Stress lass nach! So gelingt ein gesunder Umgang mit Stress
„Ich bin im Stress!“, antworten wir manchmal voreilig auf die Frage, wie es uns geht. Aber was ist Stress eigentlich? Und vor allem: Was hilft wirksam gegen Stress?
STRESS IST NICHT NUR EIN WORT
Ständige Beschleunigung und eine wachsende Unsicherheit über den Erfolg der Arbeit sind die beiden hervorstechenden Merkmale der modernen Arbeitswelt. Die klare Vorstellung eines „Tagwerkes“ stand in der vorindustriellen Gesellschaft noch für ein Zeitmaß und gesundes Tagesziel, nämlich für die Ackerfläche, die ein Mensch an einem Tag bearbeiten konnte. Heute ist unsere Arbeitswelt von Unsicherheit geprägt, Ziele sind häufig vage und widersprüchlich, die wirtschaftlichen und technischen Zusammenhänge und die Zusammenarbeit im Team immer öfter komplex.
Diese vier Phänomene, Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität, sind die Säulen einer Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftwelt, die deswegen auch VUKA-Welt heißt. Jeder dieser Faktoren aber steigert die Unsicherheit für erfolgreiches Handeln, die Möglichkeit eines Scheiterns oder Versagens und das macht Angst. Aber Angst ist nicht nur Gift für effektives Arbeiten, Angst ist auch Gift für unseren Körper und das liegt genau an der biologisch uralten Stress-Reaktion, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben.
WAS IST STRESS?
Stress hatten schon die Neandertaler und unsere Vorfahren die Ur-Menschen, nur der Begriff dafür ist modern. Dieser kam so richtig erst Anfang des 20. Jahrhunderts auf, wurde dann aber immer populärer bis er dann in den neunzehnachtziger Jahren „viral ging“. Zu dieser Zeit unterstrichen manche ihre eigene Wichtigkeit und Geschäftigkeit mit dem Spruch „Ich bin im Stress“.
Mit „Stress“, einem Begriff aus der Werkstoffkunde, bezeichnete der Mediziner Hans Selye in den 1930er Jahren die unwillkürlichen Reaktionen des menschlichen Körpers auf Bedrohungen und Belastungen. Diese Reaktion hatte zuvor der Biologe Walter Cannon nach ihrem Zweck als Kampf-oder-Flucht-Reaktion beschrieben.
Wenn wir im Alltag von Stress reden, meinen wir aber selten die Lawine von Stoffwechselveränderungen, die unser Gehirn in der Folge von Bedrohungsreizen durch unser autonomes Nervensystem und eine Flut von Hormonen in Gang setzt.
ALARMSIGNALE ALS STRESS-AUSLÖSER: STRESSOREN
Wir meinen eher die auslösenden Reize, die sog. „Stressoren“ oder Stress-Faktoren. Dies sind 21. Jahrhundert nicht mehr der Anblick eines Säbelzahntigers, wie bei den Urmenschen, und auch seltener reale Bedrohungen. Heute spielen äußere und innere mentale Bedrohungsszenarien eine größere, aber nicht weniger schädliche Rolle.
Die Psychiater Holmes und Rahe stellten schon 1967 eine Liste von 43 Faktoren zusammen. Darunter stellt nur einer, nämlich eine Verletzung oder Krankheit, eine reale Bedrohung dar. Den größten, fast doppelt so großen, Stress verursacht dagegen der Tod des Lebenspartners. Selbst erfreuliche Ereignisse wie Familienzuwachs oder ein großer persönlicher Erfolg und die damit verbunden Veränderungen können Stress auslösen.
Dabei ist die Stressreaktion nicht immer ein negativer „Disstress“, wie es Selye nannte. In einer realen Bedrohung ist die Stressreaktion angemessen und ermöglicht Flucht oder Kampf. In der richtigen Dosis verhilft sie als „Eustress“ bei Herausforderungen wie einem sportlichen Wettkampf, auf einer Bühne oder in einer Prüfungssituation sogar zu Höchstleistungen. Mehr noch, wenn wir große Herausforderungen als bewältigbar und uns selbst als handlungsfähig empfinden, erleben wir in optimalen Fall sogar ein positives „Aufgehen im Tun“. „Flow“ nennt der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi diesen Zustand und das damit verbundene nachfolgenden Glücksgefühl.
Unserem Gehirn und unserem Körper aber sind die Feinheiten dieser Stressoren jedoch ziemlich egal: Reiz-Verarbeitung und die Reiz-Reaktion laufen im Wesentlichen immer gleich ab. Egal, ob es sich um eine unmittelbare Gefahr, eine mittelbare Bedrohung, eine Angst oder eine Herausforderung handelt.
DIE STRESS-REAKTION: UNSER BIOLOGISCHES ERBE
An Anfang der Stress-Reaktion steht die Überraschung. Unser Körper und unsere Psyche sind biologisch auf möglichst gleichförmige Rahmenbedingungen ausgelegt: Solange in unserer Umgebung scheinbar alles gleich abläuft, bleiben Körper und Geist in Ruhe. Sobald aber markante Veränderung auftreten, etwa laute Geräusche, grelle Lichtblitze oder plötzliche Stöße, bewertet unser Nervensystem diese Reize, bevor wir die Situation überhaupt bewusst erfassen.
Verantwortlich dafür ist im Gehirn die Amygdala, der Mandelkern. Sie überprüft blitzschnell alle Reize auf die Frage „Will mich hier etwas fressen oder gibt es hier etwas zu fressen?“ Hat die Amygdala eine scheinbare Gefahr erkannt (wobei sie hier aus Überlebensgründen pessimistisch vorgeht) stößt sie über das autonome Nervensystem und Hormone wie das Adrenalin und Cortisol die körperliche Stress-Kaskade an:
- der Herzschlag beschleunigt sich
- der Blutdruck steigt
- die Muskeln werden stärker durchblutet
- Blutzucker wird freigesetzt
- die Verdauung wird gehemmt
Der Körper macht mobil für eine physische Höchstleistung. Ist er in einer realen Gefahr, dann hat er danach alle Ressourcen parat, um zu fliehen oder ihr entgegenzutreten: Maximale Energie und Fokus.
Doch reale Gefahren sind heute viel seltener. Unsere häufigsten Stressoren sind andere.
STRESS-REAKTION IM 21. JAHRHUNDERTS
Die Anzahl der Konfrontationen mit Säbelzahntigern beträgt heutzutage null, nicht aber die mit Terminen, Problemen oder Mitmenschen. Natürlich gibt es auch heute noch grundlegende äußere und innere Stressoren. Umweltfaktoren wie extreme Temperaturen, schwierige Arbeitsbedingungen, zwischenmenschliche Probleme, finanzielle Sorgen oder dramatische Lebensereignisse oder körperliche und seelische Beschwerden und Krankheiten.
Dagegen ist das Spektrum der externen und internen Stressoren breiter geworden: Straßenlärm, Luftverschmutzung, Anonymisierung von Leben- und Arbeitswelt, zwischenmenschliche Konflikte oder Arbeitsplatzunsicherheit, besonders aber alle Formen von Arbeitsverdichtung, Vertriebsdruck oder erfolgsunsicherer Entwicklungsarbeit usw.
Diese „neuen“ Stressoren haben so zugenommen, dass sich laut einer deutschen Studie aus 2016 etwa 82% der Menschen zwischen 30 und 39 regelmäßig gestresst fühlten. Die häufigsten Ursachen dabei waren:
- die Arbeit
- hohe Ansprüche an sich selbst
- Termine und Verpflichtungen in der Freizeit
- Straßenverkehr
- Ständige Erreichbarkeit
Mobilität, Vernetzung und die Vielfalt einer multi-kulturellen, multi-optionalen Welt verursachen immer häufiger soziale Konflikte. In der Arbeit wachsen Unsicherheit, Zeitdruck und Verantwortung. Familiäre Bindungen werden überdehnt. Hinzu kommen immer höhere eigene und fremde Ansprüche, Perfektionismus und die immer anspruchsvolleren Ziele einer global vernetzen Gesellschaft, die Sorgen, Selbstzweifel und negative Gedankenmuster befeuern können.
WAS BEWIRKT DAUER-STRESS?
Mit Stress in Maßen kommen unser Körper und unsere Psyche eigentlich ganz gut klar: Die Stress-Reaktion soll ja ein Überleben in Notsituationen überhaupt erst ermöglichen. Doch auch hier liegt der Unterschied zwischen Medizin und Gift in der Dosis.
Die Notfallmaßnahmen, die unser Körper einleitet, um eine körperliche Maximalleistung zu ermöglichen, sind nicht geeignet für die Anforderungen einer sitzenden Tätigkeit. Ein Blutzuckerspiegel, Atemrhythmus und Herzschlag, der uns zu einem Hochleistungsprint befähigen würde, und eine Tunnelwahrnehmung, bei der unser Denken weitgehend ausgeschaltet sind, sind für eine Büro- oder Kreativtätigkeit kontraproduktiv und dauerhaft schädlich.
Unserem Körper ist das aber egal. Er durchläuft bei anhaltenden Stressoren immer wieder die unmittelbare Alarmreaktion und geht nach einiger Zeit in eine Widerstandsphase über, um sich an den chronischen Stress anzupassen, bis schließlich eine Erschöpfungsphase erreicht wird, in der das Immunsystem und die Psyche angegriffen werden. Die Folgen sind ein Spiegel der fortwährenden Notfallmaßnahmen:
- Angstzustände bis hin zu Depression und Burn-out
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Verspannungen und Kopfschmerzen
- Atemnot / Asthma
- Krankheiten der Verdauungsorgane
ERSTE HILFE GEGEN STRESS
Was aber hilft uns gegen dieses biologisch-festgelegte düstere Horror-Szenario?
Eines vorweg: Hinter individuellem Stress-Erleben können auch medizinische und soziale Gründe stehen, die professionelle Hilfe erfordern: Wenn einer dauerhaften Überforderung eine reale Depression zugrunde liegt, objektiv überfordernde Arbeitsbedingungen einen Burn-out befördern, eine toxische Beziehung Dauerstress auslöst oder im Arbeitsumfeld Mobbing durch ein Team oder eine Führungskraft auftritt. Im Verdachtsfall ist daher das Gespräch mit medizinischen, psychologischen oder arbeitsrechtlichen Fachkräften unersetzlich.
Sonst hilft uns das Wissen und das Verständnis über diesen biologischen Vorgang. Unsere moderne Arbeitswelt ist gerade einmal hundert, vielleicht 200 Jahre alt. Unser Körper aber ist für Lebensumstände optimiert, die über viele tausend Jahre grundlegend die gleichen waren. Entsprechend helfen folgende Sofort-Maßnahmen.
- Stress ausagieren. Die Aktivierung, der Blutzucker und das Adrenalin wollen genutzt und verbraucht werden. Bitten Sie die Menschen im Umfeld um einen „timeout“ und verschaffen Sie sich Bewegung. Dazu gehört auch jede Form von „Ausgleichssport“ nach der unmittelbaren Stress-Situation. Dadurch kann sich der Körper wieder regulieren und entspannen.
- Stress wegatmen. Klingt komisch, funktioniert aber, denn durch bewusstes Atmen können wir den Para-Sympatikus aktivieren, einen wichtigen Teil des autonomen Nervensystems, der die Stress-Reaktion wird „einfängt“.
US-Marines, die häufig realen Bedrohungen ausgesetzt sind, haben dazu das „Box-Breathing“ entwickelt: Im Abstand von jeweils vier Sekunden atmen Sie dazu ein, halten die Luft an, atmen aus, halten wieder die Luft an und beginnen dann von vorn. Das ruhige regelmäßige Atmen dient dabei als Botschaft an unser Hirn, dass doch alles in Ordnung ist und wir nicht hechelnd vor einer Bedrohung flüchten müssen.
Noch einfacher geht es mit der Methode des Stanford-Psychologen Andrew Huberman: Zweimal unmittelbar nacheinander durch die Nase einatmen und dann durch den Mund „seufzend“ ausatmen bis die Lungen ganz geleert sind. Dieses Atemmuster tritt beim Schlafen auch spontan auf und heißt daher „Physiologisches Seufzen“ („physiological sigh“). Es versorgt den Körper wieder mit Sauerstoff und beruhigt buchstäblich die Nerven des autonomen Nervensystems. - Stressoren wahrnehmen. Wir reagieren individuell unterschiedlich auf Stressoren. Mentale Stabilität ist zum Teil auch ein Persönlichkeitszug, zum Teil können wir unsere Stress-Resistenz oder Resilienz auch trainieren. Grundlage ist dazu, die persönlichen Trigger zu erkennen. Dann können wir uns selbst und unser Umfeld besser steuern, Prioritäten und Grenzen so setzen, dass die Stress-Reaktion gar nicht erst einsetzt.
- Stress-Situationen kommunizieren. Heutzutage entsteht Stress in besonders hohem Maße in sozialen Situationen. Daher hilft es mit den Menschen in unserem Umfeld zu sprechen, wie wir akute Stressoren reduzieren, regulieren oder ausschalten können.
Der beste Stress aber ist der, den wir gar nicht erst haben. Darum ist die beste Mittel gegen Stress das aktive Gestalten des eigenen Lebensstiles.
VOM OPFER ZUM SCHÖPFER
Dazu helfen Bewegung und Entspannung, um uns körperlich in die Lage zu versetzen, mit Stress-Situationen besser umzugehen. Letzteres hat den zusätzlichen Vorteil, dass auch die schädlichen Auswirkungen unseres häufig sitzenden Lebensstils entgegengewirkt wird (s. „Sitzen ist das neue Rauchen“). Gesunde Ernährung statt Junk Food, Zuckerzeug oder Alkohol vermeidet „oxidativem Stress“ im Körper, der auch die Psyche belastet.
Entspannungstechniken oder Achtsamkeitsübungen können die Bereitschaft des Körpers zur Stress-Reaktion weiter reduzieren.
Positive Beziehung und Mitgefühl helfen stark Stress abzubauen und in Schach zu halten. Teilen Sie Emotionen, Sorgen und Ängste mit ihren Mitmenschen. Klagen sie ruhig! Doch auch das dosiert: Lassen Sie zügig den Druck ab und formulieren Sie dann lösungsorientiert ihre Probleme.
Auch die Techniken der Positive Psychologie sind hilfreich, zum Beispiel ein Dankbarkeitstagebuch oder das Schreiben von Selbst-Empathie-Briefen und positiven Zukunftsbilder (s. Happiness-Workout). Sie helfen positive Gefühlszustände zu aktivieren, die eigene Selbst-Wirksamkeit zu erkennen und die persönlichen Stärken, Optimismus und Zuversicht zu stärken. Auf dieser Basis können wir durch positives Zeit- und Selbstmanagement Ziele, Prioritäten und Grenzen so setzen, dass wir immer öfter in unsere Flow-Zone als unserer Stress-Zone agieren.
Die Psychologie Barbara Fredrickson hat herausgefunden, dass durch häufigere positive Unterbrechungen eine Gegenbewegung zu Stress, Überlastung und Burn-out in Gang kommt. Nach dieser Broaden-and-Build-Theorie kommt es sogar zu einer Erweiterung unserer Wahrnehmung für unsere eigenen Ressourcen, Gestaltungsmöglichkeiten und wirkt so nachhaltig gegen Stress.
Und wer unmittelbar nach einem Stressor süße Tierbilder ansieht oder herzlich über einen Witz des persönlichen Lieblingscomedians lacht, der kann sogar einen „Undo-Effekt“ erleben, bei dem das positive Gefühl das Stress-Erleben „überschreibt“.
POSITIVE LEADERSHIP
Zum Schluss: Stress ist keine Privatsache. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht darin das Zeitphänomen einer Gesellschaft, die versucht „möglichst viele Optionen zu realisieren aus jener unendlichen Palette der Möglichkeiten, die die Welt uns eröffnet“.
Auch in der Arbeitswelt sind Arbeitsverdichtung, anspruchsvolle Ziele, Rationalisierung, Automation und beständiger Wandel kein Naturgesetz wie die Schwerkraft. Sie sind das Resultat unternehmerischer Entscheidungen.
Führungskräfte und Mitarbeitende können durch Positive Leadership und Feelgood Management gemeinsam ein angstfreies menschenfreundliches Arbeitsumfeld gestalten – durch positive Kommunikation und Beziehungen, positives Klima und Sinnerleben im Unternehmen. Vertrauen, Offenheit, Feedback und Fehlertoleranz, Rollen- und Zielklarheit, gegenseitige Unterstützung schaffen dabei psychologische Sicherheit.
Je positiver und angstfreier das Arbeitsumfeld gestaltet ist, umso weniger Boden hat der Stress zu gedeihen, und wo der nicht überhandnimmt, können Menschen auch produktiv, glücklich und gesund arbeiten. So profitieren alle, die Einzelnen und das Unternehmen, von einem gesunden Umgang mit Stress.
Michael Stief (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).