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Michael Blume (Foto: SCM Bundes-Verlag / MOVO / Rüdiger Jope)

„Jedes Leben zählt!“: Der Mann, der 1.000 Menschen rettete

Michael Blume hat 1.000 jesidischen Frauen und Kindern geholfen, aus dem Nordirak zu fliehen. Wie kam es dazu?

Herr Blume, am 23. Dezember 2014 bekamen Sie aus dem Auswärtigen Amt und dem Innenministerium in Berlin „gelbes Licht“ für welche Aktion?

Michael Blume: Das Land Baden-Württemberg dürfe 1.000 jesidische Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufnehmen, die sich auf der Flucht vor dem IS befanden. Allerdings war es nur „gelbes Licht“, weil die sagten: „Wir spielen doch nicht den Buhmann und verbieten eine humanitäre Aktion. Macht es, aber bitte auf eigene Verantwortung und auf eigenes Risiko!“

Welche Frage stellte Ihnen Ministerpräsident Winfried Kretschmann daraufhin?

Blume: Er fragte mich: „Würden Sie es denn machen, Herr Blume?“

Sie kamen sich vor wie im Film „Schindlers Liste“. Sie besprachen diesen wahnsinnigen Auftrag mit Ihrer Frau. Sie schaut Ihnen in die Augen und sagt?

Blume: Meine Frau ist Muslimin. Sie schämte sich sehr, was der IS im Namen ihres Glaubens da im Irak anrichtet. Sie brach in Tränen aus, sagte dann aber: „Wir glauben beide, dass Gott uns einmal fragen wird, was wir mit den Elenden vor unserer Tür gemacht haben. Michael, mach es! Jedes Leben zählt!“ Wir hatten drei kleine Kinder. Sie hat die 14 Dienstreisen über 13 Monate in den gefährlichen Irak mitgetragen.

Waren Sie schon immer so ein tapferer und cooler Mann?

Blume: (schmunzelt) Nein! (lacht) Ich war für Mädels nicht cool, nicht chic, nicht so richtig vorzeigbar. Meine Familie stammt aus der ehemaligen DDR. Mein Vater hat Stasihaft und Folter erlitten. Ich bin daher mit einer tiefen Dankbarkeit gegenüber unserem Rechtsstaat und den Menschenrechten aufgewachsen. Dazu kam, dass ich als Jugendlicher einen Sinn im christlichen Glauben gefunden habe. Die glückliche Beziehung mit meiner Frau hat mich zum Mann reifen lassen.

„Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können“

Was hat Ihnen geholfen, Ihr Potenzial zu entfalten?

Blume: (spontan) Unbedingt geliebt, ein Kind Gottes zu sein, aber eben auch das Wissen und die Erfahrung: Ich bin nicht unfehlbar, ich darf auch scheitern. Der Rückhalt meiner Frau, die mir in dieser schwierigen Entscheidung vermittelt hat: Es lohnt sich, sein Bestes zu geben. Sie hatte verstanden: Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können.

Sie retteten mit einem kleinen Team über 1.000 Jesidinnen das Leben. Sie setzen sich ein für Geschundene, Geflüchtete … Ist dies in Ihrer DNA angelegt, weil Ihr Vater in der DDR im Knast saß, Ihre Eltern aus der DDR flüchten mussten?

Blume: Unbedingt. Als Jugendlicher habe ich eine große Politikverdrossenheit um mich herum erlebt. Dies hat mich unglaublich geärgert. Wir Menschen, die wir im Wohlstand und in Freiheit aufwachsen, tendieren leicht dazu, dies zu verachten, nicht mehr wertzuschätzen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir in einer Demokratie leben, dass wir Menschenrechte haben, dass Mädchen die Schule besuchen dürfen und Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Dafür sollten wir kämpfen! Mein Vater hat Folter ertragen, weil er wollte, dass seine Kinder einmal in Freiheit aufwachsen. Wer bin ich, der ich dieses Geschenk der Freiheit wegwerfen würde oder anderen vorenthalte?

Nadia Murad, eine der Jesidinnen, die Sie gerettet haben, erhielt im Dezember 2018 den Friedensnobelpreis. Welches Gefühl löste dies in Ihnen aus?

Blume: Ich war mit Ministerpräsident Kretschmann bei der Verleihung in Oslo dabei. Das war sehr bewegend. Nadia selber war zuerst gar nicht so glücklich darüber, weil ihr damit klar war: Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückziehen, jetzt muss ich ein Leben lang eine öffentliche Rolle einnehmen. Sie, diese tapfere Frau, hat dieses Geschenk, aber eben auch diese Herausforderung dann angenommen und der freien Welt signalisiert: Frauenrechte sind nicht selbstverständlich und gerade wir Männer sollten dafür einstehen.

Beinahe-Antisemitismus-Skandal: „Das wird eine heftige Geschichte“

Sie brechen als junger Mann ein Volkswirtschaftsstudium ab, um Religionswissenschaften zu studieren. Mit einem Aufsatz über Ihre Biografie als „Wossi“ gewinnen Sie einen Preis. Die Stuttgarter Zeitung veröffentlicht einen Artikel über Sie. Diesen Beitrag liest …?

Blume: (lacht) … Staatsminister Christoph Palmer. Ich hatte damals einen Beitrag zum Thema „Heimat und Identität“ eingereicht. Damit gewann ich einen Preis als einziger Deutscher ohne Migrationshintergrund, wenn wir die DDR nicht mitzählen. Palmer hat mich dann von der Universität direkt ins Staatsministerium geholt.

Am 11. April 2007 sagte der damalige württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger in Freiburg auf der Beerdigung von Hans Filbinger, einem seiner Vorgänger, den Satz: „Filbinger war kein Nationalsozialist. Es gibt kein Urteil von ihm [Anm.d.Red.: Er war NS-Marinerichter], durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte.“ Warum wurde Ihnen da mulmig?

Blume: An der Rede war ich nicht beteiligt. Als ich sie hinterher hörte – heute würde sie ja sofort im Internet stehen –, war klar: Das wird eine heftige Geschichte. Diese Aussage könnte ihn sein Amt kosten. Man soll ja über Verstorbene nichts Böses sagen, aber hier war eine Grenze überschritten worden, eine Umdeutung passiert. Unbestrittene Tatsache ist: Filbinger hat noch in den letzten Kriegstagen Menschen zum Tode verurteilt.

Wie haben Sie die politische Kuh vom sprichwörtlichen Eis bekommen?

Blume: Ich habe Günther Oettinger geraten, den Vorwärtsgang einzulegen, nicht darauf zu warten, dass die medialen Rücktrittsforderungen abebben. Wir sind zur jüdischen Gemeinde Stuttgart gefahren, haben mit dem Zentralrat der Juden direkt gesprochen. Die jüdischen Gemeinden wussten, dass Oettinger ein feiner Kerl und kein Antisemit ist, aber die mediale Dynamik hätte alle zermalmen können. Der Ministerpräsident bedauerte den Fehler, die jüdische Gemeinde zog die Rücktrittsforderung zurück.

Und Sie bekamen ein Dankeschön der Kanzlerin?

Blume: (lacht) Sie haben sich aber gut informiert! Ja. Angela Merkel rief Günther Oettinger über mein Handy an. Ich konnte meinen Teil tun.

Sie sind Mitglied der CDU. Was bedeutet Ihnen das C? Und wie kam es dazu, dass Sie für eine Landesregierung arbeiten, in der die Grünen am Ruder sind?

Blume: Das Christliche ist mir zentral wichtig. Auch als Entlastung von Politik, weil sie nicht versuchen sollte, ein Paradies auf Erden zu schaffen. Ministerpräsident Kretschmann hat ein Faible für das C. Das verbindet uns. Als er gewählt und sein Vorgänger Stefan Mappus abgewählt war, fragte er mich, ob ich trotzdem bleiben würde. Ich sagte ihm zu, wenn er die zwei Mitarbeiterinnen mit übernehmen würde, die für mich bis dahin gearbeitet haben. Er hat seinen Teil eingehalten und ich den meinen. Wir arbeiten bis heute sehr vertrauensvoll zusammen. Ich stelle immer wieder fest: Viele Grüne schätzen es, wenn sie mit einem Christdemokraten zu tun haben, der sein Parteibuch nicht taktisch versteckt, wenn es der Karriere schädlich sein könnte, sondern zu seinen Werten steht.

„Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer“

Sie sind heute Antisemitismusbeauftragter. Wie würden Sie einem Kind diesen Beruf erklären?

Blume: Das Judentum war die erste Religion, die mit dem Alphabet geschrieben hat. Deshalb denken viele Menschen, dass die Juden besonders schlau seien und die Welt kontrollieren. Ich würde dem Kind dann sagen: Niemand kontrolliert die Welt außer Gott. Ich gewinne Menschen dafür, sich zu bilden und zu lernen und keinen Hass auf eine Gruppe oder Religion zu haben.

Was ist Antisemitismus?

Blume: Antisemitismus ist eine Form von Menschenfeindlichkeit, die immer mit Verschwörungsmythen verbunden ist. Im Antisemitismus wird behauptet, Juden seien besonders schlau, reich und mächtig. Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer. Sie sind deshalb auch zur Radikalisierung und Gewalt bereit.

Warum trifft es durch die Jahrhunderte und viele Kulturen hindurch immer wieder die Juden?

Blume: Weil sie die erste Religion der Schrift waren. Im ersten Buch Mose heißt es: Der Mensch sei im Bilde Gottes geschaffen. Daraus entsteht der Begriff der Bildung, der unsere europäische Kultur entscheidend geprägt hat. Die Idee, dass wir einmal in einer Welt leben, in der jedes Mädchen, jeder Junge lesen und schreiben kann, entstammt dem Judentum. Deshalb konnte der zwölfjährige Handwerkersohn Jesus drei Tage im Tempel mit den Schriftgelehrten diskutieren.

„Bekämpft Antisemitismus für eure eigene Zukunft!“

Ist Antisemitismus mehr als Hass auf Juden?

Blume: Rabbiner Lord Jonathan Sacks formulierte es so: „Dieser Hass beginnt immer bei den Juden, endet aber nie bei ihnen.“ Er setzte sich im Dritten Reich bei den Sinti und Roma oder den Homosexuellen fort. Im Islamischen Staat setzte sich dieser Hass gegen Jesiden, Wissenschaftler und Journalisten fort. Ich sage daher: Bitte bekämpft den Antisemitismus nicht nur den jüdischen Menschen zuliebe, sondern für eure eigene Zukunft! Wer glaubt, dass die Gesellschaft von der Verschwörung gesteuert wird, ist zur Demokratie nicht mehr in der Lage.

Es heißt, der Antisemitismus in Deutschland nehme wieder zu. Ist dies auch Ihre Feststellung?

Blume: Jein. Nach allen Daten, die uns vorliegen, nimmt die Zahl der Antisemiten weiter ab. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Die Menschen, die antisemitisch agieren, haben aber das Internet, und damit nimmt ihre Radikalisierung und Gewaltbereitschaft zu.

Was können wir gegen Antisemitismus tun?

Blume: Wir sind gefragt, zuzugeben, dass wir nicht alles wissen. Verschwörungsmythen geben eine scheinbar einfache Erklärung. Wenn ich sage, diese Verschwörer sind schuld, habe ich eine vermeintliche Erklärung für COVID-19, die Klimakrise, den Krieg in der Ukraine. Stattdessen zu sagen: Ich weiß, dass wir Männer die Wahrheit nicht mehr besitzen, sondern Unsicherheiten aushalten müssen – diese Stärke wünsche ich mir von uns Männern. Lebenslange Bildung macht uns stark gegen Antisemitismus.

Wann haben Sie als Beauftragter einen guten Job gemacht?

Blume: Wenn ich eingeladen werde, Menschen an diesem Thema Interesse zeigen, ich dafür sorgen kann, dass Menschen gar nicht erst zu Antisemiten werden. Jede Seele zählt.

„Die vernünftige Mitte bricht zusammen“

Sie differenzieren zwischen Verschwörungsmythen und Verschwörungstheorien. Warum?

Blume: Theorie ist ein Begriff aus der Wissenschaft. Verschwörungsmythen wollen nur Schuldige benennen. Das waren im Mittelalter die Hexen, heute werden die Zugewanderten als Invasoren betrachtet oder man wirft Frauen vor, dass sie für niedrige Geburtenraten sorgen. Wir müssen ertragen, dass sich die Welt nicht in gute und böse Gruppen spalten lässt, dass wir herausgefordert sind, das Böse in uns zu bekämpfen.

Warum haben Verschwörungsmythen und Fake News derzeit so Hochkonjunktur?

Blume: Immer dann, wenn neue Medien auftreten, haben wir eine Explosion von Verschwörungsmythen. Der Hexenwahn war nicht im vermeintlich finsteren Mittelalter, sondern fand vom 15. bis zum 18. Jahrhundert statt. Heute werden in 44 Ländern der Erde Frauen als Hexen verfolgt. Immer dann, wenn neue Medien wie Buchdruck oder elektronische Medien an Bedeutung gewinnen, ergeben sich unendliche neue Chancen für Bildung, aber es tauchen eben auch wieder alte Vorwürfe auf. Das erleben wir gerade mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit.

Sehen Sie einen Zusammenhang von zurückgehenden Kirchenmitgliedszahlen, einem schwindenden Glauben in der Gesellschaft und einer Zunahme von Mythen?

Blume: Ja. Unbedingt. Wir erleben leider in allen Religionen das Phänomen, dass die vernünftige Mitte zusammenbricht. Es wird die Religionslosigkeit propagiert. Es gibt immer mehr säkulare Menschen. Diese stehen den religiösen Dualisten gegenüber, die sich gegen den sogenannten Mainstream mit Verschwörungsmythen abgrenzen. Die vernünftige Mitte zerbröselt. Das ist der Teil, der mir am meisten Sorgen macht.

Blume geht gerichtlich gegen Hassnachrichten vor

Sind Männer anfälliger für Verschwörungsmythen als Frauen?

Blume: Ja! Bei Männern sehen wir öfter ein kämpferisches Weltbild. Da herrscht die Stimmung vor: Ich zerschlage jetzt die Verschwörer, wenn es sein muss auch mit Gewalt. Dies kickt vor allem jüngere Männer. Darin lassen sie sich dann gerne von älteren Männern bestätigen. Von daher sage ich, auch als ehemaliger Soldat: Liebe Mitmänner, die eigentlichen Helden stellen sich erst einmal ehrlich den Abgründen der eigenen Seele.

KI in Form von ChatGPT & Co. bringt nochmals eine ganz neue Herausforderung in puncto Fake News mit. Was wird in Zukunft wichtig(er) werden? Wie können wir Mythen oder Fake News entzaubern?

Blume: ChatGPT ist ein Werkzeug, welches unsere gesamte Welt verändern wird. Wir werden zukünftig mehrere KIs nutzen. Ob wir es wollen oder nicht, KI wird ein Teil unserer Mitwelt. Sie wird uns selbst verändern, wie uns auch das Smartphone verändert hat. Mein Ratschlag lautet: Mitmachen, aber auch nachdenken, was wir da eigentlich tun!

Hassnachrichten gehören zu Ihrem Tagesgeschäft. Wie gehen Sie damit um?

Blume: Am Anfang habe ich sie einfach ignoriert. Doch dann richteten sie sich gegen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und vor allem gegen meine Familie. Seitdem wehre ich mich auch gerichtlich.

Sie klagen gegen Twitter. Warum?

Blume: Viele Bürger haben gar nicht die Möglichkeit, gegen diesen Giganten vorzugehen. Das ist unglaublich teuer. Stellvertretend für die Menschen streite ich daher gemeinsam mit HateAid. Ich will nicht den Hass im Internet bejammern, sondern mich auch hinstellen und den Hetzern und Trollen die Stirn bieten! Es hat mich Überwindung gekostet, im Regierungskabinett solch eine an mich adressierte Hassnachricht vorzulesen.

Was ist der aktuelle Stand der Klage?

Blume: Twitter vertritt die Auffassung, dass die gesendete Hassnachricht gelöscht werden kann, doch die Kläger sollen jede einzelne Hassnachricht neu melden. Wir halten dagegen und haben vom Landgericht Frankfurt/Main Recht gesprochen bekommen, dass Twitter kerngleiche Inhalte selbst löschen muss. Wenn also gegen eine Person eine Kampagne läuft, ist Twitter gefordert, löschend einzuschreiten. Twitter kann sich nicht zurücklehnen nach dem Motto: Meldet es und wir schauen dann mal. Twitter wehrt sich sehr dagegen …

„Jede Religion kann man liebevoll oder auch feindselig leben“

Was ängstigt Sie? Was macht Ihnen Hoffnung?

Blume: Mich treibt die Sorge um, dass die Klimakrise zur Wasserkrise wird. Ich habe im Irak gesehen, wie ein Staat zerfällt, wenn es nicht mehr genügend Wasser für alle gibt. Wasser ist ein mächtigeres Element als Öl. Es ist übrigens auch das erste Element, welches in der Bibel genannt wird, noch vor dem Licht! Es werden immer weniger Teile der Erde bewohnbar sein. Ich bin überzeugt: Wir werden die Krise meistern, aber die vor uns liegenden Jahre werden hart. Es geht ums Überleben in unserer Mitwelt. Dafür braucht es Frauen und Männer, die über sich hinauswachsen.

Sie sind atheistisch aufgewachsen, haben dann zum christlichen Glauben gefunden. Was hat Sie überzeugt?

Blume: Ich war politisch sehr aktiv. Im Angesicht der Hungerkatastrophe in Somalia stellte ich als junger Mensch fest: Es gelingt uns trotz allem Engagement nicht, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Das brachte mich in eine Sinnkrise. Und in dieser frustrierenden Situation hat Gott mich aufgefangen und angesprochen in dem Sinne: Michael, wenn du tust, was du kannst, ist das genug. Du bist unendlich geliebt! Das hat mich unglaublich entlastet und bewahrt mich davor, mich selbst zu überfordern.

Sie und Ihre Frau entstammen einer Arbeiterfamilie. Sie sind ein glückliches Paar. Was sagen Sie Menschen, die Christen vor allem als Kreuzritter und Kolonisatoren und Muslime als Machos und Terroristen sehen?

Blume: Jede Religion kann man liebevoll oder auch dualistisch, feindselig, extremistisch leben. Das gilt fürs Christentum, den Islam und jede andere Glaubensrichtung. Zehra und ich haben jetzt unsere silberne Hochzeit gefeiert. Wir sind sehr glücklich miteinander. Wir haben drei gemeinsame Kinder, die sich in der evangelischen Kirche engagieren. Meiner Auffassung nach sollte sich Religion niemals gegen die Liebe stellen, sondern sie immer unterstützen.

Infolge der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie, des Krieges in der Ukraine erleben wir eine starke Polarisierung der Gesellschaft. Wie geht es weiter? Was ist Ihre Prognose?

Blume: Wir alle stehen vor der Charakterfrage. Gerade auch wir Männer. Große Teile der Welt werden unbewohnbar werden. Es wird sogenannte Archeregionen geben, in denen Menschen überleben können. Wir alle stehen da vor der Herausforderung, die Menschen zu beschützen, die uns anvertraut sind, aber eben auch ein großes Herz gegenüber denen an den Tag zu legen, die bei uns Schutz suchen. Dies wird die Herausforderung des 21. Jahrhunderts werden. Sind wir Männer fähig, echte Partner zu sein, zu lieben statt zu hassen? Das wird die Aufgabe von uns Männern sein!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Heißer Lesetipp für den Sommer:

„Eine Blume für Zehra – Liebe bis zu den Pforten der Hölle“ (bene!) Andreas Malessa erzählt eindrücklich die Liebes- und Familiengeschichte von Blumes. Ein packendes Stück deutscher Geschichte im Kleinformat.

Sven Hannawald springt Ski vor der Kulisse der Zugspitze. (Foto: Christof Stache)

Sven Hannawald: Skisprungheld stürzt vom Siegerpodest in die Depression

Nach seinem Triumph bei der Vierschanzentournee 2002 holt ein Burnout samt Depression den Skispringer Sven Hannawald ein. Wenn er nicht rechtzeitig in eine Klinik gegangen wäre, würde er heute nicht mehr leben, ist Hannawald überzeugt.

Hallo Sven, nach dem Absprung fliegt ein Skispringer etwa drei Sekunden durch die Luft. Beim Skifliegen sind es sogar acht Sekunden. Wie fühlt sich das an?

Beim Fliegen ist das Schwerelose so besonders. Als Skispringer lebt man den Traum des Menschen, fliegen zu können – ohne Motor. Wir spielen mit den Lüften, das ist unheimlich toll und speziell. Ich wollte immer so weit fliegen wie möglich.

Warst du glücklich, nachdem dein Kindheitstraum in Erfüllung ging und du alle vier Springen der Vierschanzentournee 2002 gewonnen hattest? Vor dir war das noch keinem anderen Skispringer gelungen.

Ich habe jahrelang auf das Ziel, die Tournee zu gewinnen, hingearbeitet. Es war erlösend und befreiend, es geschafft zu haben. Als Erster einen Vierfachsieg zu holen, war unglaublich. Schon als kleiner Junge hatte ich den Traum, die Tournee zu gewinnen. Im Nachhinein habe ich aber auch gemerkt, was ich dafür meinem Körper antun musste. Nachträglich würde ich trotzdem nichts ändern. Der Gewinn war mir wichtiger als eventuelle körperliche Probleme.

„Nach dem großen Erfolg war mir alles zu viel“

Zwei Jahre nach dem Gewinn der Vierschanzentournee und einer Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City 2002 hast du die Diagnose Burnout mit mittelschwerer Depression bekommen. Nach einer Behandlung in einer Spezialklinik hast du 2005 deine Karriere als Skispringer beendet. Wie kam es zu deinem Burnout und der Depression?

Ich bin sehr perfektionistisch und ehrgeizig. Nach einem Springen oder dem Krafttraining habe ich meinem Körper zwar physische Pausen gegeben, aber keine psychischen. Ich habe immer ans nächste Springen gedacht. Das war wichtig, um zu gewinnen, aber es gab keine Balance in meinem Leben. Nach dem großen Erfolg war mir alles zu viel und ich habe mich unheimlich schwergetan, weiter dranzubleiben. Mein Körper hatte dem Erfolg zu viel Tribut gezollt.

Mit welchen Symptomen haben sich der Burnout und die Depression geäußert?

Es hat mit Müdigkeit angefangen. Normalerweise schläft man und geht in den Urlaub, um sich zu erholen. Ich habe mich nach zwei Wochen Urlaub aber immer noch so gefühlt, wie zu dem Zeitpunkt, als ich in den Flieger gestiegen und hingeflogen bin.

Früher hatte ich schon zwei Tage nach Saisonende wieder ein inneres Feuer, mit dem Training anzufangen – um mir einen Vorsprung zu erarbeiten. Von Saison zu Saison wurde der Zeitraum immer größer, bis ich wieder das innere grüne Licht bekommen habe. Da war ich dann in einer mir selbst auferlegten Bringschuld: Eigentlich müsste ich mit dem Training anfangen, aber ich hatte noch gar keine Lust.

Mein „Ich muss jetzt trotzdem trainieren“-Anspruch hat eine Unruhe in mich reingebracht. Ich war komplett überfordert, weil die Unruhe und Abgeschlagenheit sich nicht zurückzogen. Wenn ich nach oder vor einem Wettbewerb in meinem gewünschten Einzelzimmer war und eigentlich meine Ruhe hatte, kam ich mit der inneren Unruhe nicht klar.

„Ich habe anderthalb Jahre lang alle möglichen Ärzte aufgesucht“

Wie bist du mit dieser Unruhe umgegangen?

Ich wurde kirre im Kopf, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, damit es mir endlich besser ging. Egal, was ich gemacht habe, es wurde nicht besser. Ich hatte gar nicht die Ruhe, mich auszuruhen. Stattdessen bin ich der Unruhe gefolgt und habe eher wieder mehr gemacht, um das Gefühl der Unruhe zu übergehen.

Dann habe ich mich einen Moment gut gefühlt, weil ich was gemacht habe. Der Frust war für kurze Zeit weg, aber ich war dann noch müder. Das war ein Kreislauf, der stetig nach unten ging. Ich habe dann anderthalb Jahre lang alle möglichen Ärzte aufgesucht und keiner hat was gefunden.

Nach dem Ärztemarathon bist du in einer Klinik gelandet. Den Komiker Torsten Sträter hat es viel Überwindung gekostet, sich in Therapie zu begeben. Bei dir scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Warum?

Das lag daran, dass ich aus dem Einzelsport komme. Ich wusste dementsprechend, dass ich zu 140 Prozent fit sein muss oder keine Chance auf einen Sieg habe. Meine damalige Verfassung hat nicht mal für den Continental Cup, also die zweite Liga, gereicht. Ich war 30 und mir war klar, dass ich noch maximal bis 33 Skispringen kann und mir somit die Zeit davonläuft. Deshalb wollte ich keine Zeit verschwenden und das Problem direkt lösen.

„Es war tränenreich“

Wie war es in der Klinik?

Viele sagen: „Oh, bloß keine Klinik! Ich hab ja keinen an der Klatsche!“ Aber ich habe das gleich so gesehen, dass die Klinik wirklich eine neutrale Oase ist, wo ich wieder den Boden unter die Füße bekommen kann. Ich hatte dort viele gute Gespräche, wo auch meine Gefühlsebene zur Sprache kam, die ich in meiner Skisprungkarriere lange wegdrücken musste.

In der Klinik konnte ich meinem Körper und meiner Seele das geben, was sie gebraucht haben – ohne Leistungsdenken. Es war tränenreich, aber hat sich unglaublich gut angefühlt. Nach fünf Wochen war ich wieder bereit für die große weite Welt. Ich habe mich wieder gespürt und Lust gehabt, etwas zu unternehmen. Es war neues, frisches Leben in mir.

Welchen Wert misst du Freundschaften im Kampf gegen Depressionen bei?

Es ist unheimlich wichtig, Vertrauenspersonen wie Freunde und Familie zu haben, denen man sich öffnen kann. Man hat oft das Gefühl, ein Verlierer des Lebens zu sein, was aber überhaupt nicht so ist. Dementsprechend sind enge Vertraute wichtig, die einem Rückhalt geben. Meistens ist das Umfeld aber überfordert damit, alles aufzufangen und in die richtige Richtung zu arbeiten. Da gilt es dann, professionelle Hilfe zu suchen.

„Das kann nur jemand nachvollziehen, der eine Depression erlebt hat“

Der Fußball-Torwart Robert Enke nahm sich 2009 das Leben. Er hatte seit 2002 immer wieder Depressionen – hervorgerufen durch Versagensängste und Selbstzweifel. Hätte es bei dir ebenfalls so enden können?

Ja. Definitiv. Wenn ich 2004 noch mal sechs Jahre mit Skispringen weitergemacht hätte, dann wäre ich mit Sicherheit an diesen Punkt gekommen. Das kann nur jemand nachvollziehen, der eine Depression erlebt hat. Man will das ganze Psychische, was in einem rumfliegt, einfach nur loswerden. Bei mir war es nur eine kurze Zeit, wo ich das so extrem gemerkt habe. Ich bin dann zum Glück dem Rat meiner Ärzte gefolgt und in eine Klinik gegangen.

Nachdem du aus der Klinik raus warst, bist du noch einige Jahre in Therapie gegangen. Wann hast du dich wieder gesund gefühlt?

Mir hat es geholfen, mit dem Rennsport wieder eine Aufgabe zu finden. Skispringen konnte ich nicht mehr, weil mein Körper jedes Mal in der Nähe einer Schanze Stresssignale ausgesandt hat. Der Rennsport war das letzte Puzzleteil, um mich wieder glücklich zu fühlen.

Ich habe eine Aufgabe gebraucht. Davor hatte ich nichts, wo ich gemerkt habe, dass ich für etwas geschaffen bin. Ich bin morgens aufgestanden, habe den Tag genossen, gegessen und bin wieder ins Bett. Ohne Aufgabe ist es für einen Menschen einfach schwierig zu leben.

„Zeit mit meiner Familie hat Priorität“

In deinem Buch „Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“ schreibst du, dass du jetzt auf einem soliden Fundament stehst. Was ist dein Fundament?

Meine Familie. Meine Frau und meine beiden Kinder, die ich als meine Oase ansehe. Darauf baue ich jetzt alles auf. Zeit mit meiner Familie hat Priorität. Wenn Termine mit Familienzeit oder Urlaub kollidieren, sage ich sie ab oder verschiebe sie.

In einem Welt-Interview hast du gesagt, dass du gläubig bist. Welche Rolle hat der Glaube in deinem Heilungsprozess gespielt?

Und wie wichtig ist er für dich heute? Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, da war Kirche kein großes Thema. Trotzdem glaube ich, dass jemand auf mich aufpasst, mir so ein bisschen auf der Schulter sitzt und gewisse Dinge zulässt oder auch nicht. Das gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein, sondern meinen Weg gemeinsam mit jemand anderem zu gehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte MOVO-Volontär Pascal Alius.

 

Anlaufstellen bei Depressionen:

Grundsätzlich ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner für die Diagnostik und Behandlung von Depressionen. Bei Bedarf überweist er an einen Facharzt bzw. psychologischen Psychotherapeuten. In Notfällen, z. B. bei drängenden und konkreten Suizidgedanken, bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter der Telefonnummer 112 wenden. Der Sozialpsychiatrische Dienst bietet Beratung und Hilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörige an.

www.deutsche-depressionshilfe.de
www.143.ch
www.depression.at

Dieser Drache aus Müll wurde Christopher selbst bemalt. (Foto: Pascal Alius)

Craften: Christopher zaubert Kunstwerke aus Müll

Ist das Kunst oder kann das weg? Bei Christopher Keims „Müllskulpturen“ stellt sich niemand diese Frage.

Hallo Christopher, wie bist du zum Craften gekommen?

Christopher Keim: Angefangen habe ich mit Dioramen-Bau, also kleinen Miniaturlandschaften. Auf YouTube bin ich dann tiefer in diese Szene eingetaucht und habe den YouTuber „Bill making Stuff“ entdeckt. Er hat aus dem größten Müll richtig krasse Sachen gebastelt. Auf sowas hatte ich schon mein ganzes Leben gewartet. Ich sammle gerne alles Mögliche und endlich habe ich einen Verwendungszweck für den ganzen Müll. (lacht)

Du hast jetzt den Müll erwähnt, aber du benutzt ja auch viele gekaufte Materialien. Wie teuer ist das?

Bestimmt 300 Euro haben meine Freundin und ich in Bastelmaterialien und Farben investiert. Allein für Farben haben wir 100 Euro ausgegeben – und das waren die billigen. Das Sortiment erweitert sich stets. Einmal war ich bei Woolworth und habe 50 Euro in kleine Perlen und Glitzerzeugs gesteckt. (lacht) Meine Freundin hat auch noch eine Lötstation und eine Heißluftpistole gekauft. Um Geld zu sparen, hat sie sich aus einer elektrischen Fliegenklatsche ein Gerät gebaut, mit dem sie Kunstgras statisch aufladen kann, damit es nachher im Modell aufrecht stehen bleibt.

„Ich entdecke durch mein Hobby den Müll und meine Umgebung noch mal neu“

Was begeistert dich am Craften?

Ich finde es cool, dass man Sachen kombinieren kann, die eigentlich überhaupt nicht zusammengehören und die man nachher auch gar nicht mehr erkennen kann. Ich entdecke durch mein Hobby den Müll und meine Umgebung noch mal neu.

Du siehst irgendein Glas oder ein kaputtes Messer und denkst: Das hat ja eine interessante Textur, da könnte ich bestimmt was Cooles draus machen. Und gleichzeitig betreibe ich Upcycling: Aus Müll wird Kunst.

Welchen Ratschlag würdest du jemandem geben, der auch damit anfangen möchte?

So doof es klingt: einfach loslegen. Ich wurde anfangs von zwei Metallplatten inspiriert und ich hätte nicht erwartet, dass da ein Roboter herauskommt. Manchmal kommt man in einen Flow und denkt sich: Das kann ich noch machen und das passt perfekt zusammen und das auch.

Falls man Angst hat, etwas falsch zusammenzubauen, kann man die Teile einfach nur zusammenhalten und ausprobieren – ohne zu kleben. Ich habe mal eine Stunde lang nur dagesessen, rumgeschoben und nicht wirklich was gemacht.

„Es wird einfach nie so, wie ich es mir vorstelle“

Wo hast du die größten Schwierigkeiten?

Beim Bemalen. Mit dem Pinseln beginnen die Schwierigkeiten. Es wird einfach nie so, wie ich es mir vorstelle. (lacht) Das ist eine langwierige Aufgabe. Manchmal überlege ich, ein Teil gar nicht erst anzubauen, weil ich ganz genau weiß, dass ich das wieder anmalen muss und ich mit dem Pinsel gar nicht richtig hinkomme.

Die Fragen stellte Pascal Alius, Volontär des Männermagazins MOVO.

Christopher Keim ist Sammler aus Leidenschaft. Bis vor Kurzem türmten sich in seiner Küche die Eierkartons – man weiß ja nie, wofür die noch mal gut sein können. Jetzt basteln damit Kinder. Auf Instagram präsentiert Christopher seine neuesten „Müllskulpturen“: instagram.com/iamnotahotdog

 

Symbolbild: Tempura / E+ / Getty Images

Do-it-yourself: Warum müssen immer noch alle Männer Heimwerker sein?

Zwei linke Hände gleich halbe Portion? Von Männern wird handwerkliches Geschick erwartet. Martin Buchholz meint: Meine Schuhe mache ich doch auch nicht selber.

Sagen wir gleich, wie es ist: Ich bin nicht mit Hammer und Meißel zur Welt gekommen. Ich kann nicht löten und schweißen, kann weder Fliesen noch Parkett verlegen. Und verspürte auch noch nie das Bedürfnis, es mit blutigen Fingern zu lernen. Damit hatte ich selber auch nie ein Problem. Bis ich merkte: Echte Männer müssen so was können.

In unserem Land ist das nämlich so: Du kannst als Mann den Nobelpreis für Physik gewinnen, als Hirnchirurg täglich Leben retten oder Bundeskanzler sein – wenn du daneben nicht auch noch ein gewiefter Hand- und Heimwerker bist, giltst du in den Augen der Gesellschaft als halbe Portion. Das ist statistisch zwar nicht messbar, aber erfahrbar.

Mitleidige Blicke ernten

In dem leisen Schmunzeln und den unverhohlen mitleidigen Blicken, die meine Frau und ich ernten, wenn wir im Freundeskreis eine Geschichte wie diese erzählen: Der billige Plastik-Siphon unter unserer Spüle rutschte immer wieder nach einigen Tagen aus seiner Fassung, weil die Mülleimer, die davor standen, permanent dagegen drückten. Monatelang haben wir das Teil wieder notdürftig reingeschraubt (ja, das habe ich irgendwie selber gemacht), bis es sich wenig später wieder löste. Dann bestellten wir einen Handwerker.

Er hörte sich das Dilemma an, schmunzelte kurz und sägte dann vier Zentimeter von dem Siphon ab. Seitdem hält das Teil. Unsere große Erleichterung konnten unsere Freunde nur bedingt nachvollziehen: „Äh, und für so eine Lappalie lasst ihr extra einen Handwerker kommen?!“

Heimwerken: Sexy, aber nicht ohne Risiko

Ja, sicher! Weil er weiß, wie es geht. Selbermachen gilt zwar als sexy, ist aber nicht ohne Risiken, wie ich leidvoll erfuhr, als ich einmal den Fehler beging, es doch zu versuchen: Ich habe unsere Garderobe im Flur eigenhändig an die Wand gedübelt. Hat sogar gehalten. Drei Tage lang. Dann bröselte mir die Garderobe aus der nassen Wand wieder entgegen. Dass keine zwei Zentimeter unter dem billigen Putz unser Abflussrohr verlief, hatte mir keiner gesagt. Wir taten, was wir gleich hätten tun sollen, und bestellten einen Handwerker.

Warum auch nicht?! Das sind Fachleute, die diesen Beruf gelernt haben. Ich nicht. Meine Schuhe mache ich doch auch nicht selber. Ich verdiene Geld mit Filmemachen, Liedern und Geschichten, damit ich andere für das bezahlen kann, was sie gut beherrschen. Dieses Prinzip der modernen Arbeitsteilung leuchtet doch auch den meisten ein; nur nicht in Sachen Heimwerker. Da hält sich hartnäckig das archaische Klischee, dass „Mann“ so was eben kann.

Handwerklich begabte Freunde fragen

Zum Glück bin ich seit über 30 Jahren mit einer Frau verheiratet, die meine Heimwerker-Phobie geduldig, tapfer und lösungsorientiert erträgt. Der britische Schriftsteller George Bernard Shaw hat gesagt: „Gute Freunde sind Gottes Entschuldigung für schlechte Verwandte.“ Meine Frau pflegt hingegen zu sagen: „Handwerklich begabte Freunde sind Gottes Entschuldigung für meinen Ehemann!“ Womit ich die haushaltsinterne Lösung vieler unserer Baustellen bereits angedeutet habe. Wir wägen einfach jedes Mal ab: Bestellen wir gleich einen Profi – oder fragen wir einen Freund? Letzteres ist natürlich heikel. Wer will schon ständig seinen Freunden mit so was auf die Nerven gehen? Und vor allem: Wie bedanken wir uns hinterher angemessen?

Diese Frage wurde besonders drängend, nachdem meine Frau schon vor über 20 Jahren ihren befreundeten Arbeitskollegen Friedhelm gebeten hatte, uns beim „Ausbau“ unseres neuen Reihenhauses zu helfen. Was Friedhelm gerne und mit – für mich völlig unvorstellbarer – Fachkompetenz dann auch tat. Zum Dank tat ich das, was ich eben besser kann, und schrieb ein Lied für ihn, auf die Melodie des Beatles-Klassikers „Help“. Wer mitsingen möchte, bitteschön:

Friedhelm-„Help“-Song

„Als ich noch jünger war, da dachte ich bei mir: Wenn was kaputtgeht, dass ich das alleine reparier‘. Doch heut‘ weiß meine Frau, dass ich das gar nicht kann. Und immer dann, wenn Not am Mann ist, ruft sie einen an:

Hilf uns, lieber Friedhelm, wir sind down! Bitte hilf den alten Schrank zusamm’nzubau’n. Hilf, bevor mein Mann und ich uns hau’n. Won’t you please, please help me!

Vor Jahren zogen wir in unser Reihenhaus. Wir kannten einen, der kennt sich mit so was bestens aus. Er brachte Lampen an, hat Schalter installiert. Ein echter Mann, der so was kann – und mich damit blamiert.

Hilf uns, lieber Friedhelm, beim Parkett. Komm, verlege unser’n Boden, Brett für Brett! Hilf uns, lieber Friedhelm, sei so nett! Won’t you please, please help me!“

Peinlichkeitsschwelle überwinden

Ja, natürlich gibt es in unserem handwerkerlosen Haushalt jedes Mal auch eine gewisse Peinlichkeitsschwelle zu überwinden, bevor wir dann eben doch um fachkundige Hilfe bitten. Die Folge davon lautet bei uns: Nichts hält länger als ein Provisorium. Unser schönes Holzbett zum Beispiel. Das wurde an den vier Ecken von so kleinen Holzstiften zusammengehalten, die einfach ineinander geschoben waren. Verklebt haben wir sie nie, weil wir dachten, dass wir die Teile dann ja nie wieder getrennt kriegen.

Nun ja, die Konsequenz war, dass auf meinem Nachttisch immer ein Gummihammer lag, mit dem wir alle paar Tage die Holzteile des Bettes wieder zusammengeklopft haben. Als wir dann schließlich doch einen Handwerker kommen ließen und der sich das Ganze ansah, war es um seine Fassung geschehen. Er stammelte nur noch „Entschuldigung!“ und bog sich vor Lachen. Dann verklebte er die Teile („Kein Problem, das Bett kriegen Sie trotzdem später wieder zerlegt“), presste das Ganze mit riesigen Schraubzwingen zusammen und fertig.

Unfallfrei und gesund

Ich höre im Geiste schon, wie sich alle gewieften Heimwerker nun beim Lesen amüsiert auf die Schenkel klopfen. Macht nichts. Damit komme ich klar. Und gebe zu bedenken, was mir aufgrund meines mangelnden Talents alles erspart bleibt: Ich bin noch nie beim Lampen-Fixieren von der Leiter gefallen, habe mir noch nie beim Brettersägen einen Finger amputiert oder beim Reparieren der Waschmaschine den Keller geflutet.

Denn wenn eines beim archetypischen Heimwerker-Mann kein Klischee, sondern Realität ist, dann ist das seine Neigung zur chronischen Selbstüberschätzung mit unabsehbaren Folgen für die Gesundheit. Aus welcher frühen Epoche der Evolution die stammt, mögen die Verhaltensforscher erklären. Jedenfalls ist es wohl kaum genetisch bedingt, wenn Mädchen mit Puppen spielen und kochen lernen, während Jungs irgendwas bauen und basteln. Der Handwerker, der vor Jahren fachkundig unseren Herd reparierte, war übrigens eine Handwerkerin. Wer hätte das gedacht?

Auch Kochen braucht „handwerkliches“ Geschick

Andererseits soll es ja immer noch Männer geben, die zwar hobbymäßig ohne Probleme ein ganzes Dach gedeckt kriegen, aber am Herd schon mit Spiegeleiern vollkommen überfordert sind. Da bin ich jetzt mal aus dem Schneider. Koch ist zwar offiziell kein Handwerksberuf, erfordert aber durchaus „handwerkliche“ Erfahrung.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich koche nämlich oft – und gut! Meint zumindest meine Frau. Im post-emanzipatorischen Zeitalter des 21. Jahrhunderts stellt sich darum die Frage: Warum müssen immer noch alle Männer Heimwerker sein und alle Frauen kochen können?

Martin Buchholz ist ein leidenschaftlicher Erzähler. Als Filmemacher in seinen TV-Dokumentationen für ARD und ZDF, als Songpoet und Referent in Konzerten und Gottesdiensten. Der studierte Theologe lebt mit seiner Frau in Rösrath bei Köln. (martinbuchholz.com)

Symbolbild: nensuria / iStock / Getty Images Plus

WOOP-Methode: So nutzen Sie Hindernisse, um Ihre Ziele zu erreichen

Der Griff zur Chipstüte fällt häufig viel leichter, als sich für einen Spaziergang aufzuraffen. Mit den vier Schritten der WOOP-Methode machen Sie sich Ihren größten Feind zum Verbündeten.

Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, heißt es im Volksmund. Aber warum eigentlich? Ein Grund ist, dass solche Vorsätze häufig eingefleischte Gewohnheiten betreffen, die vor heute auf morgen geändert werden sollen. Oder unsere ganz großen Lebensziele, wohl wissend, dass wir diese nie auf einen Schlag erreichen werden. Beides ist also eigentlich ein sicheres Rezept zum Scheitern. Die Psychologin Gabriele Oettingen erklärt, welche Fallstricke es noch für unsere Vorsätze gibt und wie wir auch anspruchsvolle Ziele wuppen.

Warum Veränderung so schwer ist

Häufig packen wir gerade Gewohnheiten an, die wir über Jahre „geübt“ haben, für die wir unsere unbewussten Programme und Routinen haben: Wann, wo und wie der Griff zur Zigarette oder zur Chipstüte passiert oder der Weg zum Sofa viel attraktiver erscheint als der ins Fitness-Studio.

Aber nicht nur dies: Unsere Änderungswünsche sind auch häufig zu diffus, keine klaren Ziele und ohne konkreten Plan. An mögliche Widrigkeiten denken wir erst recht nicht, die bringt das Leben von allein. So ist dann am Anfang die Motivation zwar groß, doch am Ende erlahmt die Willenskraft und alles bleibt beim Alten. Doch das muss nicht so bleiben.

Wie wir Veränderungen doch noch wuppen

An beschriebenen Fallstricken unserer Veränderungsprozesse setzt nun genau das WOOP-Modell von Gabriele Oettingen an. In zwanzigjähriger Forschung hat sie – zusammen mit Ihrem Mann Peter Gollwitzer – das „Mentale Kontrastieren mit Implementierungs-Intentionen“ entwickelt.

Weil dieser Begriff so sperrig und unverständlich klingt, hat sie der Methode den benutzerfreundlichen Zweitnamen WOOP beigelegt. In USA, wo Oettingen arbeitet, ist dieser Ausruf als „verbales Highfive“ üblich, wenn man über den gelungenen Ausgang einer Sache so richtig begeistert ist.

Dieser Name ist nicht nur viel cooler, jeder der vier Buchstaben steht dabei auch noch für einen konkreten Schritt auf dem Weg zur Veränderung:

  • W bezeichnet den Wunsch, Englisch wish, den man verwirklichen will.
  • Das erste O steht für outcome, das konkrete Ergebnis nach einer geglückten Veränderung.
  • Das zweite O sind die Hindernisse, Englisch obstacles, auf dem Weg zum Ziel.
  • Und P schließlich meint das Planen des Wegs zum Ziel und dem gewünschten Ergebnis sowie vor allem die Überwindung der Hindernisse.

Warum sollten genau diese vier Schritte die Lösung für all die unzähligen Vorsätze sein, die nach wenigen Wochen schon wieder gescheitert waren? Ein Beispiel soll sowohl den Ablauf als auch seine Wirkung erklären.

Vom Waschbärbauch zum Waschbrettbauch

Im jüngsten Marvelfilm Thor – Love and Thunder kann man den Donnergott erleben, wie er sich seinen Kummerspeck aus Avengers Endgame abtrainiert. Die Transformation vom Dad bod zum God bod, vom Waschbärbauch zum Waschbrettbauch, hat Thor-Darsteller Chris Hemsworth wahrscheinlich durch einen kurzen Gang in die Maske erledigt.

Nicht so bei mir. Meine Corona-bedingten Pfunde (durch die Pandemie und nicht das Bier!) sind nicht so leicht zu verlieren. Doch das unterschwellige Bodyshaming in solchen Superhelden-Filmen und die geringe Fitness machen den Verlust der Pfunde und den Aufbau von Kraft und Fitness durchaus attraktiv – auch wenn der gestählte Waschbrettbauch erst mal noch keine realistische Perspektive darstellt.

Wie das erste Pfund über die Wupper geht

Wie würde nun ein WOOP-Prozess in diesem Fall aussehen?

1. WISH – Den Wunsch konkret und klar formulieren

Der erste Schritt ist, einen konkreten Wunsch auszuwählen. Normalerweise haben wir einige unerfüllte Wünsche, aber eben nur begrenzte Willenskraft für eine Veränderung. Daher ist es wichtig, einen bestimmten auszuwählen. Optimal ist es, wenn dieser Wunsch herausfordernd, aber zum Beispiel in Monatsfrist umsetzbar ist.

Also nur die Pfunde verlieren und die auch nicht alle, sondern das erste binnen vier Wochen. Oder entsprechend für die Fitness: Hier geht es eher um die drei bis zehn Sit-Ups und weniger um eine tägliche Fünf-Kilometer-Laufrunde. Dieser Wunsch wird dann mit einer Frist von drei bis sechs Worten notiert.

2. OUTCOME – Das erreichte Ziel aufs Schönste ausmalen

Als Zweites geht es darum, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn der Wunsch aufs Schönste in Erfüllung ginge. Dazu versetzen wir uns in die Zukunft und nehmen diese mit allen Sinnen wahr. Dort stehe ich also vor meinem Kleiderschrank und kann meinen Gürtel eine Öse enger schnallen, während mir meine Frau anerkennend sagt, so gut hätte ich schon länger nicht mehr ausgesehen. Auch das wird mit einer Frist von drei bis sechs Worten schriftlich festgehalten.

3. OBSTACLES – Das zentrale innere Hindernis finden

Wenn unser Wunsch formuliert ist und wir uns dessen schönstmögliche Verwirklichung vorgestellt haben, geht es auf die Suche nach dem zentralen inneren Hindernis. Wir vergleichen dazu Gegenwart und Wunschvorstellung und fragen uns selbst nach dem Hindernis, das der Zielerreichung im Wege steht.

In meinem Fall wären dies meine Gewohnheit und das Bedürfnis, mich nach einem langen Tag am Rechner mit etwas Fettigem, Salzigen oder Zuckrigen zu belohnen – anstatt noch etwas Gesundes zu essen und einen strammen Spaziergang zu machen, was auch wieder Energie bringen würde.

Durch dieses mentale Kontrastieren von Zielvorstellung und hinderlicher Gewohnheit machen wir uns klar, dass es eben nicht nur eine lustvolle Gewohnheit ist, sondern das Hindernis schlechthin auf dem Weg zum Ziel.

Ich sehe mich also vor meinem inneren Auge mit Chips auf der Couch, während ich an die attraktive Szene vor dem Kleiderschrank denke. Diese widersprüchliche Vorstellung fordert dann meine Motivation und Entschlossenheit heraus: Will ich wirklich mit dem Kollaps auf dem Sofa meinen schönsten Moment sabotieren?

4. PLAN – Den Weg über das Hindernis hinweg planen

Was aber ist die Alternative zum Sofa? Wer jetzt noch nachdenken muss, hat schon verloren: Die gewohnte lustvolle Vorstellung von Entspannung wird über den Vorsatz siegen, sofern wir kein alternatives Programm parat haben, das wir automatisch abspulen können.

Die Lösung für dieses Dilemma verdanken wir Oettingens Mann Peter Gollwitzer. Er hat die Implementierungs- oder Umsetzungsintentionen erforscht. Was wieder sehr sperrig klingt, ist ganz einfach: Statt einen kompletten Plan für die Verwirklichung unseres Wunsches zu entwickeln, fokussieren wir uns bei WOOP unmittelbar auf die Überwindung eines konkreten Hindernisses.

Konkrete Schritte planen

Dazu überlegen wir uns die Situation, in der das Hindernis auftritt, und denken uns dafür konkrete Schritte aus, wie wir es anders machen können. Diesen neuen Weg halten wir schriftlich mit Sätzen nach dem Schema „Wenn X passiert, dann mache ich Y“ fest.

Konkret wäre das dann: „Wenn ich mit der Arbeit fertig bin, trinke ich erst einmal ein Glas Wasser und gehe eine Runde um den Block.“ Damit überwinde ich diesen Erschöpfungsmoment nach einer langen Arbeitssession, den ich bisher allzu oft mit einem Käsebrot bekämpft habe.

Ein Weg von 1.000 Meilen beginnt mit einem ersten Schritt

Anstatt zu versuchen, viele Wünsche auf einmal anzugehen und damit zu scheitern, fokussiert sich die WOOP-Methode auf eine machbare Veränderung. Nur versuchen gilt nicht. Ganz nach dem Spruch des Yedi-Meisters Yoda: „Do or Do Not. There is no try. – Tu es oder tue nicht. Es gibt kein Versuchen.“

Ist dieser Schritt geschafft, haben wir nicht nur unser Ziel erreicht, sondern auch unser Selbstvertrauen gestärkt. Das wiederum fördert auch unser psychisches Wohlbefinden und unsere Hoffnung auf gelingende Veränderung. Wir fühlen uns dann besser und sind optimistischer.

Probleme nach und nach lösen

So gestärkt können wir dann nicht nur die nächsten Pfunde oder das nächste Fitnesslevel in Angriff nehmen, sondern auch große und ehrgeizige Ziele, die das Leben lebenswerter machen. Aber eben eines nach dem anderen, wie schon der lebenskluge Papst Johannes XXIII. empfohlen hatte: „Nur für heute werde ich versuchen, den Tag zu leben, ohne die Probleme meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.“

Ziele zuverlässig erreichen

Ob es nun um kleine Tweaks zur Selbstoptimierung geht, um wichtige Kurskorrekturen oder das Erreichen großer eigener Lebensziele, mit der WOOP-Methode sind die vielen einzelnen Schritte leichter und zuverlässiger erreichbar.

Wer mehr über WOOP erfahren möchte, der findet in Oettingens Buch „Die Psychologie des Gelingens“ die ganze Story oder kann sich auf ihrer Webseite woopmylife.com Schritt für Schritt durch den Prozess führen lassen. Und welches Ziel werden Sie jetzt WOOPen?

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Roy Gerber mit seinen Hunden. (Foto: Reto Schlatter)

Roy schmeißt sein Millionärs-Dasein hin – und wird Therapiehundeführer

Roy Gerber besitzt einen BMW, eine Yacht und drei Firmen. Durch seine Golden Retriever-Hündin Ziba verliert er alles – und ist glücklicher als zuvor.

Als Inhaber von drei gutgehenden US-Firmen fährt er einen 7er-BMW, wohnt an der südkalifornischen Pazifikküste, lebt aber meist auf seiner Yacht in Huntington Beach. Er hat den Pilotenschein, besucht gern Pferderennen und lässt bei Frauen nichts anbrennen. Seine Chauffeur-Agentur „Private Driver“ ist in Hollywood beliebt und so feiert Roy Gerber bisweilen mit Sandra Bullock, Cameron Diaz oder den Spielerstars der Baseball- und Football-Szene. Bis er zufällig eines Samstagnachmittags einer alten Dame hilft, Heliumgas-Flaschen in ihren Kofferraum zu wuchten.

Im zweiten Anlauf schafft Gerber das Therapiehundeführer-Zertifikat

„Mit dem Helium blasen wir Luftballons auf. Unsere Gemeinde feiert eine Geburtstagsparty für sexuell missbrauchte Kinder. Kommen Sie doch mit“, sagt die Oma. Als Roy dort seine junge Golden Retriever-Hündin Ziba aus dem Auto springen lässt, ist sie bei den Kindern sofort der Star des Nachmittags.

Ein Hundetrainer fragt, ob er das Tier auf seine Eignung als Therapiehund testen dürfe. Roy ist einverstanden, nimmt an der Prüfung teil. Ergebnis: „Ziba könnten wir sofort gebrauchen. Sie nicht.“ Der ehrgeizige Unternehmer und gebürtige Schweizer nimmt das als Kampfansage. Im zweiten Anlauf macht er das Therapiehundeführer-Zertifikat.

Er lernt Leute der „Mariners Church“ kennen, im Gottesdienst singt ein Gospelchor, der Pastor predigt über Ehekrach und Vergebung. Roy Gerber hat eine geplatzte Verlobung hinter sich und wurde vor Kurzem von seiner neuen Freundin verlassen. „Meine Tränen flossen nur so und doch war ich dabei zutiefst glücklich. Der Gesang des Chores ließ eine geistliche Atmosphäre entstehen, die mich ins Herz traf und meine Sehnsucht nach Gott weckte.“

„Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“

Auf einer Sommerfreizeit für sexuell missbrauchte Kinder im Schulalter – organisiert vom Verein „Ministry Dogs“ der „Mariners Church“, die Mitarbeitenden sind Kinderärzte, Traumatherapeutinnen, ein ehemaliger Undercover-Ermittler des FBI und viele Ehrenamtliche – dürfen die Kinder und Teenies „Briefe an Ziba“ schreiben und die Umschläge offen lassen oder zukleben. In zugeklebten Umschlägen liest sie niemand, auch nach der Freizeit nicht.

Die Briefe in den offenen Kuverts darf Roy Ziba „vorlesen“. Was da an Elend und Schmerz, Demütigungen und sexuellem Sadismus angedeutet wird oder zu lesen ist, reißt ihn endgültig heraus „aus dem ganzen Unternehmer-Tralala und Karriere-Bling-Bling“. Am Abfahrtstag des Sommerlagers – keins der Kinder will nach Hause – steckt ein Mädchen eine rote Feder in Zibas Halsband und sagt zu Roy: „Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“ Es ist sein Berufungserlebnis. „I promise, I promise!“, ruft er heulend dem abfahrenden Bus hinterher.

Vom Millionär zum Tellerwäscher

Roy und sein Hund werden bei Überlebenden kalifornischer Waldbrände, in der Notfallseelsorge der Verkehrspolizei, in Altersheimen und Krankenhäusern therapeutisch eingesetzt. Was für ihn mehr Sinn macht, als Luftfilteranlagen und orthopädische Betten zu importieren oder Promis durch L.A. kutschieren zu lassen.

Mister Gerber verschenkt seine Betten-Importfirma und die „Private Driver“-Agentur an seine Mitarbeiter, weil er weiß: Der Verkauf der Luftfilter-Firma wird ihm Millionen bringen. Doch obwohl seine Anwälte und Banker wasserdichte Kaufverträge ausarbeiten, wird „Air Cleaning Solutions“ nach vier Jahren Rechtsstreit ein Raub mexikanischer Wirtschaftskrimineller.

„Ich hatte als 23-Jähriger in der Schweiz manchmal 35.000 Franken im Monat verdient. Jetzt, mit 39, waren die Millionen futsch und ich ganz unten angekommen.“ Er jobbt bei einer Cateringfirma, studiert Theologie, wird zum „Chaplain“ seiner Gemeinde ordiniert – „Krankenbesuche kannte ich ja, aber Trauungen und Beerdigungen musste ich erst lernen“ – und gründet das „Chili Mobile“ für Obdachlose und Drogenabhängige, eine fahrende Essensausgabe.

Zurück in die Heimat

„Gott bläst einem ja nicht mit dem Alphorn ins Ohr. Er bevorzugt leise Töne“, sagt Roy, als er während einer Gebetszeit dem Impuls folgt, für „Pennerpfarrer“ Ernst Sieber in Zürich zu beten. In den 90er-Jahren ist das „Sozialwerk Ernst Sieber“ ein medienpräsent angesehenes Hilfswerk für Obdachlose, Prostituierte und Drogensüchtige in der Schweiz. Roy ruft ihn an. Einfach so. Und Sieber sagt: „Wir suchen einen Stellvertreter für mich. Komm rüber!“

Es wird das Ende einer bewegten US-Karriere, der Anfang eines neuen Lebens im alten Herkunftsland. Vier Jahre arbeitet Roy Gerber in der „Sonnenstube“ Zürich, hat aber in Gesprächen mit Hilfsbedürftigen oft das Gefühl, nur den Symptomen und nicht den Ursachen abzuhelfen. Der eigeninitiative Gründer in ihm, der Start-up-Unternehmer, scharrt innerlich mit den Hufen.

„Jährlich 50.000 Minderjährige in der Schweiz sexuell missbraucht“

Ihn irritiert, warum in der Schweiz das Thema sexueller Missbrauch so oft mit Schweigen belegt wird. Auch und gerade in christlichen Kreisen. „Laut Medicus Mundi-Studie werden hier jährlich rund 50.000 Minderjährige sexuell missbraucht, ins öffentliche Bewusstsein ploppt das erst, wenn wieder mal ein Kinderporno-Ring entdeckt wird. 55 Prozent der bipolaren Störungen, 80 Prozent der Borderline-Störungen, Magersucht, dissoziative Störungen, Lern- und Konzentrationsschwächen sind oft auf Missbrauch zurückzuführen.

Der wird aber erst vermutet, wenn physische Gewalt nachweisbar ist? Dann sollten die Opfer eine geschützte Gelegenheit bekommen, zu reden. Was sie nicht tun, solange ihre Angst bedrohlicher ist als ein Messer. Aber auch die Angst der Mitarbeitenden muss aufhören, in Kitas, Schulen, Vereinen und Kirchen verdächtige Beobachtungen zu melden. Es geht nicht um Generalverdacht, sondern um qualifizierte Hilfe für verstummte Opfer.“

„Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler“

Roy Gerber, eine Kinderärztin, ein Staatsanwalt, drei Polizisten, zwei Sozialpädagoginnen, ein Treuhänder und etliche beratende Experten gründen 2012 den Verein „Be unlimited“ und dessen „Kummer-Nummer“, eine schweizweite Telefon-Hotline, anonym und kostenlos, täglich rund um die Uhr mit geschulten Zuhörenden besetzt. „Wir sehen keine Nummer auf unseren Displays, es wird nichts aufgezeichnet, wir geben keine Infos an die Polizei, weil das zunächst die Opfer gefährden könnte.

Wir sagen auch nie ’sexueller Missbrauch‘, sondern fragen nach ‚Kummer‘ und nach ‚Ermutigung‘. Wenn ein Kind oder Jugendlicher es wünscht, fahren wir auch hin. Immer zu zweit, immer mit Therapiehunden. Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler. Kommt es zu polizeilicher Strafverfolgung, können wir helfen, Kinder in sicheren Pflegefamilien unterzubringen.“

Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt

„Der 17. Dezember 2013 war einer der traurigsten Tage meines Lebens.“ Als Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt, ist Roy Gerber todunglücklich. „Sie lag im Helikopter neben mir, wenn wir zu Waldbränden flogen. Sie begleitete mich zu Gefängnisbesuchen und Ferienlagern. Sie tröstete unzählige Kinder in Krankenhäusern und Heimen. Durch Ziba hatte ich meine Berufung gefunden. Jetzt musste ich sie gehen lassen.“ Das Mädchen vom Sommerlager in Kalifornien hat er nie wiedergesehen. Ihre rote Feder aus Zibas Halsband aber, die hat er immer noch.

Andreas Malessa ist Journalist. Aktuell von ihm erhältlich sind die Titel: „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Am Anfang war die Floskel“ (bene!).

Kummer-Nummer: Hast Du Kummer … und bist dir nicht sicher, wohin damit? Und schämst dich, darüber zu sprechen? Weil du unsicher bist, ob etwas, das du erlebt hast, normal ist? Wir können dir weiterhelfen: Tel: 0800 66 99 11; E-Mail: Help@kummernummer.org Anonym, diskret, kompetent, gratis, rund um die Uhr. www.kummernummer.org

Mehr zu Roy Gerber: „Mein Versprechen“ (Fontis)

Andrea Zogg (links) und Marco Schädler in Stefan Zweigs "Die Auferstehung des Georg Friedrich Händel". (Foto: profile productions)

„Was hab‘ ich Angst gehabt“: Plötzlich fürchtet Tatort-Kommissar Andrea Zogg um seine Karriere

Mit Anfang 50 kann Andrea Zogg immer schlechter Texte auswendig lernen. In seiner Verzweiflung hilft ihm der Komponist Georg Friedrich Händel.

Manchmal sind es bis zu 12 Millionen Leute, die sonntagabends „Tatort“ gucken. Spielte die Folge in Bern, war Andrea Zogg der Kommissar. Im „Tatort“ aus Zürich ist er mal der Bösewicht, mal der Retter. Die Staffeln der Serie „Zürich-Krimi“ heißen immer „Borchert und …“, Andrea Zogg hat darin mehr als zehnmal mitgespielt, 2011 war er für den Schweizer Filmpreis als „Bester Darsteller“ nominiert, 2020 als „Beste Nebenrolle“ im Film über den Schweizer Reformator Ulrich Zwingli und, ja, einmal gab’s sogar einen Oscar für den besten ausländischen Film. Im aktuellen Kino-Blockbuster „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ steht Andrea Zogg an der Hotelrezeption.

Auf der Bühne, am Konzertflügel, sitzt Georg Friedrich Händel (1685–1759) mit Perücke und Schnallenschuhen. Am Schreibtisch steht Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) und erzählt, wie Händel tödlich erkrankt zu Boden fällt – ein Schlaganfall? Ein Herzinfarkt? Und der Notarzt sagt: „Er wird nie mehr komponieren können.“

Tatort-Kommissar singt Kirchenlieder

Schauspieler Andrea Zogg weiß, wie man mit sonorer Sprechstimme und wenigen ausdrucksstarken Gesten das Publikum auf die vorderen Stuhlkanten lockt. 70 spannende Minuten lang rezitiert er auswendig, wie G.F. Händel aus Halle in Sachsen überraschend gesund wird, sich 1741 in seiner Londoner Wohnung einschließt und in nur 23 Tagen sein berühmtestes Werk schreibt: „Der Messias.“ Seit 250 Jahren wird es von vielen Chören und Orchestern der Welt aufgeführt, meist zu Ostern, und selbst religionsferne Tatort-Gucker würden etliche Melodien daraus wiedererkennen.

Den Zuschauern stockt der Atem: Andrea Zogg kann Teile aus Händels „Messias“ richtig gut singen! In einer Art szenischer Popversion, während Pianist Marco Schädler ein furioses Medley inklusive „Stairway to heaven“ oder „Crazy Diamond“ von Pink Floyd drunterlegt. Und dann setzt er noch einen drauf: Das „Große Halleluja“ singen die Zuschauer begeistert mit.

Ein Schauspieler, der Texte vergisst

„Das war meine Auferstehung“, erzählt Andrea ganz untheatralisch nach der Show, „ich war Anfang 50 und konnte immer schlechter Texte behalten. Katastrophal für einen Schauspieler: Du bist nicht gut im Auswendiglernen?! Was hab‘ ich Angst gehabt am Filmset, was hab‘ ich mich durchgemogelt! Kleine Zettel in die Möbel oder in die Kostüme gesteckt, genuschelt, geschummelt – und dann wurde ich auch noch krank. Irgendein Virus. Da las ich Stefan Zweigs ‚Die Auferstehung des Georg Friedrich Händel‘ und dachte: Das muss man mal aufführen! Meine Frau sagte: ‚Das schaffst du nicht mehr. Eine Stunde Text? Solo?'“

Andrea Zoggs Elternhaus in einem Graubündner Dorf war nominell evangelisch, aber nicht religiös. „Meine Oma gab mir eine Kinderbibel, da fand ich nur die Bilder mit Schlangen und wilden Tieren interessant. Dann flog ich von der Schule wegen schlechtem Betragen, kam auf ein Internat und ging in den Schulchor, Händels ‚Messias‘, ein Jahr lang geprobt. Wir waren so geflasht von der Wucht der Texte und der Musik, das haben wir noch nachts in der Kneipe gesungen.“

„Nach 16 Jahren mit einem behinderten Kind waren unsere Batterien einfach leer“

Er fällt an der Schauspielschule durch die Prüfung, studiert Geschichte und Germanistik auf Lehramt, seine Schwester wird Theatermalerin an der Landesbühne Hannover und der Berliner Schaubühne. Durch ihre Vermittlung wird er doch noch angestellt, macht Karriere am renommierten Frankfurter Theater am Turm, am Schauspielhaus Wien, am Theater St. Gallen, wird fürs Fernsehen und Kino entdeckt, heiratet, bekommt drei Söhne und – zieht mit seiner Familie in jenes Schweizer Bergdorf zurück, „wo die Betreuung unseres autistisch-epileptischen Jungen besser gewährleistet ist. Nach 16 Jahren mit einem behinderten Kind waren unsere Batterien einfach leer.“

Andrea Zogg macht eine Pause. Was er und seine Frau durchgestanden haben, ist vorstellbar. Harte Medikamente, heftige Nebenwirkungen, Unfälle im Haushalt, kaum gesundheitliche Fortschritte. „Unser mittlerer Sohn ist jetzt 33 und lebt im betreuten Wohnen auf einem Bauernhof, es geht ihm gut. Der ältere und der jüngste sind beruflich bei Filmproduktionsfirmen gelandet.“

Gedächtnisprobleme verschwinden

Jetzt grinst Andrea wieder: „Ich las von Georg Friedrich Händel am Tiefpunkt seines Lebens, wie er von der Auferstehung des Jesus Christus singt und musiziert. Und dabei seine eigene körperliche, mentale und künstlerische Auferstehung in nur drei Wochen erlebt. Ich lernte den Text von Stefan Zweig und – es ging plötzlich! Ich hab‘ seither keine Gedächtnisprobleme mehr beim Drehen. Als meine Mutter mit 95 Jahren starb, bot ich dem Pfarrer an, das Stück an ihrer Trauerfeier vorzutragen. Es war die erste Aufführung, die Marco Schädler und ich in einer Kirche machten. Meine Auferstehung, wenn du so willst.“

Andreas Malessa (66) wurde bekannt als Teil des Gesangsduos „Arno & Andreas“ und gab rund 1.400 Konzerte im In- und Ausland. Nach Abitur und Theologiestudium in Hamburg zog der „überzeugte Norddeutsche“ als Wahl-Schwabe in die Nähe von Stuttgart, ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert verheiratet, hat zwei fast erwachsene Töchter, liebt Fernreisen, gute Romane, Rotwein und kritisch mitdenkende Zuhörer.

Symbolbild: enigma_images / E+ / Getty Images

Traumjob gesucht: Jetzt ist der Moment, um neu anzufangen

Die Angst vor dem Scheitern hindert viele Männer daran, beruflich neu anzufangen. Coach Bernhard Fanger weiß, was es braucht, damit Träume wahr werden.

Mal vorweg gefragt: Sind eher Männer oder Frauen unzufrieden mit ihrem Job?

Bernhard Fanger: Dazu gibt es Studien, die mal das eine und mal das andere sagen. Angeblich sind es tendenziell eher Frauen, die unzufrieden sind. Ich glaube nicht, dass das so geschlechtsspezifisch ist, sondern vielmehr aus der persönlichen Lebenssituation entsteht.

Ich finde, dass Frauen nach wie vor nicht immer die berufliche Anerkennung bekommen, die sie verdienen. Vielleicht deshalb die eher höhere Unzufriedenheit. Männer halten oft Situationen aus, eine toxische Arbeitsumgebung wird da eher als „normal“ gesehen, weil „Mann“ es halt nicht anders kennt.

Sie waren Führungskraft und Vorstand in verschiedenen Technologieunternehmen, bevor Sie für sich einen anderen Weg wählten. Was war der entscheidende Moment, noch einmal neu anzufangen?

Ich war damals schon länger latent unzufrieden mit meiner beruflichen Situation. Sowohl unterfordert und frustriert, was Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten anging, als auch überfordert durch die schiere Anzahl von Aufgaben. Ich merkte, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Aber ich hatte anfänglich auch absolut keine klare Vorstellung, was stattdessen meine berufliche Zukunft sein könnte.

„Manche brauchen nur etwas Orientierung“

Sie coachen männliche Führungskräfte, die etwas Neues beginnen möchten. Was bewegt diese dazu?

Das ist so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Da gibt es sowohl die Männer, die ihren langjährigen Traum umsetzen wollen, als auch diejenigen, die schlicht in ihrem jetzigen Umfeld frustriert und ausgebrannt sind.

Manche brauchen nur etwas Orientierung, einen kompetenten Gesprächspartner, unabhängiges Feedback. Andere sind einfach erschöpft und ohne Ideen, wie es weitergehen kann. Und dann gibt es diejenigen, die schon eine ganz genaue Vorstellung haben und vielleicht nur Bestätigung oder Ermutigung brauchen.

„Beim Formulieren von Wünschen wird mir selbst oft vieles klarer“

Was empfehlen Sie Männern, die herausfinden wollen, was wirklich in ihnen steckt? Die noch unschlüssig sind, wofür sie sich tatsächlich begeistern können?

Sich selbst kennenzulernen ist wichtig: Was will ich, was sind meine Stärken, wie komme ich in einen Flow? Ein weiterer wichtiger Faktor ist, mir selbst Zeit zu geben, mal eine Pause zu machen von der permanenten Geschäftigkeit.

Gut ist auch, mich auszutesten, etwas Neues auszuprobieren, gerade wenn ich noch nicht der Experte bin. Also mal vorher im Hotel arbeiten, wenn ich eines eröffnen will. Oder auch eine ehrenamtliche Aufgabe übernehmen, zum Beispiel wenn ich noch gar keine Ahnung habe, wo es hingehen soll. Es hilft auch sehr, sich auszutauschen mit anderen. Nicht nur um Tipps und Ideen zu bekommen – beim Formulieren meiner Wünsche und Ideen wird mir selbst oft vieles klarer.

„Riesige Angst vor Statusverlust“

Aus Ihrer Erfahrung: Was sind die größten Hürden für einen gelungenen Neustart? Mit welchen Ängsten kämpfen die Männer, die zu Ihnen kommen?

In der Regel werden fehlende Zeit, fehlendes Geld oder fehlende Ideen als Gründe genannt, mit einer Neuorientierung zu warten. Meiner Meinung nach liegen die Gründe tiefer. Es gibt gerade bei uns Männern eine riesige Angst vor Statusverlust und vor dem Scheitern. Wer sind wir, wenn wir nicht mehr die tollen Hechte im Berufsleben sind? Wie reagiert mein Umfeld, wenn es nicht klappt mit meiner neuen Idee? Das macht Angst!

Ein weiterer Faktor ist, dass wir wenig positive Vorbilder haben. Wir blicken auf zu Leuten wie Richard Branson oder Steve Jobs, aber die schweben in einer anderen Dimension, die haben eher die Aura von Popstars. Unerreichbar. Deshalb war es mir wichtig, für das Buch mit „ganz normalen“ Männern zu sprechen, die alle erst später in ihrer Karriere ihr eigenes Ding starteten.

„Es ist nie der exakt richtige Zeitpunkt“

Durch die Corona-Krise ist in der Wirtschaft eine große Unsicherheit zu spüren. Viele fürchten um ihren Arbeitsplatz. Ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt für einen Neubeginn? Oder ist die Zeit des Umbruchs vielleicht sogar eine Chance?

Es ist nie der exakt richtige und nie der komplett falsche Zeitpunkt. Es hängt deutlich weniger von den äußeren Umständen ab und viel mehr davon, was ich selbst möchte und wie ich mich gestalte. Sonst hätte nach dem Zweiten Weltkrieg niemand ein Unternehmen gestartet – bei so viel Unsicherheit, so viel Zerstörung, so wenig Kaufkraft …

Vielleicht muss ja auch nicht gleich der komplette Wandel sein. Reicht nicht manchmal auch nur eine Kurskorrektur?

Das ist sogar in sehr vielen Fällen so. Es ist deshalb ganz wichtig, herauszufinden, ob meine Unzufriedenheit und Erschöpfung tatsächlich am Job liegen oder ganz andere Ursachen haben. Sonst gebe ich meinen Job auf und bin weiter unzufrieden. Bei Weitem nicht jeder muss sich auf neuen Pfaden selbst verwirklichen, aber jeder sollte wissen, was ihm guttut und was nicht.

„Ein Manager, der seine eigene Kaffeerösterei aufgebaut hat“

Können Sie uns ein paar Beispiele aus Ihrer Praxis nennen von Männern, die ihr Leben umgekrempelt haben? Gibt es die Geschichten vom unzufriedenen Topmanager, der jetzt glücklicher Weinbauer ist?

Die gibt es in der Tat, und mein Buch ist voll von diesen Geschichten: ein Manager, der seine eigene Kaffeerösterei aufgebaut hat. Eine Führungskraft, die ein Boutique-Hotel in denkmalgeschütztem Gemäuer gebaut hat. Ein Marketingleiter, der nachhaltiges Fertigessen produziert. Ein Weinbauer war nicht dabei, aber ein Weinhändler, der auch weiterhin seinen Job als Personalmanager gut ausfüllt.

Sie haben für Ihr Buch mit verschiedenen Männern über deren Neuorientierung gesprochen. War es schwierig, Ihre Gesprächspartner zu einem offenen Gespräch zu ermutigen?

Es war überraschend einfach. Vielleicht auch, weil meine Gesprächspartner alle voll hinter ihrer Idee stehen. Ich habe so viel Offenheit erfahren und auch sehr viel Ehrlichkeit. Gerade was die Ängste anbelangt, die Schwierigkeiten bei einem Neuanfang, die finanziellen Einbußen, die Zeitdauer, bis ein neues Projekt ins Laufen kommt, die Bedeutung des Partners dabei. Schön war, dass kaum einer meiner Protagonisten die Schuld „der Firma“, also ihrem vorherigen Arbeitgeber, gab. Vielmehr haben sie selbstverantwortlich nach dem besten Weg für sich gesucht.

„Verständnis ist auch schon Unterstützung“

Wer sollte Ihr Buch lesen? Vielleicht sogar die Ehefrau oder Partnerin, die ihren Mann beim „Spurwechsel“ unterstützen möchte?

Eine gute Frage. Ich habe erlebt, dass die Partnerin oft schon früher merkt, wenn mit ihrem Mann etwas nicht stimmt, wenn Frust und Unzufriedenheit überhandnehmen. Männer lassen diesen Frust dann gerne am persönlichen Umfeld, an der Familie und der Partnerin aus. Das ist nicht nur unfair, sondern auch in keiner Weise hilfreich. Vielleicht gibt es Frauen, die ihren Mann so unzufrieden erleben und ihm mit dem Buch ein paar Denkanstöße geben wollen.

Mein Buch hat zwar „Mann“ im Titel, aber die meisten Kapitel sind für Frauen genauso relevant und interessant. Vielleicht werden manche Frauen überrascht sein, mit welchen Themen und Ängsten sich ihre Männer herumschlagen. Und Verständnis ist auch schon Unterstützung.

Bernhard Fanger ging aus einer Konzernkarriere in die Selbstständigkeit und ist heute Mentor und Management-Coach. Als ehemaliger Geschäftsführer, Vorstand und Aufsichtsrat in mittelständischen Technologieunternehmen weiß er, wo vielen Männern der Schuh drückt. fanger.de

Der Kneipenpastor Titus Schlagowsky (Foto: Rüdiger Jope)

Morgens stehen zwei Steuerfahnder im Schlafzimmer: So wurde Titus vom Kriminellen zum Kneipenpastor

Titus Schlagowsky war Schläger, Säufer und Schwindler. Im Knast wollte er sich erhängen. Heute ist er Kneipenpfarrer.

So eine Geschichte kann man sich nicht ausdenken! Wir sind durch Nastätten gekurvt, einem kleinen Städtchen im westlichen Hintertaunus, 4.000 Einwohner. Jetzt stehen wir in der kleinen Kneipe des Ortes. Früher Abend, gedämpftes Licht, Stimmengemurmel. Wimpel der Biermarke Astra und von Borussia Dortmund hängen wild verteilt herum. Es ist noch leer, fünf, sechs Leute stehen um den Tresen. Sie fußballfachsimpeln, frotzeln, lachen, rauchen.

Hinterm Tresen steht Titus Schlagowsky. Der Wirt, ein großer kräftiger Typ, auf dem Kopf fast kahl, Vollbart, zieht genüsslich am Zigarillo. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, eine Lederweste und sein Herz auf der Zunge, wie sich in den nächsten Stunden zeigen wird.

Seit ein paar Monaten ist er über seine Kneipe und Nastätten hinaus bekannter geworden: als „Kneipenpastor“. Früher wollte er mal nach Island auswandern, hat mehrere gescheiterte Beziehungen und Insolvenzen hinter sich, im Knast gesessen … Und ist heute Pastor? In einer Kneipe? Es ist viel passiert, bis wir an diesem Abend im Oktober 2021 beim Bier zusammensitzen.

„Keine Schlägerei ohne mich!“

Titus Schlagowsky ist Sachse, 1969 geboren, aufgewachsen in einem Vorort von Crimmitschau, in einer christlichen Familie. „Ich war nicht staatlich ‚jugendgeweiht'“, erzählt er. Seine Kindheit und frühen Jugendjahre hat er in guter Erinnerung, „die Kirche hat mir Rückhalt gegeben“. Es machte ihn aber auch zum Außenseiter, der von Mitschülern gemobbt wurde, nachdem die Familie in die Stadt umgezogen war. Eines Tages wehrt er sich, schlägt mehrere seiner Mitschüler nieder. Von da an war sein Motto: „Keine Schlägerei ohne mich!“

Zu den Prügeleien kommt der Alkohol. Nach der Schule lernt er Schreiner und säuft so viel, dass er am nächsten Tag oft „nicht mehr weiß, was oben und unten ist“. Auch in Sachen Glauben macht er jetzt sein „eigenes Ding“, wird ein „typischer U-Boot-Christ“, wie er das nennt: „An Weihnachten auftauchen, wieder abtauchen, Ostern auftauchen, wieder abtauchen … Das war’s.“ Auch von der DDR hat er die Nase voll. Gleich nach der Wende 1989 verschwindet er mit seiner damaligen Freundin in den Westen, landet über Verwandte, die in Bad Nauheim leben, in Nastätten.

Dicke Autos und große Häuser

In den nächsten Jahren wird’s richtig wild. Titus Schlagowsky hangelt, mogelt und schummelt sich durch, eckt an. In seinem neuen Schreinerbetrieb belegt er einen Meisterkurs, wird kurz vor der Prüfung gefeuert, erklärt sich aber wie ein Hochstapler schon mal („mit wohlwollendem Blick auf die Zukunft“) zum Schreinermeister.

Als er den Meisterbrief endlich in den Händen hält, lebt er auf viel zu großem Fuß: dicke Autos, große Häuser, er betankt Firmenfahrzeuge mit billigem Heizöl statt Diesel, wird erwischt; muss bald Insolvenz anmelden. Obendrein drängt er seine neue Lebenspartnerin, die unter einer Bulimie-Essstörung leidet und ein Kind von ihm erwartet, zur Abtreibung; sie verlässt ihn …

In Haft wegen Steuerhinterziehung

Schlagowsky will auswandern, nach Island: sein Traumland. Da lernt er seine heutige Frau Andrea kennen. Das Paar wagt einen Neuanfang, ackert ohne Finanzpolster, bringt mit Freunden und gesammelten Einrichtungsgegenständen aus aufgegebenen Bäckereien quer durchs Land ihr neues Café mit Kneipe auf Vordermann – und dann stehen eines Morgens um fünf Uhr zwei Steuerfahnder im Schlafzimmer … Zum Verhängnis wird Titus Schlagowsky, dass er bei seinem Neuanfang Privat- und alten Firmenbesitz beim Verkauf vermischt und Löhne, Überstunden unter Umgehung der Lohnsteuer bar aus der Kasse bezahlt, auch Einkäufe bei Lieferanten ohne Rechnung begleicht.

Nach jahrelangen Ermittlungen wird im März 2012 der Haftbefehl gegen ihn vollstreckt. Verurteilt zu drei Jahren und drei Monaten wegen Steuerhinterziehung, landet er im Knast, Haftnummer 39 812. Im Juli ist er fertig. Die Zelle ohne Fenster, 24 Stunden künstliches Licht, „Lebensüberwachung“ alle 20 Minuten. Er will sich umbringen.

Suizidversuch im Knast

Der Strick, eine in Streifen geschnittene Jogginghose, ist gedreht, sein Abschiedsbrief geschrieben, als der Kuli unters Bett rollt. Er kniet davor und denkt sich: „Jetzt kannste auch noch ’ne Runde beten.“ Es wird das längste Gebet seines Lebens, er heult Rotz und Wasser, und merkt, dass „auf einmal alles anders“ geworden ist, er „eine andere Einstellung zum Leben“ gewonnen hat. Und er vernimmt Gottes Reden: „Ich hab noch was vor mit dir.“

Noch im Knast wird er zum „Müllschlucker“: Andere Knackis, die von seiner Veränderung gehört haben, kippen in Gesprächen ihren Müll bei ihm ab. Er wechselt bald ins Freigängerhaus und wird Ende November 2013 vorzeitig entlassen, allerdings mit vier Jahren Bewährung. Wieder „draußen“, macht er eine Prädikantenausbildung, ist seit 2016 Laienprediger der evangelischen Kirche und hat in den folgenden dreieinhalb Jahren 265 Predigten gehalten. Demnächst will er noch seine kirchliche Diakonen-Ausbildung abschließen.

BILD-Schlagzeile in einer Predigt

Jetzt, bei unserem Besuch im Oktober, steht er abends in seiner Kneipe, hat T-Shirt und Weste gegen ein schwarzes Kollarhemd mit grüner Stola getauscht. Die Musik aus dem Radio ist abgedreht, Gäste hocken am Tresen und in den Bänken, gut 30 Leute insgesamt, es ist eng. An einem Tisch proben Gabi Braun am Akkordeon und Heiner Keltsch auf dem E-Piano ein paar Takte, ein Elektrotechniker aus der Nachbarschaft hat Licht und Kameras aufgebaut, um die Kneipen-Andacht, die hier gleich abläuft, aufzuzeichnen. Sie wird später auf YouTube zu sehen sein.

Titus startet mit einem Wochenrückblick, macht eine launige Bemerkung zu einer BILD-Schlagzeile. Dann geht es schnell zur Sache. Grit, eine Mitarbeiterin, liest aus Psalm 32 und Titus holt den Bibeltext in die Kneipen-Atmosphäre, spricht von Krankheit, Leid und Dankbarkeit. Er kennt die Leute hier, spricht sie direkt an: „Ute, Rudi – was denkt ihr?“

„In der Kneipe predige ich nicht!“

Mittendrin zapft Chantal am Tresen still ein Bier. Zum Ende lädt Titus seine kleine Gemeinde ein: „Wenn ihr eine Krankheit überwunden habt, dann bedankt euch – und nehmt Gott beim Dank mit ins Boot! Denn nicht die Glücklichen sind dankbar, sondern die Dankbaren sind glücklich.“ Gabi und Heiner spielen noch ein Lied, einige murmeln das Vaterunser mit. Segen. Ein paar Gäste bekreuzigen sich.

Schlagowskys „Karriere“ als „Kneipenpastor“ begann erst vor gut einem Jahr: An einem Abend wollte er sich kurz zurückziehen, um im Bierkeller seine nächste Predigt nochmal laut zu proben. „Das kannst du doch auch hier machen“, meint ein Gast. „Klar, ich predige hier in der Kneipe – so einen Scheiß mach ich nicht!“, wehrt Titus mit gewohnt großer Klappe ab. Als aber noch andere Gäste ihn auffordern, hält er tatsächlich seine erste Kneipenpredigt.

Kirche bei einem Glas Bier

Inzwischen lädt er zweimal im Monat zu Gottesdiensten ein. Und landet oft bei dem Gedanken: „Jeder Mensch hat eine zweite Chance, so wie ich“, vor allem beim „Chef“, wie er Gott nennt. Seinen Gästen gefällt’s. „Ich habe wie Titus am Boden gelegen. Der labert nicht nur vom Leben, sondern der weiß, wie es ist. Mit seinen Predigten spricht er mir aus der Seele“, bekennt Axel (59).

Neben ihm sagt Frank (61): „Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil sie mir nichts zu sagen hatte. Die Pfarrer sind so weit weg vom Leben! Hier verstehe ich die Bibel.“ Kevin (45) ist richtig begeistert: „Kirche nicht altbacken, sondern an meinem Leben dran. Und das bei einem Glas Bier. Wo gibt’s denn sowas!“

Würde Jesus heute in die Kneipe gehen? Titus lacht. „Ja, da bin ich mir sicher. Der hat sich zu allen gesellt.“ Auch Pfarrerinnen und Pastoren, Christen überhaupt sollten ruhig öfter mal in die Kneipe gehen.

Harte Kritik an der Kirche

„Ich glaube, das ist eine Aufgabe“ – um mit den Menschen zu reden, sich ihre Fragen anzuhören, findet er: „Ich gehe teilweise hart ins Gericht mit meiner Kirche, weil der Bezug zu den Leuten immer weiter verloren geht. Das tut mir in der Seele leid.“ Er selbst hat im Treppenhaus hinter der Kneipe einen Stuhl stehen. Dahin zieht er sich mit Gästen zurück, wenn einer von ihnen mal reden will: „Es landet alles bei dir: Ehekrisen, Alkoholprobleme, Kinderärger, Altersfrust …“

Die Worte des Kneipenpastors bleiben nicht ohne Wirkung. Gabi, die Akkordeonspielerin, sagt nachdenklich: „Jahrzehnte hat Gott für mich keine Rolle gespielt, ich bin aus der Kirche ausgetreten. Titus hat mit seinen Gottesdiensten etwas in mir zum Klingen gebracht. Ich bin Gott nähergekommen. Vielleicht trete ich bald wieder ein.“

Jörg Podworny ist Redakteur des Magazins „lebenslust“.

Lesetipp und mehr: Der Kneipenpastor. Wie Gott mein Versagen gebraucht, um Herzen zu verändern (SCM Hänssler)

Foto: Privat

Vor dem Nichts: Wie ein Fotograf in der Krise den Livestream entdeckte

Im Lockdown stand der Fotograf Frank Wiedemeier vor dem Nichts. Doch die Krise half ihm, einen ganz neuen Berufszweig für sich zu entdecken.

Innerhalb eines Jahres hat sich mein berufliches Leben komplett verändert. Noch im März 2020 sah alles rosig aus. Der alljährliche Skiurlaub in den Alpen mit guten Freunden begann am Frühstückstisch zwar immer mit einem Blick auf die aktuelle Viruslage, aber schnell waren wir bei den Wetteraussichten für den Tag, parlierten über Temperaturen, Sonnenstunden und Abfahrtsrouten. Doch plötzlich, als hätte jemand den Zeitraffer angestellt, ging es Schlag auf Schlag. Und während auf der österreichischen Seite die Pisten geschlossen wurden, war auf der Schweizer Seite noch die Rede von reduzierten Liftpreisen, weil man ja nun nur in der Hälfte des Skigebiets unterwegs sein könne. Doch der Wunsch nach Schweizer Virus-Neutralität hielt nicht lange. Am 13. März 2020 wurden alle Pisten der Silvretta Arena geschlossen und die Gäste zur geordneten Rückreise aufgefordert. Genossen wir vor drei Tagen noch Pulverschnee und Après-Ski, so wurden wir bei der Einreise nach Deutschland dazu aufgefordert, freiwillig für 14 Tage in Quarantäne zu gehen. Willkommen in der Realität.

Absage folgt auf Absage

Die Folgen für mich als freiberuflicher Fotograf kamen in rasender Geschwindigkeit. Veranstaltungen, die ich dokumentieren sollte, wurden ebenso wie gebuchte Workshops und Seminare abgesagt. Mein noch im Frühjahr 2020 neu eingerichtetes Fotostudio, das ich nach einem erfrischenden Urlaub richtig beleben wollte, konnte ich wieder verschließen. Es hagelte Jobabsage auf Jobabsage. Was also tun, wenn das Geplante überhaupt nicht mehr funktioniert? Wenn die Haushaltsplanung zur Makulatur wird, wenn Kosten weiterlaufen, der nächste Erste schneller da ist, als man schauen kann, wenn angesparte finanzielle Reserven wie Schnee in der Frühjahrssonne dahinschmelzen? Eines war mir schnell sonnenklar: Es galt, das Ruder binnen kürzester Zeit herumzureißen. Aber auf welchen Kurs?

Alles begann mit einer schlichten Bestandsaufnahme. Was kann ich? Was habe ich? Was könnte gebraucht werden? Was kann ich anbieten, um eine neue berufliche Perspektive zu gewinnen? So sonderbar es aus heutiger Sicht auch klingen mag, aber mir schoss damals der Gedanke „Livestreaming“ durch den Kopf. Möglicherweise auch, weil sich unsere Kirchengemeinde mit der Aufgabe konfrontiert sah, eine Möglichkeit zu suchen, um im Lockdown Menschen einen sonntäglichen Gottesdienst bieten zu können. Alles, was ich zum Streaming benötigte, hatte ich bereits in meinem Studio. Licht, Kameras, Stative, Computer, Glasfaseranschluss. So begann der erste Gedanke, konkrete Formen anzunehmen. Wie ein trockener Schwamm sog ich jede Information zum Thema Livestreaming auf, die ich finden konnte.

Langsam wächst das Wissen

YouTube-Videos zu Hard- und Software, unzählige Anwenderberichte füllten meinen Alltag. Kürzel wie RTP, RTSP, WebRTC, SRT, NDI, DVE, LUT, BT.709 oder 12G-SDI zogen in meinem Kopf ein und erschlossen sich mir nach und nach. Doch grau ist alle Theorie. Praxis musste her, und zwar schnell. Bereits im ersten Monat mit meinem neuen Arbeitsgebiet begann ich mit der Übertragung des sonntäglichen Gottesdienstes. Zunächst mit einer Kamera, dann – man will den Zuschauern ja etwas bieten – mit einer zweiten Kamera. Mit jedem dieser Livestreams nahm die Erfahrung zu, wuchs das Verständnis: Ton über XLR ist schneller als das Videosignal über HDMI, die Latenz zwischen der Aufnahme vor Ort und dem Stream auf der Webseite liegt schon mal bei 30 Sekunden, ein Kamerawechsel sollte nicht mitten im Satz erfolgen und, und, und.

Auf diese Weise erprobt und autodidaktisch fortgebildet bin ich auf meine Kunden zugegangen, habe mein neues Angebot vorgestellt und stieß auf offene Türen. Denn auch ihnen war schnell klar geworden, dass diese „neue Zeit“ neue Wege der Kommunikation erfordern würde. Wurden Plattformen wie ZOOM, MS Teams oder GoTo-Meeting zu Beginn des vergangenen Jahres kaum wahrgenommen, so schossen deren Nutzerzahlen ab Frühjahr 2020 in die Höhe. Mehr und mehr wurden Events von analog auf digital umgestellt – und ich wollte dabei sein.

Plötzlich Remote-Stream

Nach und nach nahm das Ganze Fahrt auf. Zu den ersten Streams gehörte beispielsweise der eines Landesministeriums. Minister und alle Hauptabteilungsleiter gingen zu einem definierten Termin pünktlich auf Sendung und erreichten eine große Zuschauerschaft. Ein anderer Stream bildete einen siebenstündigen Event ab. Zwei Bühnen, Referenten vor Ort sowie zugeschaltet über ZOOM. Dazu Einspieler und Chats. Spannend war auch der erste reine Remotestream. Per Tablet-Kamera wurde die Moderatorin aus Gelsenkirchen mit zwei Musikern aus Wuppertal, die ihrerseits mit zwei Smartphones aufgenommen wurden, live im Studio in Jüchen-Wey zusammengeschnitten und von dort aus gestreamt. Dabei erfolgte die Steuerung der zugeschalteten Tablet- und Smartphonekameras direkt aus dem Studio.

70 Streams und gewachsene Ansprüche

Heute, exakt ein Jahr später, kann ich auf über 70 Streams zurückblicken. Mit jedem wächst die Erfahrung, mit jedem weiß ich mehr um die Tücken, die oftmals im Detail liegen. Jeder Stream hat seine völlig eigenen Anforderungen. Um hier die Fehlerquote möglichst gering zu halten, habe ich begonnen, im Team zu arbeiten, mit einem Ton- und einem Kameramann. Auch dies ist eine neue Erfahrung für mich, denn als Fotograf bin ich immer alleine unterwegs. Gemeinsam checken wir jeden Job vorab durch. Navy Streamer eben. Jeder Handgriff muss sitzen, auch bei Dunkelheit.

Mit der Zeit wuchsen aber auch die Erwartungen der Kunden sowie meine eigenen. Welche Kameras wollen wir beim nächsten Mal anders kombinieren? Wie optimieren wir Makros, um Abläufe automatischer zu gestalten? Wie vereinfachen wir die Zuschaltung für externe Referent:innen noch weiter? Wie können wir das gesprochene Wort live als Text einblenden? Aber auch klassische Fragen nach Kostenoptimierung stehen auf dem Programm. Wie optimieren wir Kabelwege? Wie reduzieren wir Rüstzeiten? Wie können wir schneller aufbauen? Was brauchen wir an Technik, um noch besser zu werden? Im Ergebnis sind alte Kameras verkauft und neue erworben worden. Das erste Mischpult wurde bereits durch den dritten Nachfolger ersetzt. Die ersten Lichtquellen, einfache LED-Panels, sind gegen leistungsfähige LED-Strahler getauscht. Die Streaming-Hardware ist ebenfalls in dritter Generation im Einsatz. Papierbahnen mit Sprechertexten, die direkt vor der Kamera aufgehängt wurden, sind durch einen professionellen Teleprompter ersetzt worden. Von Kabeln und Adaptern will ich gar nicht sprechen. Das Studio gleicht einem kleinen Foto- und Videofachgeschäft.

Vom One-Man-Fotografen zum Team-Player-Livestreamer

Nach dem ersten Schock und der bangen Frage nach dem, wie meine berufliche Zukunft aussehen würde, habe ich zeitnah auf Aktion umgestellt. Als Unternehmer muss ich auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren und mein Angebot entsprechend anpassen. Dies konnte aber auch nur gelingen, weil ich Kunden habe, die sich darauf eingelassen und es mir ermöglicht haben, diesen Weg wirtschaftlich zu gehen.

Durch Covid-19 hat sich mir ein neuer Arbeitsbereich eröffnet. Aus einem One-Man-Fotografen wurde ein Team-Player-Livestreamer. Bin ich ein Pandemie-Gewinner? Bin ich Covid-19 gar dankbar? Nein, weder noch. Ich habe nach einem Weg gesucht, um trotz der vielen Einschränkungen wirtschaftlich zu überleben. Den habe ich für mich gefunden. Dankbar bin ich denen, die mir die Chance gegeben haben, diesen Weg zu gehen.

Frank Wiedemeier ist freier Fotograf mit dem Themenschwerpunkt Wirtschaft (streamboxstudio.de).