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Ketten und Hände

Verurteilt und doch frei?

Rückblick: Wir schreiben das Jahr 1992. Heiko Bauder verwundet bei der Bundeswehr einen jungen Kameraden tödlich. Im Interview berichtet er über seinen Weg zurück ins Leben und wie er ein freier Mensch wurde.

Herr Bauder, der Unfall bei der Bundeswehr ist inzwischen über 30 Jahre her. Wie oft werden Sie noch auf den Vorfall angesprochen?

Von meinem direkten Umfeld eigentlich gar nicht, das hat dort schon lange aufgehört. Allerdings ist es auch so, dass ich damit nicht hausieren gegangen bin. Wenn jemand mich gefragt oder mich näher kennengelernt hat, dann habe ich das schon erzählt, aber dass jetzt jemand von sich aus auf mich zugekommen ist, ist eher nicht vorgekommen.

Was war der Schlüssel, um mit diesem Erlebnis abzuschließen?

Ich würde sagen, dass es nie ganz abgeschlossen sein wird. Es wird immer noch offene Fragen geben. Am Ende geht es um ein Menschenleben, und die Frage bleibt, welchen oder ob das überhaupt einen Sinn hatte. Die Frage steht für mich noch offen. Das klingt erst mal merkwürdig, aber diese Fragen haben mich im Glauben gehalten, weil ich von Gott wissen wollte: Was soll das? Ich glaube, die Fragen nehme ich am Ende mit in den Himmel. Ich hoffe, dass es dort Antworten darauf geben wird. Ein Schlüssel in der Akutphase war auf jeden Fall Pfarrer Langer, der mich begleitet hat. Er hat diese anfängliche Verzweiflung sehr gut aufgefangen und hat mich ins Leben zurückgeholt.

„Ich bin zwar verurteilt worden, aber ich konnte vor mir selbst geradestehen, weil ich mir bewusst war, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.“ Heiko Bauder

Sie schreiben, dass Sie den Gerichtssaal trotz Verurteilung als freier Mensch verließen. Was meinen Sie damit?

Ich hatte ja im Buch beschrieben, dass ich entgegen der Maßgabe meines Rechtsanwalts bei dem geblieben bin, was ich in der Vernehmung gesagt hatte. Das war für mich in dem Sinne Befreiung. Ich bin zwar verurteilt worden, aber ich konnte vor mir selbst geradestehen, weil ich mir bewusst war, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Das war für mich eine innerliche Freiheit. Ich habe ein Strafmaß bekommen, das ich auch so akzeptiert habe, weil ich mir bewusst war, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich konnte aber in dem Gefühl, die Wahrheit gesagt zu haben, als „freier Mann“ den Gerichtssaal verlassen.

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Wenn wir es schaffen, aus dem Warum ein Wozu zu machen, bekommt das, was wir erlebt haben, eine neue Perspektive.“ Was hat das für Sie persönlich verändert?

Die Frage nach dem Warum hat mich irgendwann an den Punkt gebracht, dass ich immer nur nach hinten geschaut habe – also immer nur in die Vergangenheit. Daran kann ich nichts mehr ändern, egal, wie emotional aufgewühlt und laut ich nach dem Warum schreie. Ich bekomme darauf einfach keine Antwort, weil das Dinge sind, die waren, und ich kann sie nicht mehr beeinflussen. Irgendwann stellte ich mir die Frage: Wie kann ich mit dem, was passiert ist, in die Zukunft gehen? Dann kam mir plötzlich der Gedanke: Jetzt kann ich an der Vergangenheit nichts mehr ändern, aber ich kann die Zukunft gestalten. Wenn man dann auf die persönlichen Katastrophen zurückblickt, stellt man irgendwann auch mal fest, dass man Resilienz entwickelt hat. Das ist auch eine Stärke für mich und so dann wiederum auch für andere hilfreich.

All die Schicksalsschläge, die Sie erlebt haben, hätten laut Ihrer Aussage das Potenzial gehabt, Sie zu zerstören. Haben die Erlebnisse dazu geführt?

Nein, definitiv nicht. Sonst wäre ich heute nicht hier. Es kam nicht dazu, weil ich ganz tief drin Gott nie verlassen hatte. Ich wollte das damals nach der Bundeswehr tun, aber ich konnte es nicht. Mir war die Zunge festgenagelt. Ich konnte Gott nicht absagen. Ich hatte mich einige Jahre vor dem Unfall bei der Bundeswehr für Jesus entschieden und er hatte seinen Teil des Versprechens immer eingehalten. Sein Tod am Kreuz war für mich felsenfest versiegelt. Das hat mich getragen. Egal, in welches Loch wir als Familie gefallen sind, wir sind immer wieder in Gottes Hände gefallen – das ist jetzt keine Floskel, es war und ist tatsächlich so.

In so mancher Situation fragt man sich schon: Das kann doch alles nicht wahr sein, warum? Warum trifft es immer uns? Und dann klagt man Gott auch wieder an, aber im Rückblick sieht man dort auch die Segnungen. Dann sieht man die Menschen, die plötzlich da waren und geholfen haben, wie damals der Pfarrer Langer – Leute, mit denen man gar nicht gerechnet hat. Die haben mich und uns eine Zeit lang begleitet und sind dann vielleicht auch wieder weg gewesen – wie Lichtstrahlen, die an einem vorübergehen, in denen Gott sich zeigt und sagt: Ich bin da.

Sind Sie jetzt froh darüber, das Buch geschrieben zu haben?

Ja, absolut. Ich hatte schon so viele Rückmeldungen, die unendlich positiv waren. Viele Menschen haben mir gesagt: „Das war so wichtig, dass du das Buch geschrieben hast, genau das haben wir gebraucht.“ Das hat mir gezeigt, dass dieses Thema Schuld viel größeren Raum einnimmt, aber sich auch niemand traut, wirklich darüber zu reden. Ich bin regional bei einigen Lesungen gewesen und das war wirklich phänomenal, was da zurückkam.

Hat sich die Familie Ihres damaligen Kameraden auf das Buch hin nochmal gemeldet?

Ich durfte mich nochmal mit der Familie treffen. Es ging um Persönlichkeitsrechte im Buch. Ich glaube, dass es für beide Seiten nochmal ein sehr wichtiger Punkt und kein Zufall war.

Sie haben geschildert, dass Sie lange nach dem Unfall bei der Bundeswehr nicht so richtig lachen konnten. Später haben Sie weitere Schicksalsschläge und noch eine Verurteilung aufgrund eines Autounfalls erlebt. Würden Sie sagen, dass Sie heute wirklich wieder befreit lachen können?

Ja, definitiv. Ich bin ein sehr lebensbejahender Mensch, das war ich schon immer. Ich kann mich wieder am Leben freuen und bin voller Tatendrang. Ich habe schon oft gedacht: Ich bin jetzt 53 Jahre alt, aber habe noch so viele Ideen im Kopf – ich müsste nochmal 30 Jahre alt sein.

 

Heiko Bauder (Jg. 1971) lebt in einer kleinen Gemeinde am Fuße der Schwäbischen Alb. Beruflich arbeitet er als Ausbilder angehender Industriemechaniker.  Im Buch „Mein Gott, warum?“ beschreibt er seinen Umgang mit Schuld.

Tim Bergen führte das Interview. Er ist Volontär des Männermagazins MOVO und des Nachrichtenportals Jesus.de.

Jackson Kivujirwa unterrichtet am Majengo Institute in Goma, Kongo. (Foto: Nils Laengner)

Bürgerkrieg, Vulkanausbrüche, Überfälle: Jackson Kivujirwa lässt sich nicht unterkriegen

Die Menschen in Goma, Kongo, leiden unter Gewalt, Naturkatastrophen und Arbeitslosigkeit wegen Corona. Der Lehrer Jackson Kivujirwa erzählt im Interview, was ihm hilft, nicht zu verzweifeln.

Deine Schüler/-innen begrüßt du oft mit den Worten: „Seid ihr alle glücklich?“ In meinem Schulleben wurde ich das nie gefragt. Mich hat das sehr beeindruckt. Warum machst du das?

Ich mache das wirklich sehr häufig. Du musst wissen, dass die Lebensumstände unserer Schüler/-innen sehr unterschiedlich sind. Da sind Kinder, die am Vorabend nichts zu essen hatten oder keinen Tee zum Frühstück. Das kommt immer wieder vor. Die wirtschaftlichen Umstände führen oft dazu, dass es in Familien Auseinandersetzungen gibt.

Die sonst nicht da wären?

Möglicherweise. Wir hatten in den letzten 25 Jahren immer wieder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen. Außerdem ist der Vulkan Nyiragongo 2002 und 2021 ausgebrochen und hat Verwüstungen in der Stadt hinterlassen. Das bringt schon Unruhe in Familien.

Lehrer mit Empathie

Davon haben wir in Europa keine blasse Ahnung. Aber erzähl doch bitte weiter.

An den Reaktionen der Klasse sehe ich, wem es aktuell nicht gut geht. Diese Person bekommt dann mehr Aufmerksamkeit. Nach dem Unterricht spreche ich dann mit den Betreffenden. Gegebenenfalls bringe ich sie zum Büro der Schulseelsorge.

Ich finde das sehr empathisch und beeindruckend. Nun ist das Majengo Institute ja nicht nur eine der besten Schulen der Region, weil die Lehrkräfte mitfühlend sind. Einer der erfolgreichen Absolventen der Schule ist Djimi Muhindo. Er ist aktuell einer der erfolgreichsten Radsportler des Landes. In einem Gespräch ließ er durchblicken, dass er sich gerne an dich als Lehrer erinnert. Warum wohl?

(lacht) Das hättest du ihn wahrscheinlich selbst fragen müssen! Allerdings kann ich dir von einer Begegnung mit unserem langjährigen Schulsprecher erzählen. Er schätzte es sehr an mir, dass ich bescheiden auftreten würde. Selbst wenn es mal drunter und drüber ginge, wäre ich bereit, mit den Leuten zu reden und ihnen zuzuhören. Weiter sagte er, dass er nie gehört habe, dass ich meine Macht missbraucht hätte. Er habe mich nicht rechthaberisch erlebt, sondern als Moderator oder Vermittler.

Unterschiede im Familienbild zwischen Afrika und Europa

Nun bist du ja nicht nur eine Vaterfigur für deine Schüler/-innen. Du hast selbst auch vier Kinder. In Europa schrecken immer mehr Männer davor zurück, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie befürchten den Verlust von Geld, Freiheit und Unabhängigkeit.

(lacht laut auf): Du veräppelst mich!

Das kommt in der Tat vor.

Da gibt es wohl doch gravierende Unterschiede zwischen unseren Kontinenten. Generell haben Familien in Afrika mehr Kinder als Paare in Europa und den USA. Ich empfinde es als Ehrenbezeichnung, Vater genannt zu werden. Nicht nur wegen der Verantwortung. Kinder sind für mich wie Früchte meines Lebens.

„Kinder sind die Zukunft“

In unserem Kulturkreis dreht sich sehr viel um mich, meine Ziele, meine Wünsche. Das ist bei dir irgendwie anders.

Es geht doch um die Zukunft einer Gesellschaft und auch einer Familie. Beides gehört doch auch zu mir und meiner Identität. Kinder sind davon ein Teil. Kinder können weitertragen, was sie mit ihren Eltern entwickelt haben. Schließlich sterben Menschen ja auch mal. Das kommt doch auch in deiner Kultur vor.

Das setzt aber voraus, dass du dich als Teil einer Gemeinschaft verstehst. Hier wäre das eine Familie. Nun kenne ich aber viele Leute, die sich selbst genügen und fast ausschließlich danach fragen, wie es ihnen gut gehen kann.

(lacht sich schlapp) Wirklich?

Ja, wirklich!

Oh! (Jackson wirkt sehr betroffen, schweigt einige Sekunden und fährt dann fort) Weißt du, was mir Angst macht?

Du wirst es mir hoffentlich sagen.

Es ist dann doch möglich, dass eine Familie ausstirbt, wenn keine Kinder da sind. Das ist doch furchtbar.

Keine Arbeit, kein Geld

Ein interessanter Aspekt! Die Art und Weise, wie wir in Deutschland leben, führt dazu, dass viele Menschen schnell isoliert sind. Sie haben kaum soziale Netzwerke. Das war insbesondere während der virusbedingten Einschränkungen seit März 2020 zu spüren.

Nun, wir hatten große wirtschaftliche Probleme. Gehälter werden meist nur gezahlt, wenn gearbeitet wird – Lockdown hin oder her. Keine Arbeit, kein Geld. Ich habe beispielsweise Obst und Gemüse aus der Region gekauft, um es auf lokalen Märkten zu verkaufen. Gut war aber, dass viele Familien zu Hause miteinander gebetet haben, als die Kirchen geschlossen waren.

Das war ja trotzdem alles ziemlich heftig. Offensichtlich passieren schlimme Dinge auch guten Menschen. Wie wirst du damit fertig?

Viele Menschen in Goma haben große Mühe, ihr Vertrauen in Gott aufrechtzuerhalten. Ich gehöre nicht dazu und bete aufrichtig weiter. Zum Beispiel: Neulich wurden meine Familie und ich nachts in unserem Haus überfallen. Niemand wurde verletzt. Darin sehe ich ein Eingreifen Gottes. Aber glaube mal nicht, dass das einfach wäre! Gut, wir beten, dass Gottes Wille geschehen möge. Dem ordnen wir uns unter. Aber dann gilt es, das durch unser Handeln sozusagen unter Beweis zu stellen. Alles andere zählt nicht.

Was meinst du damit konkret?

Wir sollten auch in Schwierigkeiten auf Gott vertrauen. Zum Beispiel habe ich immer Geld gespendet. Also außer, wenn ich kein Gehalt bekommen habe. Nach dem Überfall habe ich aus dem Ausland Geld bekommen. Davon habe ich auch abgegeben. Es gibt doch immer Menschen, denen es schlechter geht als einem selbst.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Tom Laengner. Er ist ein Kind des Ruhrgebiets. Nach 20 Jahren im Schuldienst startete er neu durch als Autor und Sprecher für Lebensfragen und Globales Lernen. Aktuell schreibt er die Kolumne „Out Of The Box“ für das Internetportal Jesus.de. Sein Sohn Nils Laengner schoss die Fotos (nilslaengner.de). Von ihm erschien 2021 das Fotobuch „Orbit 360“.

Symbolbild: Chino Rocha / Unsplash

Leben Christen länger? Arzt meint: Ja

Mönche werden etwa drei Jahre älter als andere Männer. Der Arzt Jonathan Häußer sagt: Religion verlängert das Leben, weil sie Stress reduziert.

In der Bibel heißt es: „Wer Gott ehrt, wird länger leben, wer ihn missachtet, verkürzt seine Zeit.“ Mein Interesse war geweckt. Ist das wirklich so? Kann man das wissenschaftlich beweisen? Es scheint tatsächlich zu stimmen. Eine Studie fand heraus, dass Mönche etwa drei Jahre länger leben als andere Männer. Harold Koenig, ein amerikanischer Forscher, entdeckte, dass man mit einem sieben Jahre längeren Leben rechnen kann, wenn man mehr als einmal in der Woche ein Gotteshaus besucht. Das bringt er damit in Zusammenhang, dass der Glaube Nächstenliebe fördert und dadurch zu stabileren sozialen Beziehungen führt. In Kombination mit dem Grundvertrauen auf Gott reduziert dies den Stress. Und weniger Stress führt zu einem längeren Leben.

In einer anderen Studie stellte er fest, dass Religion und Spiritualität sich in ähnlicher Weise auf die Gesundheit auswirken wie der regelmäßige Verzehr von Obst und Gemüse. Forschungsarbeiten aus Harvard und an der Mayo Clinic haben darüber hinaus gezeigt, dass Menschen, die an religiösen Aktivitäten teilnehmen, nicht nur eine geringere Sterblichkeit, sondern auch eine bessere psychische und Herz-Kreislauf-Gesundheit haben. Und so gaben auch in einer Umfrage aus 2019 religiöse Menschen an, glücklicher zu sein. Aber hat unser Glaube auch Auswirkungen auf unser Wohlbefinden?

Rituale helfen

Ein Kern vieler Religionen und auch des Christentums sind Rituale. Etwas zusammen zu machen, wie zum Beispiel gemeinsames Singen, schafft eine Verbindung. Dadurch wächst das Mitgefühl anderen gegenüber und man kann leichter neue Kontakte knüpfen. Ein interessantes Beispiel für ein religiöses Ritual ist das Schiv’a, ein jüdisches Trauerritual. Nach dem Tod der Eltern, des Ehegatten, der Geschwister oder eines Kindes bleiben die Betroffenen eine Woche zu Hause und werden von Angehörigen und Freunden mit Lebensmitteln versorgt. Zudem werden die Spiegel abgehängt.

Letzteres mag erst mal komisch erscheinen, ergibt auf den zweiten Blick aber Sinn. Denn wenn wir in den Spiegel schauen, werden die Emotionen, die wir erleben, verstärkt. Das heißt, wenn wir traurig sind und in den Spiegel sehen, werden wir noch trauriger. Zudem ist die instrumentale Unterstützung – also konkrete Hilfe – eine der besten Möglichkeiten, um Menschen die Trauer zu erleichtern. Bei diesem Ritual zeigt sie sich durch Besuch und die Versorgung mit Essen. Ein weiterer Brauch beim Schiv’a ist, dass man auf dem Boden sitzt. Das Sitzen auf dem Boden ist unangenehm. Wenn man aber aufsteht, um andere zu begrüßen, dann legt sich dieses unangenehme Gefühl. Dieser Wechsel aus Wohlbefinden und leichtem Unwohlsein lindert die Trauer.

Meditation = mehr Rücksicht auf andere Menschen?

Auch zur Meditation gibt es interessante Untersuchungen. Zwar ist die Meditation keine klassische christliche Tradition, aber Gebet ist damit durchaus vergleichbar. Meditation kann das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit und die Konzentration verbessern. Darüber hinaus kann Meditation Stress reduzieren. Aber es hat auch Auswirkungen auf unser Verhalten.

Nach acht Wochen Meditation wollte man herausfinden, wie Menschen reagieren, wenn jemand mit einem gebrochenen Fuß in ein volles Wartezimmer läuft. Von denen, die nicht meditiert hatten, standen nur 15 Prozent auf. Bei denen, die meditiert hatten, waren es 50 Prozent. Das konnte in mehreren Studien reproduziert werden. Meditation erhöht also das Mitgefühl. Genauso reagierten Probanden, die meditiert hatten, mit weniger Rachegefühlen, wenn sie beleidigt wurden.

Ein weiteres Thema ist Dankbarkeit: Die Bibel lehrt uns an vielen Stellen, wie wichtig Dankbarkeit ist. Wenn man Dankbarkeit auch Gott oder Freunden gegenüber äußert, wird man großzügiger, geduldiger und vertraut anderen Menschen mehr – und nicht nur den Menschen, denen man dankbar ist.

Christ sein, um länger zu leben?

Es scheint also etwas an den weisen Worten aus der Bibel dran zu sein. Sollten wir also Christen sein und regelmäßig in die Kirche gehen, weil das unser Leben verlängert? Nein, weil es aus wissenschaftlicher Sicht egal ist, welcher Religion man folgt. Bisher konnte noch nicht gezeigt werden, dass eine Religion den anderen aus gesundheitlicher Sicht überlegen ist. Und in jeder Religion kann der Glaube gesund und ungesund gelebt werden.

Jonathan Häußer ist Arzt und Sportwissenschaftler und fühlt sich vor allem in der Sport- und Ernährungsmedizin zu Hause. In seiner Freizeit ist er auch selbst sehr aktiv. Wenn er nicht gerade bei der Arbeit ist oder durch den Wald läuft, ist er häufig im ICF Hamburg zu finden.

Foto: traveler1116 / iStock / Getty Images Plus / gettyimages.de

Geschichtsstunde: Wie ein spanischer Mönch Menschenrechte für Indios erkämpfte

Der Mönch Bartolomé de Las Casas ist Militärgeistlicher der spanischen Eroberer Südamerikas. Als er ein Massaker an den Indios miterlebt, bricht Las Casas mit seinem bisherigen Leben.

„Sie wetteten darauf, wer einen Menschen mit einem einzigen Schwertstreich durchschlagen könne. Die Christen entrissen den Indianern ihre Weiber, bedienten sich ihrer und misshandelten sie. Neugeborene packten sie von den Brüsten ihrer Mütter und schleuderten sie gegen die Felsen. Sie bauten breite Galgen, an die sie zu Ehren des Erlösers und seiner zwölf Apostel immer dreizehn Indianer aufhingen und bei lebendigem Leib verbrannten. Dies habe ich mit eigenen Augen gesehen.“

In Mutters Bäckerei in Sevilla herrscht helle Aufregung, als Papa Pedro und Onkel Francesco im Juni 1496 zurückkehren. Von Christoph Kolumbus‘ zweiter Seereise. Sie waren dabei! In „Hispaniola“, dem heutigen Haiti, hatte Kolumbus 550 versklavte Einheimische an Bord geladen, die Hälfte starb bei der Überfahrt. Jetzt schenkt der berühmte Kapitän der Familie Las Casas einen 14-jährigen „Indianer“. Der Junge ist gleich alt wie Bartolomé. Die beiden freunden sich an.

Zur Strafe Hände abhacken

1502 reist Bartolomé selbst nach Haiti, weil jungen Siedlern dort Landbesitz und Goldfunde versprochen werden. Entsetzt sieht er mit an, wie lokalen Scouts, die ohne Gold aus den Bergen zurückkehren, die Hände abgehackt werden. Statt Bergbau und Landwirtschaft betreibt Bartolomé lieber Theologie und wird 1507 zum Priester geweiht.

Als Feldkaplan spanischer Truppen nimmt er an der Eroberung Kubas teil und hört 1511, wie ein Missionar dem zum Tode verurteilten Indio-Häuptling Hatuey anbietet, noch auf dem Scheiterhaufen getauft zu werden. „Komme ich dann in den Himmel?“, fragt der Todgeweihte. „Ja.“ „Zu den anderen derartig grausamen Christen? Nein, dann will ich lieber in die Hölle.“

Schlimmes Massaker sorgt für Sinneswandel

Als Bartolomé de Las Casas eins der schlimmsten Massaker am Volk der Taínos miterlebt, hört er am ersten Adventssonntag 1511 den Dominikanermönch Antonio de Montesinos predigen. „Mit welchem Recht haltet ihr die Indios in einer so grausamen Knechtschaft? Mit welcher Befugnis habt ihr dieses Volk in ungezählter Menge gemartert und gemordet?“ Der Militärgeistliche der spanischen Eroberer ist tief getroffen.

Bei der Vorbereitung einer eigenen Predigt zu Pfingsten 1514 liest Bartolomé einen Vers aus dem Buch Jesus Sirach 34,25-27: „Kärgliches Brot ist das Leben der Armen und wer es ihnen raubt, ist ein Blutsauger. Den Nächsten mordet, wer ihm den Lebensunterhalt entzieht und Blut vergießt, wer ihm den Lohn raubt.“ Ab jetzt ist ihm klar: Er wird als Priester niemandem die Beichte abnehmen und die Sündenvergebung zusprechen, der Sklaven hält. Die Konquistadoren und Plantagenbesitzer sind empört.

Für Rechte von Sklaven kämpfen

Las Casas „schenkt“ seine eigenen Sklaven dem Gouverneur von Kuba, reist 1515 nach Spanien zurück und erwirkt in einem Gespräch mit König Ferdinand ein neues Gesetz, das ausreichende Ernährung und medizinische Versorgung für die Indios vorschreibt. Ferdinands Thronfolger Kaiser Karl V. ernennt ihn 1516 zum „Prokurator aller Indios in Westindien“.

Karl V. übereignet Las Casas 1520 per Vertrag „das Festland südlich der Inseln“ – was mangels geografischer Kenntnisse so gut wie ganz Südamerika wäre. Als Bartolomé 1521 an der Küste von „Klein Venedig“ (Venezuela) ankommt, haben aufständische Indios nicht nur viele Siedler und Sklavenfänger, sondern auch alle Mönche ermordet. Sein Plan einer friedlichen Missionierung und Koexistenz der Völker ist gescheitert.

Großen Erfolg feiern

Die einzige Kopie des Bordbuchs von Christoph Kolumbus‘ Seereise 1492 besitzt – Bartolomé de Las Casas! Er beginnt, die verharmlosenden Berichte des gefeierten „Entdeckers“ zu kommentieren und eine „Geschichte der indigenen Völker Neuspaniens“ zu schreiben. 1521 zerstört Hernán Cortés das Aztekenreich, 1532 unterwirft Francisco Pizarro die Inkas in Peru.

Bartolomé kennt beide Völkermörder persönlich, reist nach Tenochtitlan und Machu Picchu und plädiert in seiner Schrift „Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder“ für vieles, was wir heute „Menschenrechte“ nennen. Endlich: 1542 erlässt Kaiser Karl V. das gesetzliche Verbot, Einheimische zu versklaven, und ernennt 1543 Las Casas zum „Bischof von Chiapas“ in Mexiko. Damit ist er zwar hochgeehrt, aber auch politisch kaltgestellt.

1546 kehrt er nach Spanien zurück, erwirkt ein gesetzliches Ende aller Eroberungsfeldzüge in Südamerika und stirbt am 18. Juli 1566 in Atocha bei Madrid. Als Chronist des Völkermords und erster Historiker und Theologe, der Sklaverei als Sünde und Verbrechen brandmarkte, wurde der „Apostel der Indios“ noch bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts von spanischen Rechten als „größenwahnsinniger Paranoiker und Beleidigung Spaniens“ bezeichnet.

Andreas Malessa ist Hörfunkjournalist in der ARD, Theologe, Buchautor satirischer Kurzgeschichten, Referent und Moderator auf Veranstaltungen mit religiös-kulturellen, kirchlichen und sozialethischen Themen. Aktuell sind von ihm erhältlich die Titel „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Am Anfang war die Floskel“ (bene!).

Roy Gerber mit seinen Hunden. (Foto: Reto Schlatter)

Roy schmeißt sein Millionärs-Dasein hin – und wird Therapiehundeführer

Roy Gerber besitzt einen BMW, eine Yacht und drei Firmen. Durch seine Golden Retriever-Hündin Ziba verliert er alles – und ist glücklicher als zuvor.

Als Inhaber von drei gutgehenden US-Firmen fährt er einen 7er-BMW, wohnt an der südkalifornischen Pazifikküste, lebt aber meist auf seiner Yacht in Huntington Beach. Er hat den Pilotenschein, besucht gern Pferderennen und lässt bei Frauen nichts anbrennen. Seine Chauffeur-Agentur „Private Driver“ ist in Hollywood beliebt und so feiert Roy Gerber bisweilen mit Sandra Bullock, Cameron Diaz oder den Spielerstars der Baseball- und Football-Szene. Bis er zufällig eines Samstagnachmittags einer alten Dame hilft, Heliumgas-Flaschen in ihren Kofferraum zu wuchten.

Im zweiten Anlauf schafft Gerber das Therapiehundeführer-Zertifikat

„Mit dem Helium blasen wir Luftballons auf. Unsere Gemeinde feiert eine Geburtstagsparty für sexuell missbrauchte Kinder. Kommen Sie doch mit“, sagt die Oma. Als Roy dort seine junge Golden Retriever-Hündin Ziba aus dem Auto springen lässt, ist sie bei den Kindern sofort der Star des Nachmittags.

Ein Hundetrainer fragt, ob er das Tier auf seine Eignung als Therapiehund testen dürfe. Roy ist einverstanden, nimmt an der Prüfung teil. Ergebnis: „Ziba könnten wir sofort gebrauchen. Sie nicht.“ Der ehrgeizige Unternehmer und gebürtige Schweizer nimmt das als Kampfansage. Im zweiten Anlauf macht er das Therapiehundeführer-Zertifikat.

Er lernt Leute der „Mariners Church“ kennen, im Gottesdienst singt ein Gospelchor, der Pastor predigt über Ehekrach und Vergebung. Roy Gerber hat eine geplatzte Verlobung hinter sich und wurde vor Kurzem von seiner neuen Freundin verlassen. „Meine Tränen flossen nur so und doch war ich dabei zutiefst glücklich. Der Gesang des Chores ließ eine geistliche Atmosphäre entstehen, die mich ins Herz traf und meine Sehnsucht nach Gott weckte.“

„Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“

Auf einer Sommerfreizeit für sexuell missbrauchte Kinder im Schulalter – organisiert vom Verein „Ministry Dogs“ der „Mariners Church“, die Mitarbeitenden sind Kinderärzte, Traumatherapeutinnen, ein ehemaliger Undercover-Ermittler des FBI und viele Ehrenamtliche – dürfen die Kinder und Teenies „Briefe an Ziba“ schreiben und die Umschläge offen lassen oder zukleben. In zugeklebten Umschlägen liest sie niemand, auch nach der Freizeit nicht.

Die Briefe in den offenen Kuverts darf Roy Ziba „vorlesen“. Was da an Elend und Schmerz, Demütigungen und sexuellem Sadismus angedeutet wird oder zu lesen ist, reißt ihn endgültig heraus „aus dem ganzen Unternehmer-Tralala und Karriere-Bling-Bling“. Am Abfahrtstag des Sommerlagers – keins der Kinder will nach Hause – steckt ein Mädchen eine rote Feder in Zibas Halsband und sagt zu Roy: „Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“ Es ist sein Berufungserlebnis. „I promise, I promise!“, ruft er heulend dem abfahrenden Bus hinterher.

Vom Millionär zum Tellerwäscher

Roy und sein Hund werden bei Überlebenden kalifornischer Waldbrände, in der Notfallseelsorge der Verkehrspolizei, in Altersheimen und Krankenhäusern therapeutisch eingesetzt. Was für ihn mehr Sinn macht, als Luftfilteranlagen und orthopädische Betten zu importieren oder Promis durch L.A. kutschieren zu lassen.

Mister Gerber verschenkt seine Betten-Importfirma und die „Private Driver“-Agentur an seine Mitarbeiter, weil er weiß: Der Verkauf der Luftfilter-Firma wird ihm Millionen bringen. Doch obwohl seine Anwälte und Banker wasserdichte Kaufverträge ausarbeiten, wird „Air Cleaning Solutions“ nach vier Jahren Rechtsstreit ein Raub mexikanischer Wirtschaftskrimineller.

„Ich hatte als 23-Jähriger in der Schweiz manchmal 35.000 Franken im Monat verdient. Jetzt, mit 39, waren die Millionen futsch und ich ganz unten angekommen.“ Er jobbt bei einer Cateringfirma, studiert Theologie, wird zum „Chaplain“ seiner Gemeinde ordiniert – „Krankenbesuche kannte ich ja, aber Trauungen und Beerdigungen musste ich erst lernen“ – und gründet das „Chili Mobile“ für Obdachlose und Drogenabhängige, eine fahrende Essensausgabe.

Zurück in die Heimat

„Gott bläst einem ja nicht mit dem Alphorn ins Ohr. Er bevorzugt leise Töne“, sagt Roy, als er während einer Gebetszeit dem Impuls folgt, für „Pennerpfarrer“ Ernst Sieber in Zürich zu beten. In den 90er-Jahren ist das „Sozialwerk Ernst Sieber“ ein medienpräsent angesehenes Hilfswerk für Obdachlose, Prostituierte und Drogensüchtige in der Schweiz. Roy ruft ihn an. Einfach so. Und Sieber sagt: „Wir suchen einen Stellvertreter für mich. Komm rüber!“

Es wird das Ende einer bewegten US-Karriere, der Anfang eines neuen Lebens im alten Herkunftsland. Vier Jahre arbeitet Roy Gerber in der „Sonnenstube“ Zürich, hat aber in Gesprächen mit Hilfsbedürftigen oft das Gefühl, nur den Symptomen und nicht den Ursachen abzuhelfen. Der eigeninitiative Gründer in ihm, der Start-up-Unternehmer, scharrt innerlich mit den Hufen.

„Jährlich 50.000 Minderjährige in der Schweiz sexuell missbraucht“

Ihn irritiert, warum in der Schweiz das Thema sexueller Missbrauch so oft mit Schweigen belegt wird. Auch und gerade in christlichen Kreisen. „Laut Medicus Mundi-Studie werden hier jährlich rund 50.000 Minderjährige sexuell missbraucht, ins öffentliche Bewusstsein ploppt das erst, wenn wieder mal ein Kinderporno-Ring entdeckt wird. 55 Prozent der bipolaren Störungen, 80 Prozent der Borderline-Störungen, Magersucht, dissoziative Störungen, Lern- und Konzentrationsschwächen sind oft auf Missbrauch zurückzuführen.

Der wird aber erst vermutet, wenn physische Gewalt nachweisbar ist? Dann sollten die Opfer eine geschützte Gelegenheit bekommen, zu reden. Was sie nicht tun, solange ihre Angst bedrohlicher ist als ein Messer. Aber auch die Angst der Mitarbeitenden muss aufhören, in Kitas, Schulen, Vereinen und Kirchen verdächtige Beobachtungen zu melden. Es geht nicht um Generalverdacht, sondern um qualifizierte Hilfe für verstummte Opfer.“

„Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler“

Roy Gerber, eine Kinderärztin, ein Staatsanwalt, drei Polizisten, zwei Sozialpädagoginnen, ein Treuhänder und etliche beratende Experten gründen 2012 den Verein „Be unlimited“ und dessen „Kummer-Nummer“, eine schweizweite Telefon-Hotline, anonym und kostenlos, täglich rund um die Uhr mit geschulten Zuhörenden besetzt. „Wir sehen keine Nummer auf unseren Displays, es wird nichts aufgezeichnet, wir geben keine Infos an die Polizei, weil das zunächst die Opfer gefährden könnte.

Wir sagen auch nie ’sexueller Missbrauch‘, sondern fragen nach ‚Kummer‘ und nach ‚Ermutigung‘. Wenn ein Kind oder Jugendlicher es wünscht, fahren wir auch hin. Immer zu zweit, immer mit Therapiehunden. Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler. Kommt es zu polizeilicher Strafverfolgung, können wir helfen, Kinder in sicheren Pflegefamilien unterzubringen.“

Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt

„Der 17. Dezember 2013 war einer der traurigsten Tage meines Lebens.“ Als Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt, ist Roy Gerber todunglücklich. „Sie lag im Helikopter neben mir, wenn wir zu Waldbränden flogen. Sie begleitete mich zu Gefängnisbesuchen und Ferienlagern. Sie tröstete unzählige Kinder in Krankenhäusern und Heimen. Durch Ziba hatte ich meine Berufung gefunden. Jetzt musste ich sie gehen lassen.“ Das Mädchen vom Sommerlager in Kalifornien hat er nie wiedergesehen. Ihre rote Feder aus Zibas Halsband aber, die hat er immer noch.

Andreas Malessa ist Journalist. Aktuell von ihm erhältlich sind die Titel: „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Am Anfang war die Floskel“ (bene!).

Kummer-Nummer: Hast Du Kummer … und bist dir nicht sicher, wohin damit? Und schämst dich, darüber zu sprechen? Weil du unsicher bist, ob etwas, das du erlebt hast, normal ist? Wir können dir weiterhelfen: Tel: 0800 66 99 11; E-Mail: Help@kummernummer.org Anonym, diskret, kompetent, gratis, rund um die Uhr. www.kummernummer.org

Mehr zu Roy Gerber: „Mein Versprechen“ (Fontis)

Foto: shironosov / iStock / Getty Images Plus

Die Ärzte gaben auf: Junger Mann überlebt gefährliche Hirnblutung auf wundersame Weise

Er war gerade 18 Jahre alt, da erlitt Manuel Lachmann eine schwere Hirnblutung. Medizinisch war keine Hilfe möglich. Als letzten Ausweg empfahl ihm der ungläubige Chefarzt das Gebet.

Gerade arbeitete ich in der Vorbereitung für das Abendgeschäft im Landgasthof, und plötzlich passierte es völlig ohne jede Vorwarnung. Während des Gemüseschneidens klappten mir die Hände auf und waren wie erstarrt. Ich konnte nicht mehr zugreifen und meine Finger nicht mehr bewegen.

Was passierte hier mit mir? Gedanken rasten durch meinen Kopf. Hoffentlich nur eine gerissene Sehne … Aber es hat gar nicht geknallt … Ich träume doch nur … Was kann das nur sein? Eine Scheiß-Angst breitete sich in mir aus. Ich versuchte, zu meinem Chef zu gehen, musste aber wohl einfach geradeaus gegen die Wand gelaufen sein, wie er mir später erzählte. Meine Sinne spielten total verrückt. Mein Chef rief meine Eltern an. Alle waren geschockt. Ich schickte immer wieder Stoßgebete an Gott. Ich war doch erst 18. Da geht das Leben doch erst richtig los …

Der Schock sitzt tief

Meine Eltern brachten mich in eine Klinik. Nach einigen Untersuchungen sprach etliches dafür, dass etwas in meinem Kopf nicht in Ordnung war. Zum Glück gab es ein Kopfzentrum mit einem sehr guten Professor in der Klinik. Sie schoben mich in ein MRT. Mir war kalt und mein Rücken schmerzte. Zurück in meinem Zimmer warteten meine Eltern und ich auf die Visite. Es kam ein Trupp von zehn Leuten. Der Professor trat nach vorne, räusperte sich kurz und schien dabei ziemlich angespannt zu sein. Er teilte mir mit, dass ich eine Hirnblutung erlitten hatte und an der Stelle das Blut auch noch stand.

Puh! Das war die schlimmste Nachricht, die ich mir hätte vorstellen können. In Sekunden lief da ein Horrorfilm in meinem Kopf ab. Dann holte der Professor ein weiteres Mal Luft: „Das ist noch nicht alles … Die Blutung liegt am Ende des Hirns, wo es in die Wirbelsäule tritt. Weil es dort so eng ist, können wir mit dem Stand der heutigen Medizin keine OP durchführen, ohne dass Sie dabei Schaden nehmen oder sterben würden.“

Die Ärzte können nichts tun

Meine Eltern versuchten, die Fassung zu bewahren. Ich rang mit den Tränen. Der Professor sprach weiter: „Es gibt nicht nur diese Blutung, denn wir haben noch mehr gefunden! Sie haben ein Kavernom im Kopf. Das sind Absackungen in den Blutgefäßen im Gehirn. Aber es sind nicht nur ein paar Stück, sondern wir haben bei 40 Kavernomen aufgehört zu zählen! Das heißt, Sie haben multiple zerebrale Kavernome in einer Anzahl, die wir noch nie in nur einem Kopf gesehen haben.“

Ein paar Tage später entließ mich der Professor mit dieser Aussage: „Die Medizin kann Ihnen im Moment nicht helfen. Und ich weiß auch nicht, wie es ausgeht. Ich, der ungläubige Arzt, sage Ihnen jetzt: Suchen Sie sich Menschen, die für Sie beten. Und hoffen Sie auf ein Wunder! Sie kommen ab jetzt einmal die Woche zu einem MRT, und wir hoffen, dass die Blutung von alleine abfließen kann. Mehr kann ich nicht für Sie tun.“

Verängstigt und unsicher ging ich nach Hause. Ich suchte mir einige Menschen, die für mich beteten, und tat es auch selbst. Wenn mir die Ärzte nicht mehr helfen konnten, dann war ein Wunder die einzige Möglichkeit! Dreimal ging ich zum MRT, ohne dass es gute Neuigkeiten gegeben hätte. Dies zog mich immer weiter nach unten.

Das Wunder geschieht

Aber dann kam der Tag aller Tage, von dem ich nicht mehr zu träumen gewagt hätte. Ich musste wieder für 45 Minuten ins MRT. Dann kam der Professor in mein Zimmer und schüttelte den Kopf. Ich befürchtete schon das Schlimmste. Aber er sagte sinngemäß zu mir: „Herr Lachmann, es ist ein Wunder geschehen, denn die Blutung in Ihrem Kopf ist – verschwunden, und zwar restlos!“

Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich diese Geschichte erzähle und aufschreibe. Ich bin dankbar, dass ich lebe und nun anderen Menschen damit Mut machen darf, dass Wunder geschehen können! Zwar bin ich aufgrund der Kavernome und noch anderer körperlicher Beschwerden heute Rentner, aber ich bin seit über zehn Jahren verheiratet und habe zwei großartige Kinder.

Manuel Lachmann (39) ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er lebt als Hausmann und Rentner in Halle/Saale. Er ist Teil von „DIE Männerreise“ und Mitarbeiter bei Team.F.

Oberfeldwebel Gideon Schmalzhaf (Foto: Bundeswehr / Claas Gärtner)

Es roch nach verbrannten Menschen: Soldat berichtet von Corona-Einsatz in Indien

Oberfeldwebel Gideon Schmalzhaf rettete im indischen Krisengebiet Corona-Patienten vor dem Ersticken. Was er dort erlebte, veränderte ihn für immer.

Herr Schmalzhaf, was ist Ihre Funktion bei der Bundeswehr?
Ich bin Oberfeldwebel im Bereich Informationstechnik. Ich bin dafür zuständig, Netzwerke zu prüfen und eine Schwachstellen-Analyse von Bundeswehrnetzen zu erstellen. Dort bin ich allerdings noch relativ frisch, begonnen habe ich in der IT im Bereich der Sanität. Dadurch bin ich auch in die Corona-Mission der Bundeswehr reingekommen.

Sie waren im Frühjahr auf Corona-Missionen in Indien dabei. Wie kam es dazu?
Die Bundesregierung hatte beschlossen, dass wir kurzfristig eine Corona-Hilfe machen in den Krisengebieten. Für Indien hatte ich zwei Tage Vorbereitung.

Wie haben Sie sich in diesen zwei Tagen auf Indien vorbereitet?
Es standen für mich Fragen im Raum wie: Was muss ich anziehen in diesem sehr, sehr heißen Land? Unsere Uniform lässt nicht viel Spielraum. Dann: Was nehme ich mit, wie lange steht die Chance, dass wir bleiben? Wie packe ich da bei begrenztem Gepäck? Wir konnten dort außerdem nicht unsere standardmäßigen Kommunikationsmittel benutzen, also musste ich ein Satelliten-Telefon organisieren. Dann musste ich herausfinden, wer alles mitgeht, wie viele Computer ich brauche. Was für Netzwerke ich aufstellen muss, wie wir die Kommunikation nach Hause sicherstellen und auch in Indien selbst.

„Ich hatte Angst“

Was war Ihre Aufgabe in Indien?
Wir haben eine Sauerstofferzeugungsanlage aufgebaut, die medizinischen Sauerstoff für Krankenhäuser erzeugt und gleichzeitig auch abfüllbar ist in Flaschen, die man theoretisch den Patienten mitgeben könnte.

Mit welchen Erwartungen oder mit welchem Gefühl sind Sie dann nach Indien geflogen?
Wir haben gehört, dass praktisch überall Menschen verbrannt werden, dass die ganze Stadt im Dunstnebel versinkt von den Scheiterhaufen, die überall aufgebaut sind. Und ich muss ehrlich sagen, ich hatte richtig Respekt und manchmal würde ich sogar sagen: Ich hatte Angst, dass es so krass wird – man wird stark mit dem Tod konfrontiert.

War es dann auch so wie angekündigt?
Wir waren in einem Hotel innerhalb der Botschaftsviertel untergebracht und da war es eher aufgeräumt. Aber sobald man den Bereich verlassen hat, hat man das schon gerochen. Es waren nicht überall Scheiterhaufen, so wie man es sich vorgestellt hat, sondern abgesperrte Bereiche, in denen ganz groß mit Schildern angekündigt wurde: Hier ist ein Krematorium. Da sind ständig Fahrzeuge reingefahren, es war eine richtige Massenabfertigung an Verbrennung von Menschen. Das war schon sehr seltsam.

Sauerstoff war wertvoller als Gold

Wo war dann Ihr Arbeitsbereich?
Wir hatten einen Platz an der inneren Grenze von Neu-Delhi. Dort hatte das indische Militär schon ein provisorisches Krankenhaus gebaut, wo Menschen hinkommen konnten, die kein Geld für ein normales Krankenhaus haben. Zu der Zeit konnten dort 1.000 Menschen gleichzeitig behandelt werden. Wir haben dann neben diesem Krankenhaus die Anlage aufgebaut und zusätzlichen Sauerstoff erzeugt, der dann zu weiteren Stellen transportiert wurde.

Haben sich die Einsätze angefühlt wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein?
Auf dem Papier betrachtet war es nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben eine große Anlage aufgebaut, aber im Vergleich dazu, wie viele Menschen dort leben, ist das nur was Kleines. Die Kapazität konnte, während wir dort waren, auf 2.500 Patienten erhöht werden, aber vor den Toren standen immer noch riesige Schlangen und der Abtransport der Toten war ein stetiger Fluss. Viele von unseren Soldaten hatten teils das Gefühl, dass wir nichts bewirken, aber für mich war es wichtig zu sehen: Wir retten hier Menschenleben, selbst wenn es nur ein einziges ist. Jede Sache, die wir tun, ist unbezahlbar. Ich will auch als Christ sagen, dass jedes Menschenleben wertvoll ist, und dann ist für mich egal, wie viel wir helfen konnten, weil jede Hilfe großartig war.

Im Hotel kam mal jemand auf uns zu, der vor Freude über unsere Hilfe geweint hat und sich bedankt hat, dass wir sie retten. Die Inder haben ja selbst medizinische Versorgung, aber brauchten eben den Sauerstoff, der teilweise wertvoller war als Gold. Für sie hängt sowieso viel an der Gesundheit, weil es dort viele Tagelöhner gibt. Und wer krank ist, kann nicht arbeiten, was bedeutet, dass die Familie zu Hause kein Geld mehr hat und eventuell Hunger leiden muss.

Corona bedeutet für arme Menschen den sicheren Tod

Haben Sie generell von den Menschen dort noch etwas gehört, wie sie die Pandemie bisher erlebt haben, was ihre Lebensrealität in der Zeit war?
In Indien gab es nicht die gleichen Maßnahmen und Einschränkungen, die wir in Deutschland hatten, weil es teilweise auch nicht umgesetzt werden konnte. Für die gehobenen Schichten, die Geld haben, ging die Zeit ähnlich vorüber wie für uns in Deutschland. Aber für die ärmeren Schichten, die darauf angewiesen sind, jeden Tag Arbeit zu haben, und die sich keine Masken leisten konnten, hat eine Ansteckung mit Corona eigentlich den sicheren Tod bedeutet. Da herrschte eine sehr große Angst der Menschen, sich zu infizieren, weil sie gleichzeitig nicht wussten, wie sie sich schützen sollen. Wir haben ihnen am Anfang gezeigt, wie sie sich mit den Mitteln, die sie haben, relativ einfach schützen können.

Hat Ihr Glaube Ihnen geholfen, annehmen zu können, dass der Tod ein unkontrollierbarer Teil der Einsätze ist?
Ja, schon. Zu Hause bin ich jemand, der dem Thema Tod gerne aus dem Weg geht, weil es eben sehr belastend ist. Ich habe mir dann dort die Frage gestellt: Was ist wichtiger: Trauere ich um die vielen Toten oder tue ich das, was ich am besten kann, und helfe und sorge mit dafür, dass jeder, der eben nicht sterben muss, nicht sterben muss? Das war immer omnipräsent: Wenn wir nichts tun, sterben mehr Menschen.

„Wir leben im reinen Luxus!“

Wie blicken Sie nach der Zeit in Indien auf das deutsche Pandemie-Management? 
Ich verstehe jeden, der sagt, ich habe keinen Bock mehr auf eine Maske. Aber manchmal muss ich mich innerlich echt zusammenreißen, dass ich nicht irgendwas Schlimmes sage, weil ich denke: Leute, uns geht es so gut, wir leben im reinen Luxus! Nur weil wir einmal abends nicht essen gehen können oder, als wir die Ausgangssperre hatten, um 21:00 Uhr zu Hause sein sollten … Das ist nichts dagegen, dass viele andere Menschen sterben! Bei uns war es nicht wie in Indien, wo wir vorm Krankenhaus Schlange stehen mussten und gehofft haben, dass der vor uns stirbt, damit wir einen Platz bekommen, sondern wir haben im Luxus gelebt. Ich glaube, wenn jeder Deutsche einmal auf eine Corona-Intensivstation bei uns ginge, dann wäre der eine oder andere geheilt von seinem Luxusproblem.

Viele Deutsche wissen nicht zu schätzen, was wir haben, weder den Luxus mit unserem Gesundheitssystem, dass jeder zum Arzt gehen kann und sich keinerlei Sorgen um Bezahlung machen muss, noch das Sozialsystem, dass wir einfach mal über ein Jahr die Wirtschaft stilllegen und deswegen keiner von uns Hunger leiden oder auf der Straße leben muss. Welches Land kann das tun? Und dafür sind wir, glaube ich, viel zu wenig dankbar.

Haben die dortigen Erlebnisse etwas mit Ihrem Verständnis vom Mannsein gemacht?
Die Begegnung mit einem Mann hat mich da ins Nachdenken gebracht. Er hat mir erzählt, dass er jeden Tag Angst davor hat, krank zu sein, weil er seine Familie dann nicht mehr versorgen kann. Und dass quasi alle Männer, sobald sie arbeiten können – Jungen ab 16 –, in die große Stadt gehen und dort arbeiten. Ihre ganze Familie ist davon abhängig, dass sie dort Arbeit haben. Und dann habe ich an unsere typisch biblischen Rollenbilder gedacht, wo der Mann für die Versorgung der Familie zuständig ist. Und natürlich leben wir in einer Zeit, in der es nicht notwendig ist, dass unbedingt die Männer arbeiten gehen oder wo beide einen Job haben. Aber wir Männer lehnen uns auch gerne zufrieden zurück und sagen: Ich hab meine Frau, ich hab meine Arbeit, mein Haus – ich setz mich aufs Sofa, guck abends meinen Fußball mit einem Bier in der Hand und meine, ich bin der ultimative Mann.

Ich habe dort gelernt, dass eigentlich so viel mehr dazugehört. Eben, nicht nur mit dem zufrieden zu sein, sondern dass dann eigentlich erst die Aufgabe anfängt, weil da Menschen sind, die auf meine Arbeit, meine Hilfe und mein Dasein zählen. Und dann darf ich auch nicht feige sein und, weil mir etwas nicht passt oder nicht so ist, wie ich das gerne hätte, aufhören, meine Rolle einzunehmen. Das hat mir dahingehend Ehrfurcht gegeben, dass ich dachte: Krass, ich bin noch so weit weg von dem Bild, was ich denke, was ein „echter Mann“ ist, und ich weiß nicht, ob ich dem jemals gerecht werden kann.

Gideon Schmalzhaf ist Oberfeldwebel bei der Bundeswehr und in Ulm stationiert.

Die Fragen stellte Liesa Dieckhoff.

Symbolbild: Getty Images / E+ / Oleh_Slobodeniuk

Ob Tod, Umzug oder Jobwechsel: Warum Abschiednehmen so wichtig ist

Wenn wir Lebensabschnitte nicht angemessen beenden, kann uns das dauerhaft emotional belasten, sagt der Berater Rainer Wälde. Dabei reicht zum Loslassen oft schon ein Brief.

„Es gibt drei wichtige Regeln beim Filmemachen: Du sollst nicht langweilen, du sollst nicht langweilen, und du sollst nicht langweilen!“ Dieses Zitat stammt von Billy Wilder. Er hat das Drehbuch für etliche Filmklassiker geschrieben und oft auch die Regie geführt: „Emil und die Detektive“, „Eins, Zwei, Drei“ und „Manche mögen’s heiß“. Was mich an seiner Biografie besonders fasziniert: Billy Wilder empfiehlt, die Hälfte der Energie und Aufmerksamkeit in das Ende zu stecken – getreu dem Motto „Ende gut, alles gut“. Auch in der Biografie-Arbeit finde ich dies einen wichtigen Ansatz: Nach Möglichkeit sollten wir in Beziehungen und Projekten versuchen, ein stimmiges Ende zu finden. Doch in der Lebenspraxis fällt genau dieser Abschluss vielen Menschen besonders schwer. Hier spielen unsere Emotionen eine zentrale Rolle: Enttäuschungen führen dazu, dass unsere Seele Achterbahn fährt und wir Mühe haben, aus diesem Auf und Ab der Gefühle an der nächsten Haltestelle wieder gesund auszusteigen.

Die Frau von Heinz Rühmann antwortet – die eigene Nachbarin nicht

Dazu zwei kurze Beispiele aus meinem Leben: Unser Nachbar starb, gerne erinnern wir uns an den letzten gemeinsamen Abend auf der Terrasse. Am nächsten Tag schreibe ich einen ausführlichen Kondolenzbrief und erinnere die Hinterbliebenen an die gemeinsamen Erlebnisse. Ich drücke empathisch unsere Trauer aus. Doch leider bekomme ich keine Reaktion. Keine kurze Karte, kein Wort – Funkstille. Ich kann den Schmerz und die Trauer verstehen, doch ohne Rückmeldung bleibt etwas offen zwischen uns, eine emotionale Verbindung unbeantwortet.

Beispiel Zwei: Kurz vor seinem Tod bin ich einer der letzten Journalisten, der Heinz Rühmann in seinem Haus am Starnberger See interviewen darf. Es ist eine sehr berührende Begegnung. Der bekannte Schauspieler wirkt in unserem Gespräch ausgesprochen introvertiert und bescheiden, ganz anders, als ich ihn von der Leinwand her kenne. Als ich Monate später von seinem Tod erfahre, schreibe ich seiner Witwe einen persönlichen Brief und bedanke mich für die letzte Begegnung. Niemals hätte ich erwartet, dass seine Frau Hertha Droemer antwortet. Bei hunderten von Briefen habe ich dafür vollstes Verständnis. Doch einige Wochen später schreibt sie mir sehr bewegend eine Karte per Hand und dankt für die Anteilnahme.

Eine Freundschaft, die keine ist

Seinen letzten Film „In weiter Ferne, so nah!“ drehte Heinz Rühmann ein Jahr vor seinem Tod. Und dieser Titel passt sehr gut zu den Beziehungen, die durch Umzug oder Trennung abbrechen. Auch sie bleiben emotional in der Luft hängen, bis sie aktiv beendet werden. Doch genau dies ist der kritische Punkt: Aus meiner eigenen Biografie kann ich von zahlreichen Beispielen erzählen, die über Jahre offenblieben. Einer meiner besten Freunde trennte sich von seiner Frau, wechselte die Arbeitsstelle und zog weg. Durch unsere langjährige Freundschaft konnte ich mich in seinen Schmerz einfühlen und auch die Scham spüren, die seine gescheiterte Ehe bei ihm auslöste. Immer wieder suchte ich das Gespräch, besuchte ihn in seinem neuen Zuhause, doch die Scham überwog. Der Austausch war nicht mehr frei, wurde immer mehr zum Smalltalk, sein Herz war blockiert. Er versprach, mich zu besuchen, doch kam nie. Über Jahre hinweg startete ich etliche Versuche. Ich wusste, dass er regelmäßig an unserer Wohnung vorbeifuhr, wenn er seine Eltern besuchte. Doch er hielt nie an.

Unsere tiefe Freundschaft hatte sich in eine Einbahnstraße verwandelt und mein Schmerz blieb. Ich sah mich in einer emotionalen Sackgasse und suchte nach einer Lösung. Ich hatte immer noch diese offene Beziehung wie einen Strang in der Hand. Um neue Beziehungen eingehen zu können, musste ich dieses lose Ende loswerden und zu einem guten Ende bringen. Beim Überlegen kam mir das Symbol eines Gedenksteines in den Sinn: Warum nicht einen schönen Kieselstein auswählen, den ich im Garten ablege und der mich an unsere vergangene Beziehung erinnert? Wie bei einem Grabstein markiert er das Ende unserer Freundschaft. Gleichzeitig bin ich frei, ihm jederzeit wieder offen zu begegnen.

Wo hängen Beziehungen in der Luft?

An dieser Stelle möchte ich Sie ermutigen, die ungeklärten Enden in Ihrer Biografie anzuschauen. Wo hängen bei Ihnen Beziehungen in der Luft und verhindern damit einen Neubeginn? Nehmen Sie sich etwas Zeit und ziehen Sie sich an einen ruhigen Ort zurück. Schreiben Sie einmal die Namen derer auf, wo noch eine „Beziehung offen“ ist. Hören Sie in sich hinein und überlegen Sie, was für Sie ein gutes Abschluss-Ritual sein könnte. Vielleicht brauchen Sie noch ein letztes Gespräch oder einen Brief, in dem Sie Ihre Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit ausdrücken. Ich bin mir sicher, dass Sie im Herzen spüren, welche Form angemessen ist.

Es kann aber auch sein, dass Sie ohne eine Erklärung die Beziehung einseitig beenden und für sich ein passendes Abschluss-Ritual finden, ohne den anderen darüber zu informieren. Diese Entscheidung bringt Ihnen auch Klarheit, wie Sie bei einer weiteren Begegnung frei und offen mit diesem Menschen umgehen. Bei meinem langjährigen Freund gab es nach 16 Jahren Funkstille dann wieder den ein oder anderen Kontakt. Er wollte gerne mit mir beruflich zusammenarbeiten und versuchte auf unterschiedlichen Kanälen, das zu erreichen. Durch meine vorher getroffene Entscheidung war ich innerlich jedoch ganz klar und lehnte freundlich, aber bestimmt ab.

Trauer ist da, aber nicht dominant

Ich habe sowohl meine Mutter als auch meine erste Frau sehr früh verloren. Beide starben jung an Krebs. Heute bin ich 59 und es gibt sehr viele Gründe für mich, das täglich zu feiern. Ich weiß, dass diese positive Haltung zum Leben nicht allen Menschen beschieden ist, die früh und oft mit der emotionalen Wucht der Trauer konfrontiert worden sind. Und deshalb bin ich nicht nur dankbar dafür, dass ich lebe, sondern auch dafür, dass ich dieses Leben genießen kann. Die Angst, wieder einen geliebten Menschen leiden sehen zu müssen und wieder einer so immensen Trauer ausgesetzt zu sein, ist durchaus präsent in meinem Leben. Sie ist die begleitende Bassnote. Diese Sorge dominiert mich aber nicht. Ich lebe im Hier und Heute und atme und freue mich, dass es mir gut geht und ich kreativ sein kann. Ich bin glücklich darüber, mit vielen Menschen zu tun zu haben und Tag für Tag viele neue interessante Menschen kennenzulernen. Was mich immer wieder durch die Tiefen der Trauer trägt, sind andere Menschen – Menschen, die keine guten Ratschläge geben, sondern einfach nur für mich da sind. Die mir zuhören, an deren Schulter ich weinen kann und die mich in den Arm nehmen. Das Zusammensein mit ihnen bietet mir einen geschützten Raum für Phasen, in denen ich trauere oder in denen ich unter hoher Belastung stehe.

Durch schlimme Phasen der Trauer hindurch trug mich aber auch meine Wut und Aggression. Gerade nach dem Tod meiner ersten Frau haderte ich mit Gott. Ich klagte und schrie ihn an, wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Irgendwann später merkte ich jedoch: Gott hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Er war immer noch da. Er hatte meine Klagen und Schreie ausgehalten. Gott ist keiner, der auf nette Worte angewiesen wäre, den man schonen muss. Er erträgt einen zornigen Christen. Auch das trägt mich immer wieder durch Phasen des Leidens.

Feiern gehört zum Abschied dazu

Es klingt paradox, ist für mich aber eine der wichtigsten Erfahrungen: Zur Kunst des Abschiednehmens gehört auch die Kunst des Feierns. Heute habe ich oft das Gefühl, dass Feste für viele Menschen keine Bedeutung mehr haben, dass sie sie nicht bewusst begehen. Meine zweite Frau Ilona und ich kommen aus Süddeutschland – dort wird gerne groß gefeiert. Feste sind dort im Leben der Menschen stark verankert und man lässt sie sich auch etwas kosten. Unsere Hochzeit feierten wir auf einem Schiff – dieses Schiff war für uns ein Symbol dafür, dass wir von nun an gemeinsam unterwegs sein würden, aber auch ankommen wollten (zum Beispiel in der Kirche, in der wir getraut wurden). Viele Freunde waren mit dabei und natürlich unsere Familien. Mir als Witwer war es besonders wichtig, für unseren Neuanfang einen ungewöhnlichen Rahmen zu finden, einen neuen Akzent zu setzen und nicht einfach irgendwo in einem Restaurant zu feiern.

Auch meine Geburtstage feiere ich ganz bewusst. Ich lade jedes Jahr Freunde dazu ein – und zwar jedes Jahr andere. Besonders reizvoll finde ich es, Menschen bei mir zu Gast zu haben, die sich nicht kennen. Dabei ist mir immer auch bewusst, dass es gut sein kann, dass wir uns zum letzten Mal sehen. In einem Jahr lud ich Freunde aus der Fernsehbranche ein: einen Regisseur, einen Kameramann, einen Produktionsleiter und zwei Redakteure. Jeder Gast hatte die Aufgabe, seine Lieblingsszene aus seinem Lieblingsfilm mitzubringen, sie zu zeigen und anschließend zu erklären, was ihm an diesem Film und dieser Szene so gut gefällt. Wir hatten einen dramatischen Spannungsbogen an jenem Abend: Von der Untergangsszene aus dem Film „Titanic“ bis zu einer Szene aus der Comedy „Calendar Girls“ war alles dabei. Ich kann Ihnen versichern: Es war einer der schönsten Geburtstage, die ich je erlebt habe. Denn wir lernten uns alle von einer ganz anderen und ungewohnten Seite kennen.

Mit den Mitarbeitern unserer Akademie feiern wir ebenfalls regelmäßig ein Fest, meist zu Beginn eines neuen Jahres. Wir laden dann alle zu einem guten Essen ein, schauen zurück auf das, was gut gelaufen ist im vergangenen Jahr, und sprechen über das, was im neuen Jahr wohl alles auf uns zukommt und uns herausfordern wird. Diese Feste sorgen dafür, dass wir uns nicht nur als Kollegen und Kolleginnen wahrnehmen, sondern uns auch als Menschen nicht aus dem Blick verlieren. Auf diesen Festen spüren wir, dass wir miteinander verbunden sind und uns aufeinander verlassen können. Sie tragen uns durch das Jahr, doch diese Feste markieren immer auch ein Abschiednehmen: vom alten Jahr, auch von dem, was nicht gelungen ist. Erst im gelungenen Abschied entsteht die Kraft für einen mutigen Neuanfang.

Ein Neuanfang kann gelingen

Zum Abschluss noch zwei Beispiele aus dem beruflichen Kontext: Vor Jahren hat mich der Bericht eines Mitarbeiters berührt. Er beschrieb, wie ihm sein Chef nach der Kündigung einen ausführlichen Brief geschrieben und sich die Zeit genommen hat, ihm persönlich für die Jahre der Zusammenarbeit zu danken. Dies war für ihn so bemerkenswert, weil dies in den meisten Firmen unüblich ist und schlichtweg vergessen wird. Am Anfang investiert das Unternehmen sehr viele Ressourcen, um den Mitarbeiter zu gewinnen, am Ende läuft der Abschied dann häufig sehr geringschätzig ab. Im Gespräch mit Handwerkern und kleinen Unternehmern ermutige ich die Chefs, für ein „gesegnetes Ende“ zu sorgen, selbst dann, wenn man sehr unglücklich über die Verabschiedung des Mitarbeiters ist. Mitunter erleichtert dies auch den Neubeginn.

Vor wenigen Tagen erzählte mir die Chefin eines großen Unternehmens, wie traurig sie war, einen ihrer LKW-Fahrer zu verlieren. Zumal sie mit ihm sehr zufrieden war. Doch eine andere Firma bot ihm mehr Gehalt, und weg war er. Sie zögerte einen kurzen Moment, dann strahlte sie mich an: Bei der neuen Stelle hat es ihm nicht gefallen, er hat sich an die guten Zeiten im vorherigen Betrieb erinnert und gefragt, ob er zurückkommen kann. Na klar, sagte sie. Der Neuanfang gelang.

Rainer Wälde hat das Abschiednehmen früh erlebt: Mit 11 Jahren starb seine Mutter an Krebs, mit 37 Jahren seine erste Frau. Heute leitet er mit seiner zweiten Frau Ilona die Gutshof Akademie bei Kassel. Sein Herz schlägt für Sinnstifter, die ihre Lebenserfahrung der nächsten Generation weitergeben. rainerwaelde.de

Männer, redet!

Was sind die Klippen des Alterns? Sterben Männer anders als Frauen? Warum tut sich das „starke Geschlecht“ so schwer mit dem Vertrauen? Im Gespräch mit dem Altenheimpfarrer und Zukunftsforscher Dr. Markus Müller.

Sie arbeiten in der Begleitung von alten Menschen. Was begeistert Sie an Ihrer Aufgabe? Was ist schwierig?
Ich bin täglich unter Leuten mit einem enormen Erfahrungspotenzial. 80-, 90- und 100-jährige Menschen, die ihre Hoffnungen hatten. Menschen, die enttäuscht wurden. Menschen, die etwas wollten und die auf eine ganz bestimmte Art Dinge verarbeiten. Meine Aufgabe ist ja eigentlich nichts anderes, als ein bisschen danebenzustehen und zu helfen, das ein oder andere einzuordnen. Ich empfinde es als sehr bereichernd, vor allem da, wo es gelingt, jemandem dort zu begegnen, wo er wirklich ist. Es ist eine Generation, die wenig über sich nachgedacht hat, wenig gefragt hat:

Wer sind wir eigentlich? Eine Generation, die sich wenig reflektiert hat?
Ja! Selbstreflexion ist für diese Generation ein Fremdwort. Ich schätze es, den Menschen dabei zu helfen, sich zu fragen: Was empfinde ich eigentlich? Ein schwieriger Bereich ist das Phänomen Verbitterung. Da komme ich mit den Gewohnheiten, die sich über Jahre, manchmal Jahrzehnte aufgebaut haben, auch an Grenzen.

Das klingt spannend. Welche Rolle spielen alte Geschichten, Prägungen und Lebensverletzungen am Ende?
Die Herkunftsfamilie spielt eine wesentliche Rolle.

Im Sterben?
Absolut! Die Geschichte der Herkunftsfamilie ist einer der Hauptfaktoren, die bestimmen, wie ich älter werde und wie ich sterbe.

Sterben Männer anders als Frauen?
Ja! Ein bekannter Altersforscher hat mal gesagt, Frauen sterben sozialer als Männer. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen. Wenn Frauen nicht sterben können, dann ist der Grund meistens, dass sie sich Sorgen machen um noch lebende Männer oder Kinder. Bei Männern erlebe ich selten die Sorge um andere Menschen. Bei Männern erlebe ich mehr den Kampf des Lebens. Ich habe jemanden begleiten dürfen, der war Trainer von Olympia-Medaillen-Gewinnern. Der konnte nicht sterben, weil er das durchbeißen und durchhalten wollte. Er hatte verinnerlicht: „Vielleicht schaffe ich es noch, diesen Tod zu bewältigen.“ (lacht) Frauen fragen mich manchmal im Sterben: „Wie geht es Ihnen?“ Diese Frage habe ich von einem Mann noch nie gehört. Ein Mann fragt: „Was kommt jetzt?“ (lacht)

Was können Männer in der Lebensmitte heute schon fürs Ende tun?
Einem 20-Jährigen würde ich die Frage stellen: „Lebst du aus Dankbarkeit oder müssen immer noch die anderen für dich sorgen?“ Mit 30 steht die Frage an: „Will ich allein oder mit Menschen durchs Leben gehen?“ Damit meine ich nicht das Heiraten, sondern die Frage: „Lasse ich mich auf andere ein oder sind andere für mich nur Mittel zum Zweck?“ Mit 40 spielen die Fragen der Gegenwartsoptimierung oder Zukunftsgestaltung eine große Rolle. Da geht es darum, die Begrenzungen des Lebens zu bejahen und trotzdem die Gestaltung der Zukunft in die Hand zu nehmen. Bei 50-Jährigen geht es darum: „Kann ich versöhnt sein oder muss ich immer Recht haben?“ Mit 60 sollten wir uns der Frage stellen: „Welche Rolle spielt Schwäche und Begrenzung? Ist Schwäche nur ein Feind oder ist es auch eine Chance?“

»MÄNNER REDEN ÜBER ALLES, NUR NICHT ÜBER SICH SELBST.«

Nochmal konkret zur Lebensmitte.
Da gibt’s die gefürchtete Midlife-Crisis. Dies ist eine ausgesprochen schwierige Angelegenheit. Wenn Männer diese zweite Pubertät nicht aktiv durchleben und anpacken, bleiben sie Kinder. Die Vierziger sind also eine große Gelegenheit, zum reifen Mann zu werden.

Was prägt die heute 30-Jährigen und was werden sie in 60 Jahren immer noch mit sich rumschleppen?
(lacht) Ich glaube, der 30-jährige Mensch steht vor der Herausforderung: Sind die anderen für mich nur Mittel zum Zweck oder gehe ich wirklich mit anderen durchs Leben, auch mit meiner Begrenzung, auch mit meiner Ergänzungsbedürftigkeit? Wer das mit 30 Jahren nicht schafft, der wird mit 80 genau an der Frage zu arbeiten haben oder dann eben nur noch aus dem Anspruch leben können. Manchmal frage ich Sterbende: Wie war das eigentlich mit 10, mit 20, mit 30 Jahren? Und dann erlebe ich: 90-Jährige kauen noch immer an ihren Kindheits- und Jugendprägungen. Da wir mir dann gesagt: „Ich musste immer um meinen Platz kämpfen“, „Es war immer mühsam mit meinem großen Bruder“ oder „Mein Vater hat auch mit 30 nie akzeptiert, dass ich jetzt diesen Beruf ausübe“. Nach meinem Dafürhalten ist die entscheidende Frage eigentlich die nach der Identität des Mannes. Ein Mann, der mit 30 nicht weiß, wer er ist, wird es auch mit 90 schwer haben, gelassen zu sein und zu sagen: Ich bin, der ich bin. Und deshalb würde ich einem 30-Jährigen die Frage stellen: Wer bist du?

Wie können wir „alt und weise“ werden? Gibt es einen Königsweg?
Weisheit heißt für mich, die großen Linien sehen zu können und die Dinge des Lebens in die großen Linien einzuordnen. Das wäre aus meiner Sicht Weisheit. Ich glaube, wir können nie früh genug miteinander lernen, Grundfragen zu stellen. Bei Männern sehe ich folgende Gefahr: Die hinterfragen alles, nur sich selbst nicht. Sie reden über alles, nur nicht über sich selbst.

„Tod“ und „Sterben“ sind brisante Themen. Wie ist es möglich, mit Männern darüber zu sprechen?
Spannende Frage. Mit 90-Jährigen ist das leicht. Da atmet das Sterben schon etwas von Verheißung. Die 60-Jährigen tun sich da extrem schwer, wobei es schwieriger ist, über das Älterwerden zu reden als über das Sterben und den Tod. Sterben und Tod kommen automatisch, aber Älterwerden, da bin ich längerfristig betroffen. Es gibt ein Buch von Silvia Aeschbach, „Älterwerden für Anfängerinnen: „Willkommen im Klub“, und ein zweites Buch „Älterwerden für Anfänger: Willkommen im Klub zum Zweiten“. Sie sagt, dass es viel einfacher ist, mit Frauen über das Älterwerden zu reden als mit Männern, weil der Körper eine ganz andere Funktion hat. Bei der Frau ist der Körper sozusagen das Kernmerkmal ihres Wesens. Der Mann sagt, der Körper ist meine Ressource – damit ich was tun kann, muss er funktionieren. Der Mann redet erst über den Körper und – so glaube ich – auch über das Älterwerden, wenn es Einbrüche gibt.

Dann doch eher schweigen und abwarten?
Nein! Ich erlebe, dass es einem 60-Jährigen sehr guttut, über das Älterwerden zu reden, aber das braucht ein bestimmtes Mittel. Es gibt eine Außendimension und eine Innendimension. Der Apostel Paulus redet vom äußeren Menschen, der verfällt, und vom inneren Menschen, der von Tag zu Tag erneuert wird. Deshalb frage ich gelegentlich Männer in meinem Alter: „Du, wie geht’s eigentlich deinem inneren Menschen?“ Dann ist natürlich Staunen vorprogrammiert: „Was meinst du mit innerem Menschen?“ Dankbarkeit, Ja sagen zu Begrenzungen, mit seinen Grenzen richtig umgehen. Und dann führe ich mit Männern hochinteressante Gespräche.

Wie ist es um das Vertrauen in Zeiten von „Fake News“ bestellt? Worauf können wir noch vertrauen?
Wir Männer müssen weniger das Sachvertrauen trainieren als das Beziehungsvertrauen. Wir haben ein großes Defizit im Beziehungsvertrauen, also darin, dem Menschen zu vertrauen, der mir real begegnet, Gott zu vertrauen, mir selber zu vertrauen. Durch gelebte Beziehungen komme ich nämlich mit Fake News besser zurecht. Ich sage: Männer, redet über das Leben, redet darüber, was ihr glaubt! Und Männer, die sich darüber austauschen, was sie eigentlich glauben, sind entspannter gegenüber den Nachrichten, wenn wieder irgendetwas komisch daherkommt.

Wie kann ein Mann zu einem gesunden Selbstvertrauen finden?
Gesundes Selbstvertrauen hängt wesentlich vom Zutrauen ab, das ihm durch andere gegeben wird.

Und wenn er das noch nie erlebt hat?
Männer, denen nie etwas zugetraut worden ist, haben ein extrem dürftiges Selbstvertrauen. Sie kaschieren es oft durch Leistung, Ansehen und Erfolg. Ich glaube, die Identitätsfrage ist schon im Neuen Testament wichtig und sehr offensichtlich, als Gott selber zu seinem Sohn sagt: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ Das scheint mir das Schlüsselthema zu sein. Ich frage Männer gelegentlich: Was ist dir eigentlich schon zugesprochen worden? Frauen, vor allem ältere, erinnern sich gut an ihren Konfirmationsspruch. Männer interessanterweise seltener. Ich frage dann manchmal: „Wenn ich dir jetzt zuspreche, du bist ein Geliebter, was macht das mit dir?“ Ich spreche es ihm erst dann zu und nicht, wie wir es in der christlichen Szene oft sehr schnell und rituell machen, nach dem Motto: Wir sprechen dir das jetzt zu und dann ist die Sache erledigt. Manchmal befürchte ich, dass daraus nicht sehr viel wächst. Ich glaube, ein Mann braucht diese Reflexion und diesen Zuspruch, und ich glaube, dass das der Weg ist zu einem gesunden und mündigen Selbstvertrauen.

Herzlichen Dank, das war richtig starker Stoff!

Die Fragen stellten MOVO-Redakteur Rüdiger Jope und Ulrich Mang, Theologiestudent aus Halle/Saale.

Dr. Markus Müller studierte Heilpädagogik, Erziehungswissenschaft und Anthropologie. Drei Jahre arbeitete er am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. 1986 promovierte er in Behindertenpädagogik an der Philosophischen Fakultät in Fribourg/Schweiz. Von 2001 bis 2012 war er Direktor der Pilgermission St. Chrischona. Er ist verheiratet mit Doris. Die beiden haben vier Kinder. Seit 2012 arbeitet er als Heimpfarrer der Heimstätte Rämismühle bei Winterthur/CH. Sein neustes Buch trägt den Titel: „Lebensplanung für Fortgeschrittene“ (SCM Hänssler).