilft keine direkte Konfrontation, allenfalls Ergeben oder Davonlaufen. Oder aber wir nutzen wie die zierliche und agile Black Widow in den Marvel-Filmen, die Kraft dieses Gegners zu unserem Vorteil, um ihn mit Judo-Technik auszuschalten.

Nicht anders ist es mit unseren Emotionen. Auch diese sind so kraftvoll, dass sie uns zu Bestleistungen motivieren oder aber uns völlig lähmen oder zu unbedachten Kurzschlusshandlungen antreiben können.

Emotionen sind mächtig: Nicht umsonst sagen wir, dass uns Angst, Wut oder Trauer „überwältigen“ würden, so als seien unsere Gefühle übermächtige Kämpfer, die stärker sind als wir. Gleichzeitig begegnen uns Appelle wie „Sei doch nicht so emotional!“ oder „Bleiben Sie bitte sachlich!“, in denen Emotionen eher als hinderlich denn als hilfreich erscheinen.

Sind Emotionen also die „bad guys“ unserer Innenwelt? Nein im Gegenteil, unterstreicht der Neurologe Antonio Damasio und berichtet von Menschen, die aufgrund von Hirntraumata keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben: Diese finden trotz klarer und schlüssiger rationaler Überlegungen nicht mehr zu den einfachsten Entscheidungen.

Sein Fazit: Emotionen sind lebensnotwendig und unverzichtbare „Wegweiser“, um durchs Leben zu finden. Sollten wir dann nicht wenigsten versuchen uns auf die positiven Emotionen zu fokussieren? Nein, sagt die Harvard-Psychologin Susan David. Wer Emotionen ausagiert, sich ihnen in Gedanken hingibt oder innerlich wegsperrt, riskiert seine Gesundheit, verliert ihre motivierende Kraft und geht an der Fülle des Lebens vorbei. Was aber kann dann funktionieren?

Annehmen – Wahrnehmen – Lenken

Susan David hat für den gesunden Umgang mit Gefühlen eine Form des Emotionalen Judo entwickelt, die sie als Emotionale Agilität bezeichnet. Sie wendet sich entschieden gegen eine starre moralische Unterteilung von Emotionen in „positive“ und „negative“, die entweder zu fördern oder zu bekämpfen wären. Stattdessen plädiert sie für einen flexiblen oder eben „agilen“ Umgang mit diesen machtvollen Motoren unserer Innenwelt.

Ihr Rat ist es, die volle bewegende Kraft der Emotionen zu nutzen, ohne sie zu bewerten, zu verdrängen oder unkontrolliert nachzugeben. Vielmehr gilt es die Gefühle wie einen mächtigen Fluss als Kraftquelle zu erkennen, zu nutzen und zu lenken und so zum Erreichen der eigenen Ziele und Werte zu nutzen.

Diese Emotionale Agilität ist dabei keine Raketenwissenschaft, sondern ein einfacher innerer Prozess, der sich durch beharrliches Üben immer besser erlernen lässt. Die nötigen vier Schritte lassen sich sinnigerweise auch durch die Merkformel J.U.D.O. beschreiben:

  • J/a sagen zu der konkreten Emotion
  • U/nmittelbaren Impulsen widerstehen
  • D/urchschauen der Emotion
  • O/rientieren und Handeln nach den eigenen Werten

Was ist damit im Einzelnen gemeint?

Ja sagen

Unser Gehirn schleust jede unserer Sinneswahrnehmungen zunächst durch den „emotionalen Teil“ unseres Gehirns, das Limbische System. Anschließend landen diese dort, wo – bei den meisten hoffentlich – der Verstand sitzt, nämlich im Großhirn. Was hier so flapsig ausgedrückt ist, nennt der Nobelpreisträger Daniel Kahneman „schnelles Denken“ im Gegensatz zum verstandesmäßigen „Langsamen Denken“.

Anders als für besser wohlbedachte Lebensentscheidungen brauchen wir für überlebenswichtige Entscheidungen im Dschungel oder im Straßenverkehr (was häufiger der Fall ist) ein „schnelles Denken“, um scheinbare Gefahren abzuwenden. Auch wenn diese sich als ungefährlich erweisen sollten. Wer das Aufblitzen eines Lichtes, das in Wirklichkeit eine zufällige Spiegelung in der Rückscheibe ist, für die Lichthupe eines Lasters hält, wird diesen Irrtum wahrscheinlich überleben. Umgekehrt eher nicht.

Darum sind Angst und Wut, die beiden Signalemotionen für Gefahren, zusammen mit den anderen Gefühlen unserer Psyche so fest verdrahtet. Ohne bewusste Steuerung verursachen diese beiden Gefühle in unserer komplexen Welt der Neuzeit dann leider einen Dauer-Stress, der uns mental und körperlich krank machen kann. Ohne kreative Kontrolle bringen sie uns in Bedrängnis: Wenn wir aus Angst Arbeiten oder wichtige Gespräche vor uns herschieben oder bei Meinungsverschiedenheit im Privatleben und der Arbeitswelt „eskalieren“.

Also doch verdrängen, die Emotionen unter die Knute der Selbstbeherrschung zwingen? Eben nicht, meint Susan David, denn dann stehen uns die wertvollen Informationen, die unsere Gefühle mit sich bringen, und deren Energie nicht mehr zur Verfügung.

Darum empfiehlt sie, die Emotionen zunächst zu akzeptieren. Ja zu sagen dazu, dass die Emotion jetzt da ist, ohne sie zu zensieren. Im Gegenteil, je genauer wir sie benennen, desto genauer finden wir den Weg zur eigentlichen Ursache des Gefühls und die liegt nur zum Teil im Außen.

Doch um diesen Weg zu finden, braucht es zunächst eine Kontaktaufnahme; wie auch im Judo der Gegner (oder meist Partner) nicht freihändig geworfen werden, sondern erst ein enger Körperkontakt nötig ist. Und dann braucht es auch noch einen Zwischenschritt – die Impulskontrolle.

Unmittelbaren Impulsen widerstehen

Haben wir akzeptiert, dass wir in einer Situation starke Emotionen empfinden, geht es im nächsten darum, nicht die naheliegendste Reaktion zuzulassen. Die ist meist eine Form des Widerstandes oder der Flucht.

„Einem Druck gibt man nach, einem Zug geht man nach“, haben mich meine Judo-Meister gelehrt. Also einem Stoß keinen Widerstand entgegensetzen und einem Zerren nachgehen. Darum heißt es im Judo „Siegen durch Nachgeben“.

Ebenso können wir mit Gefühlen besser umgehen, wenn wir sie als Wegweiser betrachten, anstatt als konkrete Handlungsanweisungen. Wenn wir also auf Wut nicht sofort mit Angriff, auf Angst mit Flucht oder auf Trauer oder Abscheu mit Rückzug reagieren.

Dieses Innehalten braucht viel Übung, denn unsere Biologie legt eigentlich die Unmittelbarkeit von Reiz und Reaktion nahe. Bei uns Menschen gibt es zwischen Reiz und Reaktion einen Raum, in dem unsere menschliche Freiheit liegt. So formulierte es der Psychiater und Holocaust-Überlebende Viktor Frankl. Und schon der Apostel Paulus ermahnt die Griechen in Ephesos kurz nach der Zeitenwende: „Zürnt ihr, so sündigt nicht“.

Wie aber können wir diesen Raum zwischen Reiz und Reaktion einnehmen? Unser innerer Dialog kann hier eine Hilfe sein: Ich kann sagen „Ich bin wütend“ und mich so mit der Wut identifizieren und gleichzeitig den Anlass für die Wut tilgen. Oder ich sage „Dieser Satz, diese Tat MACHT mich wütend“ und habe mir damit zumindest den Blick auf die Situation bewahrt, anstatt mich der sprichwörtlichen „blinden Wut“ zu ergeben.

Mit der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg lässt sich diese Entkoppelung von Reiz und Reaktion noch einen Schritt weitertreiben. Wenn wir sagen „Wenn ich diesen Satz hören, diese Tat wahrnehmen, dann empfinde ich Wut“, lösen wir uns von dem unmittelbaren und wie wir gleich sehen werden nicht vollständigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang.

Susan David betont außerdem, wie wichtig es ist, das Gefühl möglichst genau zu benennen. So erkennen wir noch klarer, worauf die Emotion verweist. Das hilft dabei den nächsten Schritt zu gehen, nämlich hinter die Emotion zu blicken und Werte und Bedürfnisse zu erkennen.

Durchschauen der Emotion

Im Judo führt ein Schlag von oben letztlich auf den Boden und ein Judoka, der diesen Schlag nicht abwehrt, sondern aufnimmt, wird seinen Gegner in einer geschmeidigen Kreisbewegung zu Boden bringen. Genauso bei der Emotionalen Agilität, dem Judo mit Gefühlen.

Wenn wir etwa die Angst zulassen, im Beruf bei einer Präsentation zu versagen, können wir erkennen, was wir genau befürchten: Die Angst, zu spät zu kommen, die Technik könnte nicht funktionieren, wichtige Menschen könnten Einwände gegen bestimmte Ideen haben, die Liste ließe sich fortsetzen. Jedes Detail dieser angstmachenden Vorstellung kann zu einem Punkt auf einer Checkliste werden, die den Erfolg absichert. Wenn wir die Angst zulassen, können wir Fluchtimpulse wahrnehmen und in ein produktives Erkennen der möglichen Pannen umleiten.

Hinter der Angst, wie auch hinter den anderen Emotionen wie Wut, Abscheu oder Trauer stehen wichtige Bedürfnisse oder individuelle Werte, die zusammen mit der Situation die Emotion auslösen. Erst die Kombination von Situation und Werten gibt den Emotionen ihre „explosive“ Kraft. Haben wir den Zusammenhang und die Dynamik der Situation erkannt, können wir lenkend eingreifen. So nutzen wir den Schwung und die Energie der Emotion, um unsere Bedürfnisse und Werte zu verfolgen und zu verwirklichen.

Orientieren an den eigenen Werten

Viktor Frankls Satz vom Raum zwischen Reiz und Reaktion zeigt, dass wir diese Freiheit konstruktiv oder destruktiv nutzen können. Eine garstige Bemerkung des Partners kann in einem Streit enden oder darin, dass das schmutzige Geschirr, das den Anlass für die Bemerkung abgab, in einem dosierten Anfall von Arbeits-WUT in Windeseile gespült und verräumt ist.

Dazu braucht es Klarheit über und gelebte Orientierung an den eigenen Werten: Wer in der Beispielsituation den Ärger über das eigene schlechte Gewissen als solchen anerkennen und dem Partner ehrlich kommunizieren kann, der kann dann auch vorweg eine persönliche Erklärung dafür abgeben, wenn es anschließend beim Abspülen etwas lauter zugeht, und so weiteren Streit vermeiden.

Im Judo wird die Energie des Angriffs durch Nachgeben, Kontakt herstellen, Lenken und Weiterführen ausgenutzt und im Wurf in den Boden abgeleitet. Wenn wir entsprechend agil Emotionales Judo anwenden, dann bringen uns unsere starken schützenden Gefühle, die so leicht als negativ abgestempelt werden, in Kontakt mit dem, was uns am wichtigsten ist, sprich unseren Bedürfnissen und Werten. Und wenn wir diese mächtige emotionale Energie nicht durch Unterdrücken oder destruktives Ausagieren vernichten, gelingt es uns immer mehr ein emotional reiches Leben zu führen und unsere Bedürfnisse und Werte verwirklichen.

Anfangen!

Der Weg der Emotionalen Agilität lässt sich wie der sanfte Weg des Judo nicht durch Umlegen eines Schalters gehen, ebenso wenig wie sich der Jakobsweg durch Buchen einer Busreise zum Startpunkt in den französischen Pyrenäen gehen lässt. Das „DO“ in Judo steht im Japanischen für einen Übungsweg, den es lebenslang zu gehen gilt. Auch die Emotionale Agilität braucht Übung, wenn die emotionale Beweglichkeit erlangt und erhalten werden soll. Sinnigerweise steht „DO“ im Englischen auch für TUN. Darin liegt der Erfolg auf dem Weg, Emotionales Judo zu erlernen. Das bedeutet: Anfangen und durchhalten.

Michael Stief  (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Symbolbild: pixelfit / E+ / Getty Images

Brainstorming wird 80 – Warum der gefeierte Jubilar in den Ruhestand gehört

Unternehmensexperte Rainer Wälde hält Brainstorming für überschätzt. Er empfiehlt eine bessere Methode, um innovative Lösungen zu finden.

Brainstorming feiert in diesem Jahr bereits den 80. Geburtstag. 1942 veröffentlichte Alex F. Osborn sein Buch „How to Think Up“ und ermutigte dazu, das Gehirn zu stürmen, um neue Ideen zu generieren. Seitdem wird diese Methode in zahlreichen Firmen und Teams eingesetzt. Auch ich habe in meiner beruflichen Laufbahn an vielen Brainstorming-Sessions teilgenommen. Doch bereits seit 30 Jahren ist klar, dass Brainstorming nicht wirklich effektiv ist. 1991 haben Mullen, Johnson und Salas dazu eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht: Productivity Loss in Brainstorming Groups. Woran liegt es, dass es dennoch immer noch so beliebt ist?

Brainstorming: Einer redet

Ich persönlich glaube, dass dies an der Einfachheit liegt: Ein Moderator stellt eine Frage, alle Teilnehmer denken laut, niemand darf kritisieren. Das Gesagte wird protokolliert. Doch in der Praxis habe ich häufig beobachtet, dass bei mir und anderen Teilnehmern mehr Ideen sprudeln, als gesagt werden können. Häufig reden nur die Extrovertierten, die Gedanken der eher Stillen finden wenig Raum.

Etliche Jahre war ich auch als Firmenbeirat in verschiedenen Unternehmen eingeladen. Ich erinnere mich sehr gut an die Brainstorming-Runden in einem Verlagshaus. In dieser Runde entstanden sehr viele Ideen für neue Bücher und neue Autoren. Doch in den folgenden Monaten hatte ich nicht den Eindruck, dass diese zumindest teilweise auch umgesetzt wurden. Zu viel kreatives Potenzial ging verloren. Das hat mich als Teilnehmer frustriert. Kürzlich habe ich einen sehr interessanten Beitrag im „Magazin für Neue Arbeit“ gefunden. Die Neue Narrative #14 zitiert den Sozialpsychologen Stefan Schulz-Hardt: „Menschen genießen die soziale Situation, die beim Brainstorming entsteht, überschätzen dabei aber das Ergebnis und den Anteil ihrer eigenen Ideen.”

Brainwriting: Alle sprudeln vor Ideen

Als Alternative stellen die Autoren das Brainwriting vor. Statt zu reden, schreibt jeder in der Stille seine Ideen auf. Diese Post-its werden dann an ein Board geklebt und in der zweiten Phase können die anderen Teilnehmer diese Ideen weiterspinnen.

Nun muss ich zugeben, dass meine Frau und ich diese Methode schon seit 21 Jahren regelmäßig praktizieren, allerdings kannten wir damals den Begriff „Brainwriting” noch nicht. Seit der gemeinsamen Gründung unserer Akademie 2001 schreibt jeder für sich seine Ideen zuerst alleine auf Pin-Kärtchen, dann clustern wir diese Ideen und entwickeln daraus unsere private und berufliche Strategie.

Auch bei meinen Büchern arbeite ich seit zwei Jahren mit dieser Methode. Ob Roman oder Ratgeber – ich notiere alle Ideen zuerst auf Haftnotizen. Dann entwickle ich an der Wand in meinem Büro die gesamte Gliederung des Buches. Mit dieser Methode des Brainwritings gelingt es mir, innerhalb von acht Wochen die Rohfassung eines neuen Romans zu schreiben. Anschließend diskutiere ich mit drei Testlesern den Entwurf – auch das gehört zu diesem Gruppenprozess. Ihr Feedback hilft mir dann, die finale Fassung zu erstellen.

Ich bin überzeugt, dass eine gute Mischung aus Einzelarbeit in der Stille und co-kreativer Zusammenarbeit im Team zu guten Ergebnissen führt. Nehmen Sie sich die Zeit, um alleine über die eigentliche Frage nachzudenken, für die Sie eine Lösung suchen. Was ist der Kern des Problems? Notieren Sie Ihre Gedanken auf bunten Haftzetteln und sortieren Sie diese anschließend auf einem Board, an einem Fenster oder einer Zimmertür. Beteiligen Sie Kollegen aus Ihrem Team oder externe Berater und diskutieren Sie Ihre ersten Ideen und Lösungsansätze. Ich bin mir sicher, dass Sie in dieser Mischung erstaunlich innovative Ideen und Lösungen finden.

Rainer Wälde leitet mit seiner Frau die Gutshof Akademie bei Kassel. Als Autor hat er 30 Bücher veröffentlicht. Zuletzt die erfolgreiche Krimi-Reihe um Kommissar Timo von Sternberg. www.nordhessenkrimi.de

Nelson Müller (Foto: Nina Stiller Photography)

Starkoch Nelson Müller ließ sich mit 34 Jahren adoptieren

Der Schwabe Nelson Müller ist bekannt als Gastronom, Sterne- und TV-Koch. Ein Gespräch über seine Leidenschaft für gutes Essen, seine Frikadelle für die Queen und seine Familiengeschichte.

Her Müller, was mögen Sie lieber: Maultaschen und Kartoffelsalat oder Linsen mit Spätzle und Saitenwürstchen?

Nelson Müller: (lacht) Schwierige Frage. Beides ist so lecker. Ich möchte auf beides nicht verzichten.

Welches Essen haben Sie als Kind gar nicht gemocht?

Müller: Erbsen und Möhren. Damals gab es dieses Gemüse allerdings auch nur aus der Dose und hatte nichts mit dem frisch gekochten Gemüse zu tun. Auch um Zucchini habe ich zum Leidwesen meiner Mutter einen großen Bogen gemacht.

Wurde Ihnen die Leidenschaft für gute Gerichte schon in die Wiege gelegt?

Müller: Kulinarik war Teil meiner Lebenskultur. Wir haben als Familie immer zusammen gegessen. Am Mittagstisch, beim Abendessen war gutes Essen immer ein Thema.

Das kocht Nelson Müller am liebsten

Wann war Ihnen klar: Ich werde Koch?

Müller: Mit sechs, sieben Jahren war der Wunsch eigentlich schon da.

Welche Gerichte kochen Sie am liebsten und warum?

Müller: Die klassische Küche steht bei mir ganz oben an. Hausmannskost ein bisschen upgegradet, ein bisschen schicker, finde ich spannend und lecker.

Was kocht sich Nelson Müller privat? Oder bleibt die Küche abseits des Berufes kalt?

Müller: (lacht) In der Tat bleibt der Herd zu Hause meist aus, da ich in der Küche mit meinem Team, meinen Gastgeberinnen und Gastgebern esse. Das macht Spaß. Wir kochen immer frisch.

„Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen“

Wann sind Sie als Koch glücklich?

Müller: Wenn es ein guter Abend war mit guten Gästen, wir gut als Mannschaft performt haben. Es beflügelt mich, wenn Energie in der Luft liegt, der Laden brummt, richtig was aus der Küche rausgeht, flotte Sprüche zwischen den Teams hin- und herfliegen.

Geht die Gleichung „lecker gleich aufwendig und kompliziert“ Ihrer Überzeugung nach auf? Verraten Sie uns mal Ihre Kochphilosophie.

Müller: Die Mischung macht’s. Es darf auch mal etwas Aufwendiges sein, dann aber auch wieder etwas überraschend Einfaches. Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen. Es gibt einfach Gerichte, die sind so, wie sie sind, lecker, da muss man sich eher in der Kunst des Weglassens üben.

Warum muss es Ihrer Überzeugung nach auch bei Männern nicht immer nur Fleisch, Fleisch, Fleisch geben?

Müller: Wir tun gut daran, wenn wir etwas für unsere Gesundheit tun. Wir essen zu viel Fleisch. Mit reduziertem Fleischkonsum können wir etwas zum Klima- und Umweltschutz beitragen. Mein Credo lautet: lieber weniger, dafür Qualität. Auch hier heißt es für mich: Abwechslung in die Mahlzeiten bringen. Ich bin so aufgewachsen, da gab es nicht jeden Tag Fleisch. Da kamen auch Pfannkuchen, Nudelgerichte, Suppen, Grünkohlbratlinge auf den Teller.

Die Queen zu Gast

Sie haben für Ihr Kochen einen Michelin-Stern erhalten. Wie fühlte es sich an, als Sie davon erfuhren?

Müller: Das war ein überwältigendes Gefühl! Ich habe lange Zeit in der Sternegastronomie gearbeitet und deshalb war es natürlich auch immer mein Ziel, das auch selbst zu erreichen. Ich hatte es gar nicht für möglich gehalten.

Ist es schwieriger, Sternekoch zu werden oder es zu bleiben?

Müller: Ich glaube, es ist schwieriger, es zu werden. Man muss ja erst mal die Tester überzeugen.

Sie haben auch schon für die jetzt verstorbene Queen gekocht. Wie war das?

Müller: Die Queen hatte sich für einen Besuch in Düsseldorf angekündigt. Klar, das riesige Buffet für solch einen hochkarätigen Gast musste mehr als perfekt sein. Wir haben uns eine Woche lang vorbereitet. Ich war unter anderem für die Frikadellen zuständig. Eine dieser Köttbullar hat die Königin gegessen. Ob es ihr geschmeckt hat, weiß ich nicht. Der Rummel um dieses Essen war jedenfalls gigantisch und aufregend.

Vater Müller als Vorbild

Als Sie auf Sylt die Ausbildung in einem Restaurant begannen, hat man Sie am ersten Tag an die Spüle geschickt, weil man Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe für einen Küchenhelfer hielt. Wie gehen Sie mit dieser Art Rassismus um?

Müller: Inzwischen rede ich nicht mehr über das Thema. Das schwebt bei mir nicht oben drüber. Wir sind eine bunte Gesellschaft. Das ist normal. Punkt. Ich spreche lieber über die Küche, gute Kochbücher, mein Unternehmersein.

Mit vier Jahren kamen Sie in eine deutsche Pflegefamilie. Wie haben Sie Ihren Pflegevater erlebt? Stand dieser auch am Herd?

Müller: Natürlich. Er stand am Herd und am Grill. Meine Eltern waren sehr aufgeklärt und modern. Dies wurde uns auch vorgelebt. Da lernte ich schon, dass Männer im Haushalt helfen, Staub saugen, Küche putzen, Müll rausbringen.

Was sind Eigenschaften, die Sie in erster Linie mit Ihrem Vater verbinden, Werte, die er Ihnen vermittelt hat?

Müller: Mein Vater ist ein sehr zurückhaltender Mensch. Er atmet das Credo: Wer etwas zu sagen hat, muss nicht laut sein. Er konnte sich auch in die zweite Reihe stellen und da etwas bewirken. Er ist Jahrgang 1935 und hat dadurch eine ganz andere Beziehung zu Lebensmitteln und dem Alltagsleben. Jedes Brot wurde gesegnet, vor jedem Essen wurde gebetet. Sauberkeit war für ihn ein wichtiges Thema. Er war als Junge in einem katholischen Knaben-Gymnasium und hatte deshalb schon eine genaue Vorstellung, wie ich mich benehmen sollte. Vater hat als Ingenieur viel Wert auf meine Bildung, mein Allgemeinwissen, meine Sprache gelegt. Das waren wichtige Gesprächsthemen am Essenstisch.

Konflikthemen zwischen Vater und Sohn

Gab es spezielle Sachen, die Sie nur mit Ihrem Vater gemacht haben?

Müller: Wir hatten einen Gemüsegarten. In dem haben wir viel zusammen gearbeitet. Das war für ihn ein Ausgleich zum Alltag. Sonntags sind wir gemeinsam in die Kirche gegangen. Und wir haben viel miteinander musiziert.

Vermutlich gab es in Ihrer Vater-Kind-Beziehung auch Konflikte. Woran haben Sie sich gerieben?

Müller: Ich bin mit der Hip-Hop-Kultur groß geworden. Das war meinem Vater manchmal zu modern. Ich bin zudem von meinem Naturell her Künstler und Musiker. Mein Vater hingegen der klassische Mathematiker. Das sorgte schon für Reibungsenergie, aber heute rettet mich sein Training. Gerade als Unternehmer benötige ich Struktur und kaufmännisches Wissen. Das zahlt dann auf das ein, was er gut findet. (lacht)

Und heute?

Müller: Ist er mir auch als 87-Jähriger ein wertvolles Gegenüber auf Augenhöhe. Er steht hinter mir, stärkt mir den Rücken. Ist stolz auf mich und sagt mir: Nelson, gut gemacht!

„Schwabe mit ghanaischen Wurzeln“

Mit 34 Jahren haben Sie sich von Ihren Eltern adoptieren lassen. Wieso war Ihnen das zu dem Zeitpunkt wichtig?

Müller: Ich habe mich immer von Herzen als ein Müller gefühlt. Wir haben es 30 Jahre gelebt, aber nicht auf dem Papier vollzogen. Mir war es wichtig, das jetzt auch in Form zu gießen und zu signalisieren: Ich gehöre ganz zur Familie.

Müller ist ja sozusagen der deutscheste aller deutschen Namen. Gibt es Eigenschaften, die Sie an sich erkennen, die Sie als typisch deutsch oder gar schwäbisch einschätzen – und umgekehrt Eigenschaften, die so gar nicht dem Klischee des Deutschen oder Schwaben entsprechen?

Müller: Ich bin Schwabe mit ghanaischen Wurzeln. Viele, die mich kennen, sagen: Du bist sehr deutsch. Aber auch die afrikanischen Wurzeln kommen mir zugute: Lockerheit. Sich mit anderen freuen, ihnen etwas gönnen. Dankbarkeit. Ich muss nicht alles so ganz genau nehmen.

Könnte aber beim Kochen schiefgehen …

Müller: (Lachen, gespielt energisch) Da halte ich mich natürlich ganz genau ans vorgegebene Rezept. Im Ernst: Beim Kochen kann ich es auch genau nehmen. Ich kann aber auch mal fünf gerade sein lassen.

„Ich bin Christ“

In der RTL-Aufführung „DIE PASSION“ haben Sie Fladenbrot und Currywurst fürs letzte Abendmahl verkauft. Spielt der christliche Glaube auch in Ihrem wirklichen Leben eine Rolle?

Müller: Ich bin Christ. Ich beschäftige mich damit. Es geht darum, dass wir gute Spuren hinterlassen. Ehrfürchtig sind, verantwortungsvoll vor Gott leben im Sinne von: Was wir von anderen erwarten, ihnen auch zu tun. (Anm. d. Red.: die Goldene Regel aus Matthäus 7,12)

Home-Office. 13:02 Uhr. In einer halben Stunde stehen die hungrigen Kinder vor der Tür. Was würde Nelson Müller auf den Tisch zaubern? Wobei könnte mir Ihr neues Kochbuch helfen?

Müller: (lacht) Verblüffen Sie Ihre Kinder mit Deutschem Döner. Döner einmal anders. Das schmeckt mega!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Nelson Müller hat sich schon einmal von der Nordsee bis zu den Alpen durch deutsche Restaurants gekocht. Seine aktuelle Heimat hat der Sternekoch in Essen gefunden. Dort führt er zwei Restaurants, macht nebenbei Musik und tritt in TV-Sendungen auf. Aufgewachsen ist der fröhliche Koch mit ghanaischen Wurzeln in Stuttgart und somit tief verwurzelt in schwäbischer Hausmannskost. nelson-mueller.de Sein aktuelles Kochbuch ist erschienen mit dem Titel „Gutes Essen – Nachhaltig, saisonal, bewusst“ (DK Verlag).

DEUTSCHER DÖNER

Döner Kebab, das »sich drehende Grillfleisch«, ist seit den 70er-Jahren auch in Deutschland ein beliebter Imbiss. Der Drehspieß mit gewürzten Fleischscheiben – ursprünglich Lamm, aber inzwischen oft auch Rind, Schwein oder Geflügelfleisch – ist ein fester Bestandteil der Fastfood-Szene geworden. Die Leberkäse-Variante ist ein Running Gag bei mir im Lokal – wenn’s schnell gehen soll, bestelle ich mir einen »Deutschen Döner« auf die Faust.

ZUBEREITUNG:

1. Für den Weißkohlsalat den Weißkohl in dünne Streifen schneiden und mit Salz, Pfeffer und Zucker würzen.
2. Essig und Öl zugeben und gut durchkneten. Eine halbe Stunde ziehen lassen.
3. Für die Mayonnaise den Sojadrink mit dem Senf und den Gewürzen in ein hohes Gefäß geben.
4. Mit dem Stabmixer gut durchmischen, nach und nach das Rapsöl untermixen.
5. Mit dem Bieressig abschmecken.
6. Für den Döner die Gurke fein hobeln, den Eisbergsalat in grobe Streifen schneiden, die rote Zwiebel schälen und in feine Streifen schneiden, die Tomate in Scheiben schneiden.
7. Den Leberkäse in Öl anbraten.
8. Die Laugenbrötchen halbieren, die untere Hälfte mit dem Eisbergsalat belegen und mit der Senf-Bier-Mayonnaise beträufeln.
9. Den Leberkäse auflegen, mit Weißkohlsalat, Tomate, Gurke und Zwiebelscheiben belegen und den Deckel auflegen.

WEISSKOHLSALAT

  • 120 g Weißkohl
  • 10 ml Bieressig
  • 30 ml Rapsöl
  • Salz, Pfeffer, Zucker

SENF-BIER-MAYONNAISE

  • 100 ml ungesüßter Sojadrink, zimmerwarm
  • 2 EL süßer Senf
  • 1 TL Senfpulver
  • Salz, Pfeffer
  • 1 Msp. gemahlener Kümmel
  • 1 Msp. Chilipulver
  • 3 Msp. Chiliflocken
  • 160 ml Rapsöl
  • 3 EL Bieressig

DÖNER

  • Salatgurke
  • 4 Blätter Eisbergsalat
  • 1 rote Zwiebel
  • 1 Tomate
  • 4 große Scheiben Leberkäse
  • 10 ml Rapsöl
  • 4 Laugenbrötchen
Symbolbild: krakenimages / Unsplash

Warum das 80:20-Prinzip ein Update braucht

Die 80:20-Regel führt nicht automatisch zum Erfolg. Dazu braucht es das 40-20-40-Prinzip als Ergänzung. Wie das Ihre Effektivität maximiert, verrät Coach Michael Stief.

Das 80:20-Prinzip meint die Beobachtung, dass in einer großen Anzahl von Fällen 80 Prozent einer Leistung schon mit 20 Prozent des Aufwandes erreicht werden. Dieses Prinzip ist zu der Faustregel schlechthin für zeitökonomisches Handeln geworden. Die 80:20-Regel hat aber noch eine eher unbekannte Schwester, die 40-20-40-Regel, die die Effizienz durch Effektivität komplettiert.

Von der ungleichen Landverteilung zur Faustregel für Effizienz

Beschrieben hat den 80:20-Effekt der Italiener Vilfriedo Pareto (1848–1923). Daher ist dieser Zusammenhang auch als Pareto-Prinzip bekannt. Pareto war Ökonom und stellte fest, dass im Italien seiner Zeit 80 Prozent der privaten Landfläche im Besitz von 20 Prozent der Bevölkerung waren.

Leider verbreitete sich durch Paretos Entdeckung des 80:20-Prinzips nicht die Frage nach der gerechten Verteilung von Gütern. Stattdessen war es die teils richtige, teils unsinnige Idee, dass sich in allen wirtschaftlichen Zusammenhängen und Prozessen diese magische Formel anwenden ließe.

Einfach machen, statt Perfektion anzustreben

Praktisch gesehen lässt sich das 80:20-Prinzip sinnvoll nutzen, wenn es darum geht, mit begrenzten Mitteln ein Ziel zu erreichen. Beispielsweise beim Erstellen einer Präsentation, die sich in kurzer Zeit in brauchbarer Qualität erstellen lässt. Oder auch beim Schreiben, wo der „shitty first draft“, der „schlechte erste Entwurf“ auch schnell auf dem Papier oder in der Maschine ist. Selbst beim wöchentlichen Hausputz lässt sich eine akzeptable Ordnung und Sauberkeit in 20 Prozent der Zeit herstellen, die für einen kompletten und gründlichen Frühjahrsputz notwendig wäre.

Aber genau da steckt der Teufel im Detail, nämlich genau in den Details, die für ein gutes oder gar „perfektes“ Ergebnis (wenn es denn annähernd so etwas geben kann) nötig sind. Das Pareto-Prinzip prophezeit nämlich gerade, dass für ein ganz bestimmtes Ergebnis eben auch viermal so viel Zeit notwendig ist wie für den ersten Entwurf. Oder auch, dass bei einer Prüfung bei 20 Prozent Zeiteinsatz eben auch nur die Note befriedigend erwartet werden kann. (Was natürlich in dieser Unmittelbarkeit Unsinn ist, aber Sie verstehen die Idee.)

Zusammengenommen ist das Pareto-Prinzip im besten Fall eine Daumenregel, um sich vor Perfektionismus zu hüten und mit wirtschaftlichem Aufwand zu einer brauchbaren Lösung zu gelangen. Im schlechtesten Fall führt es zu Pfusch oder zu einer ungesunden Arbeitsverdichtung in der Annahme, die Zeit jenseits der magischen 20-Prozent-Grenze ließe sich irgendwie einsparen.

Die richtigen Dinge tun

Das Pareto-Prinzip beantwortet die Frage, welchen Aufwand und Zeiteinsatz wir sinnvollerweise in eine Aufgabe stecken sollten. Dabei bleibt offen, was in dieser Zeit zu tun ist. Beim Software-Engineering wird das mit einer einprägsamen Merkformel gesteuert. Hier gibt es die 40-20-40-Formel, die, anders als das Pareto-Prinzip, außerhalb der Industrie leider kaum bekannt ist.

Einfach gesprochen empfiehlt dieses Vorgehen 40 Prozent des Aufwandes in die Zieldefinition zu stecken, 20 Prozent in die Umsetzung und 40 Prozent in den Test, ob die Software fehlerfrei funktioniert. Während also das Pareto-Prinzip die Effizienz steigert, fördert das 40-20-40-Prinzip die Effektivität. Nicht Schnelligkeit oder Begrenzung des Aufwandes stehen im Vordergrund, sondern ein möglichst genaues Verständnis der Lage, des Ziels und der Genauigkeit der Zielerreichung.

Auf andere Bereiche übertragen

Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass bei ungenauer Problemanalyse oder unzulänglicher Ergebniskontrolle erhebliche Fehler auftreten können. Diese können bei entsprechend kritischen Computeranwendungen in medizinischen Geräten etwa fatale Folgen haben. Es lässt sich leicht ahnen, dass sich diese Vorgehensweise ebenfalls sinnvoll auf andere Felder übertragen lässt.

Zum Beispiel auf die Charakterentwicklung: So lässt sich dieses Prinzip etwa in der Beichtpraxis der katholischen Kirche wiederfinden. Die Zehn Gebote definieren konkrete Ziele für eine gesunde menschliche Entwicklung. Zum Beispiel die Wahrheit zu sagen, die eigenen und fremden Grenzen zu achten und so weiter. Im Alltag werden diese Prinzipien umgesetzt – oder auch nicht. In der Beichte erfolgt dann die Fehlerprüfung, das „debugging“, mit dem Vorsatz diese Fehler in Zukunft zu beseitigen. Auch bei mir im Führungskräfte-Coaching hat sich dieses dreigliedrige Struktur in Form von Standortbestimmung/Zielbildung, Umsetzung und Feedback bewährt.

Zweimal messen, einmal schneiden

Die treffendste Beschreibung dieser Effektivitäts-Regel habe ich einmal von einem Schreiner gehört: Zweimal messen, einmal schneiden! Der meinte zwar mit „zweimal Messen“ eher das genaue Maßnehmen, aber beim 40-20-40-Prinzip geht es genau darum:

  • Einmal messen, das heißt: Genau analysieren, was wir erreichen wollen. Wie genau ist die Lage? Wer ist betroffen und wie? Was ist der Kern des Problems?
  • Dann die passenden Maßnahmen durchführen. Hier investieren wir 20 Prozent Ihrer Ressourcen (Zeit/Geld).
  • Zuletzt wieder messen, das heißt: Überprüfen, ob das gewünschte Ergebnis erreicht wurde, was nicht funktioniert hat und warum. Außerdem mögliche nächste Schritte einleiten, um das gewünschte Ergebnis doch noch zielgenau zu erreichen.

Verbinden wir das 80:20 Prinzip für „gesunde Selbstbeschränkung“ und das 40-20-40-Regel für die Zielgenauigkeit und die Effektivität einer Problemlösung, erreichen wir das optimale Ergebnis. Dann werden wir künftig nicht nur die Dinge richtig tun, sondern auch öfter die richtigen Dinge.

Michael Stief  (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).