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Zahnarzt Dr. Marcel Cucu (Foto: Tobias Grimm)

Marcel Cucu flüchtet mit drei Jahren aus Rumänien – heute bringt er Menschen als Zahnarzt zum Lachen

Doktor Cucu ist kein normaler Zahnarzt. Seine Praxis ist knallbunt, Humor ist sein Antrieb. Dabei fing sein Leben überhaupt nicht lustig an.

Dr. Cucu kann nicht still sitzen. Er zupft sich sein buntes Hemd zurecht. Lacht herzlich. Ein Blick auf die Uhr. Zeit ist sein wertvollstes Gut. Marcel Cucu ist ein Exot. Denn Cucu heißt sonst niemand in der Schweiz. Aber auch neben der Einzigartigkeit seines rumänischen Nachnamens fällt Cucu auf, hier in Schaffhausen. Er ist Zahnarzt. Nicht für die faulen Zähne, sondern für Zahnspangen. Kieferorthopäde.

Einen Exoten nenne ich ihn an dieser Stelle auch, weil ihm bei einer zufälligen Begegnung wohl kaum jemand den Beruf Zahnarzt zuordnen würde. Und er fällt aus vielen Gründen auf – zum Beispiel mit seiner Zahnarztpraxis, die alles andere als weiß ist.

Lebensfroh heißt farbenfroh

Hellgrün, Orange, Himmelblau – das sind seine Farben. Angefangen beim Brillengestell. Es ist dick. Und knallig. Er habe mehrere davon, sagt er. Heute trägt er die violette. Kunterbunt, so sieht hier alles aus. Lebensfroh heißt hier farbenfroh. Überhaupt erinnert hier kaum etwas an die sonst so sterile Umgebung einer Arzt- oder eben Zahnarztpraxis.

Das Team trägt bunte Shirts, farbige Sneakers und an den Wänden hängen kunterbunte Kuckucksuhren. Jeder Kuckuck schnellt raus aus seinem Häuschen und ruft – zu jeder Stunde, in jedem Raum. Im Hintergrund läuft moderne Kirchenmusik. Eine Praxis voller Gegensätze. „Es gibt in dieser Welt genügend graue Mäuse. Ich will Farbe ins Leben bringen. Die bunten Farben in meiner Praxis sind für mich ein Abbild meiner Haltung zum Leben. Ein Statement für die Lebensfreude.“

Diese Freude zu leben sei für ihn ein lebenslanges Lernfeld. „Bleib so, wie du bist: Dieses Sprichwort ist für mich das schlimmste von allen. Wenn mir das jemand zum Geburtstag wünscht, dann sage ich ihm: Hör auf!“ Marcel Cucu will lernen. Sich entwickeln. Jeden Tag aufs Neue. Dabei lässt er sich gerne vom Leben treiben: „Ich bin ein spontaner Mensch. Dabei gehen manche Türen auf, andere zu. Ich will einfach mal machen, einfach mal losgehen.“

Auf der Flucht

„Ich bin handwerklich nutzlos„, dachte sich Marcel Cucu schon immer. Doch es kommt anders. Heute ist präzises Arbeiten sein Lebenselixier und der Weg dorthin eine Erfolgsgeschichte mit Stolpersteinen. Alles beginnt 1968 in Rumänien. Politische Unruhen plagen zu dieser Zeit das Land. Und so wird aus der Geschichte des kleinen Marcel die Geschichte eines Nomaden.

Seine Eltern müssen flüchten und lassen ihn bei den Großeltern in Rumänien zurück. Via Sowjetunion und Finnland reisen Cucus nach Schweden. Nach einer jahrelangen politischen Odyssee reist Marcel Cucu mit 3,5 Jahren endlich ebenfalls nach Göteborg. Seine Eltern kämpfen sich hoch. Und werden Zahnärzte. Auch Marcel wird Zahnarzt. Trotz Widerstand seiner Eltern.

Nach Südafrika auswandern

Der Arbeitsmarkt in Schweden ist schwierig. Aber Dr. Cucu lässt sich nicht unterkriegen (nicht das letzte Mal in seinem Leben) und sieht diese Herausforderungen als große Chance auf eine bessere Zukunft. So zieht er mit 22 Jahren nach Italien und wandert kurz darauf nach Südafrika aus.

In Pretoria bildet er sich weiter zum Kieferorthopäden. Hier ist er auf sich allein gestellt und die ganz großen Fragen werden laut. Warum bin ich eigentlich auf dieser Welt? Was soll ich tun? Was ist der Sinn des Lebens? Antworten findet er im christlichen Glauben. Das gibt ihm Kraft und Hoffnung.

„Humor hilft immer“

„Humor ist wichtig. Humor hilft immer“, sagt Marcel Cucu. Man müsse lachen können im Leben. Und überhaupt sei Humor der Antrieb in seinem Leben. Er will Menschen zum Lachen bringen. Und ihnen das Lächeln verschönern. An seinem Beruf fasziniere ihn deshalb besonders, dass er Menschen glücklich machen kann. Nach einer zweijährigen Behandlung wird aus einem schrägen Lächeln plötzlich wieder ein gerades.

Im Zentrum: der Mensch, die Begegnung. „Es ist ganz einfach: Mich begeistern Menschen“, sagt Marcel Cucu. „Auch wenn der Alltag in der Praxis mit einer hohen Geschwindigkeit läuft, will ich, dass sich die Patienten gesehen fühlen.“ Auch darum hat er ein fünfköpfiges Team angestellt – das gebe ihm selbst den Raum, sich Zeit für die Menschen zu nehmen. Den Alltag gut zu planen, schafft die Möglichkeit, im Hier und Jetzt zu sein.

Viel zu tun

Cucu ist voller Tatendrang. Rumsitzen ist nicht sein Ding. 7.000 Patientinnen und Patienten hat Dr. Cucu in den letzten 18 Jahren in seiner Praxis behandelt. Zahnärzte haben viel zu tun. Immer mehr. Das sei vor allem der Zahntechnik zu verschulden, die sich in den letzten Jahrzehnten massiv verbessert hat, sagt er. Kieferorthopädische Behandlungen sind heute schmerzfreier und schneller als früher – und günstiger.

Oft kommen Leute in die Praxis mit Rückenbeschwerden oder Migräne. Den Körper müsse man ganzheitlich anschauen. Alles habe einen Zusammenhang, sagt Cucu. Kieferschrägstellungen können chronische Kopfschmerzen auslösen – keine Luxusprobleme. Dabei haben Zähne viel mit Genetik zu tun. Mit einfachen Mitteln könne aber vieles korrigiert werden. Zum Beispiel nach einem Unfall die Zähne wieder in Stellung zu bringen oder eine Lücke mit anderen Zähnen zu schließen.

Freitag ist Frei-Tag

Über 50 Patient/-innen sind für Marcel Cucu normal – pro Tag. Diese Geschwindigkeit des Alltags ist Lust und Last zugleich. „Dauermüdigkeit und Unzufriedenheit – Gefahr für Burnout als Zahnarzt steigt“, titelte das deutsche Dental Magazin kürzlich und bezieht sich auf eine aktuelle britische Umfrage über die Burnout-Rate von Zahnärzten. Stress und Zeitdruck – eine Dauerbelastung. Ärzte – ob Zahnärztinnen oder Mediziner – sind Arbeitstiere. Waren es schon immer.

Schon Ende der 1980er-Jahre kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass der Zahnarztberuf mehr Stress und stressbezogene Probleme mit sich bringe als die meisten anderen Berufe. Gerade Zahnärzte hätten ein zu 25 Prozent höheres Herzinfarktrisiko als der Durchschnitt der Bevölkerung. Dass er nicht auch ausbrennen will, dafür hat sich der 54-jährige Dr. Cucu bei der Eröffnung seiner Praxis entschieden. Sein Rezept ist so simpel wie bestechend: „Der Freitag ist mein Frei-Tag.“

Dieser Tag heiße ja nicht umsonst so. Also mache er frei. Und auch seine Praxisassistentinnen haben jeden Freitag den bezahlten Frei-Tag. Gas geben und Pause machen. Das gibt Platz für Relevantes im Leben. Luft zum Atmen. Zeit für die Familie, für sich und Freunde. Ein Tag zum Sein, zum Kochen und Biken. Ohne diesen bewussten Frei-Tag hätte er wohl schon lange einen Burnout, sagt er.

Ein Nomade, der sesshaft wurde

Rumänien, Schweden, Italien, Südafrika, Schweiz. Die Liste ist lang. „Ich fühle mich überall wohl“, sagt Marcel Cucu. Er fühle sich da zu Hause, wo er gerade sei. Seit 22 Jahren ist es nun die Schweiz. Wichtig sind ihm dabei die Menschen. Das zeigen auch die kunstvollen Porträtbilder von Menschen aus aller Welt, welche die Wände zwischen den Kuckucksuhren seiner Praxis zieren: „Ein Lächeln sagt so viel über einen Menschen aus.“

Marcel Cucu ist Geschäftsmann, aber auch ein Menschenfreund. Dass dabei das Streben nach einem ausgeglichenen Leben nicht in Vergessenheit gerät, macht Hoffnung für unsere Gesellschaft. Dieses Fragen nach dem Haben oder Sein und dem Ringen nach einer Haltung für ein besseres Leben erinnert an den Philosophen Erich Fromm, der sagte: „Wenn ich bin, der ich bin, und nicht, was ich habe, kann mich niemand berauben oder meine Sicherheit und mein Identitätsgefühl bedrohen. Mein Zentrum ist in mir selbst.“

Tobias Grimm ist selbstständiger Grafiker, Multimedia-Produzent und freier Journalist. Er lebt mit seiner Frau in Bern. Er mag Fragen, Menschen und den Flugmodus. tobiasgrimm.ch

Sven Hannawald springt Ski vor der Kulisse der Zugspitze. (Foto: Christof Stache)

Sven Hannawald: Skisprungheld stürzt vom Siegerpodest in die Depression

Nach seinem Triumph bei der Vierschanzentournee 2002 holt ein Burnout samt Depression den Skispringer Sven Hannawald ein. Wenn er nicht rechtzeitig in eine Klinik gegangen wäre, würde er heute nicht mehr leben, ist Hannawald überzeugt.

Hallo Sven, nach dem Absprung fliegt ein Skispringer etwa drei Sekunden durch die Luft. Beim Skifliegen sind es sogar acht Sekunden. Wie fühlt sich das an?

Beim Fliegen ist das Schwerelose so besonders. Als Skispringer lebt man den Traum des Menschen, fliegen zu können – ohne Motor. Wir spielen mit den Lüften, das ist unheimlich toll und speziell. Ich wollte immer so weit fliegen wie möglich.

Warst du glücklich, nachdem dein Kindheitstraum in Erfüllung ging und du alle vier Springen der Vierschanzentournee 2002 gewonnen hattest? Vor dir war das noch keinem anderen Skispringer gelungen.

Ich habe jahrelang auf das Ziel, die Tournee zu gewinnen, hingearbeitet. Es war erlösend und befreiend, es geschafft zu haben. Als Erster einen Vierfachsieg zu holen, war unglaublich. Schon als kleiner Junge hatte ich den Traum, die Tournee zu gewinnen. Im Nachhinein habe ich aber auch gemerkt, was ich dafür meinem Körper antun musste. Nachträglich würde ich trotzdem nichts ändern. Der Gewinn war mir wichtiger als eventuelle körperliche Probleme.

„Nach dem großen Erfolg war mir alles zu viel“

Zwei Jahre nach dem Gewinn der Vierschanzentournee und einer Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City 2002 hast du die Diagnose Burnout mit mittelschwerer Depression bekommen. Nach einer Behandlung in einer Spezialklinik hast du 2005 deine Karriere als Skispringer beendet. Wie kam es zu deinem Burnout und der Depression?

Ich bin sehr perfektionistisch und ehrgeizig. Nach einem Springen oder dem Krafttraining habe ich meinem Körper zwar physische Pausen gegeben, aber keine psychischen. Ich habe immer ans nächste Springen gedacht. Das war wichtig, um zu gewinnen, aber es gab keine Balance in meinem Leben. Nach dem großen Erfolg war mir alles zu viel und ich habe mich unheimlich schwergetan, weiter dranzubleiben. Mein Körper hatte dem Erfolg zu viel Tribut gezollt.

Mit welchen Symptomen haben sich der Burnout und die Depression geäußert?

Es hat mit Müdigkeit angefangen. Normalerweise schläft man und geht in den Urlaub, um sich zu erholen. Ich habe mich nach zwei Wochen Urlaub aber immer noch so gefühlt, wie zu dem Zeitpunkt, als ich in den Flieger gestiegen und hingeflogen bin.

Früher hatte ich schon zwei Tage nach Saisonende wieder ein inneres Feuer, mit dem Training anzufangen – um mir einen Vorsprung zu erarbeiten. Von Saison zu Saison wurde der Zeitraum immer größer, bis ich wieder das innere grüne Licht bekommen habe. Da war ich dann in einer mir selbst auferlegten Bringschuld: Eigentlich müsste ich mit dem Training anfangen, aber ich hatte noch gar keine Lust.

Mein „Ich muss jetzt trotzdem trainieren“-Anspruch hat eine Unruhe in mich reingebracht. Ich war komplett überfordert, weil die Unruhe und Abgeschlagenheit sich nicht zurückzogen. Wenn ich nach oder vor einem Wettbewerb in meinem gewünschten Einzelzimmer war und eigentlich meine Ruhe hatte, kam ich mit der inneren Unruhe nicht klar.

„Ich habe anderthalb Jahre lang alle möglichen Ärzte aufgesucht“

Wie bist du mit dieser Unruhe umgegangen?

Ich wurde kirre im Kopf, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, damit es mir endlich besser ging. Egal, was ich gemacht habe, es wurde nicht besser. Ich hatte gar nicht die Ruhe, mich auszuruhen. Stattdessen bin ich der Unruhe gefolgt und habe eher wieder mehr gemacht, um das Gefühl der Unruhe zu übergehen.

Dann habe ich mich einen Moment gut gefühlt, weil ich was gemacht habe. Der Frust war für kurze Zeit weg, aber ich war dann noch müder. Das war ein Kreislauf, der stetig nach unten ging. Ich habe dann anderthalb Jahre lang alle möglichen Ärzte aufgesucht und keiner hat was gefunden.

Nach dem Ärztemarathon bist du in einer Klinik gelandet. Den Komiker Torsten Sträter hat es viel Überwindung gekostet, sich in Therapie zu begeben. Bei dir scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Warum?

Das lag daran, dass ich aus dem Einzelsport komme. Ich wusste dementsprechend, dass ich zu 140 Prozent fit sein muss oder keine Chance auf einen Sieg habe. Meine damalige Verfassung hat nicht mal für den Continental Cup, also die zweite Liga, gereicht. Ich war 30 und mir war klar, dass ich noch maximal bis 33 Skispringen kann und mir somit die Zeit davonläuft. Deshalb wollte ich keine Zeit verschwenden und das Problem direkt lösen.

„Es war tränenreich“

Wie war es in der Klinik?

Viele sagen: „Oh, bloß keine Klinik! Ich hab ja keinen an der Klatsche!“ Aber ich habe das gleich so gesehen, dass die Klinik wirklich eine neutrale Oase ist, wo ich wieder den Boden unter die Füße bekommen kann. Ich hatte dort viele gute Gespräche, wo auch meine Gefühlsebene zur Sprache kam, die ich in meiner Skisprungkarriere lange wegdrücken musste.

In der Klinik konnte ich meinem Körper und meiner Seele das geben, was sie gebraucht haben – ohne Leistungsdenken. Es war tränenreich, aber hat sich unglaublich gut angefühlt. Nach fünf Wochen war ich wieder bereit für die große weite Welt. Ich habe mich wieder gespürt und Lust gehabt, etwas zu unternehmen. Es war neues, frisches Leben in mir.

Welchen Wert misst du Freundschaften im Kampf gegen Depressionen bei?

Es ist unheimlich wichtig, Vertrauenspersonen wie Freunde und Familie zu haben, denen man sich öffnen kann. Man hat oft das Gefühl, ein Verlierer des Lebens zu sein, was aber überhaupt nicht so ist. Dementsprechend sind enge Vertraute wichtig, die einem Rückhalt geben. Meistens ist das Umfeld aber überfordert damit, alles aufzufangen und in die richtige Richtung zu arbeiten. Da gilt es dann, professionelle Hilfe zu suchen.

„Das kann nur jemand nachvollziehen, der eine Depression erlebt hat“

Der Fußball-Torwart Robert Enke nahm sich 2009 das Leben. Er hatte seit 2002 immer wieder Depressionen – hervorgerufen durch Versagensängste und Selbstzweifel. Hätte es bei dir ebenfalls so enden können?

Ja. Definitiv. Wenn ich 2004 noch mal sechs Jahre mit Skispringen weitergemacht hätte, dann wäre ich mit Sicherheit an diesen Punkt gekommen. Das kann nur jemand nachvollziehen, der eine Depression erlebt hat. Man will das ganze Psychische, was in einem rumfliegt, einfach nur loswerden. Bei mir war es nur eine kurze Zeit, wo ich das so extrem gemerkt habe. Ich bin dann zum Glück dem Rat meiner Ärzte gefolgt und in eine Klinik gegangen.

Nachdem du aus der Klinik raus warst, bist du noch einige Jahre in Therapie gegangen. Wann hast du dich wieder gesund gefühlt?

Mir hat es geholfen, mit dem Rennsport wieder eine Aufgabe zu finden. Skispringen konnte ich nicht mehr, weil mein Körper jedes Mal in der Nähe einer Schanze Stresssignale ausgesandt hat. Der Rennsport war das letzte Puzzleteil, um mich wieder glücklich zu fühlen.

Ich habe eine Aufgabe gebraucht. Davor hatte ich nichts, wo ich gemerkt habe, dass ich für etwas geschaffen bin. Ich bin morgens aufgestanden, habe den Tag genossen, gegessen und bin wieder ins Bett. Ohne Aufgabe ist es für einen Menschen einfach schwierig zu leben.

„Zeit mit meiner Familie hat Priorität“

In deinem Buch „Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“ schreibst du, dass du jetzt auf einem soliden Fundament stehst. Was ist dein Fundament?

Meine Familie. Meine Frau und meine beiden Kinder, die ich als meine Oase ansehe. Darauf baue ich jetzt alles auf. Zeit mit meiner Familie hat Priorität. Wenn Termine mit Familienzeit oder Urlaub kollidieren, sage ich sie ab oder verschiebe sie.

In einem Welt-Interview hast du gesagt, dass du gläubig bist. Welche Rolle hat der Glaube in deinem Heilungsprozess gespielt?

Und wie wichtig ist er für dich heute? Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, da war Kirche kein großes Thema. Trotzdem glaube ich, dass jemand auf mich aufpasst, mir so ein bisschen auf der Schulter sitzt und gewisse Dinge zulässt oder auch nicht. Das gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein, sondern meinen Weg gemeinsam mit jemand anderem zu gehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte MOVO-Volontär Pascal Alius.

 

Anlaufstellen bei Depressionen:

Grundsätzlich ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner für die Diagnostik und Behandlung von Depressionen. Bei Bedarf überweist er an einen Facharzt bzw. psychologischen Psychotherapeuten. In Notfällen, z. B. bei drängenden und konkreten Suizidgedanken, bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter der Telefonnummer 112 wenden. Der Sozialpsychiatrische Dienst bietet Beratung und Hilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörige an.

www.deutsche-depressionshilfe.de
www.143.ch
www.depression.at

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Do-it-yourself: Warum müssen immer noch alle Männer Heimwerker sein?

Zwei linke Hände gleich halbe Portion? Von Männern wird handwerkliches Geschick erwartet. Martin Buchholz meint: Meine Schuhe mache ich doch auch nicht selber.

Sagen wir gleich, wie es ist: Ich bin nicht mit Hammer und Meißel zur Welt gekommen. Ich kann nicht löten und schweißen, kann weder Fliesen noch Parkett verlegen. Und verspürte auch noch nie das Bedürfnis, es mit blutigen Fingern zu lernen. Damit hatte ich selber auch nie ein Problem. Bis ich merkte: Echte Männer müssen so was können.

In unserem Land ist das nämlich so: Du kannst als Mann den Nobelpreis für Physik gewinnen, als Hirnchirurg täglich Leben retten oder Bundeskanzler sein – wenn du daneben nicht auch noch ein gewiefter Hand- und Heimwerker bist, giltst du in den Augen der Gesellschaft als halbe Portion. Das ist statistisch zwar nicht messbar, aber erfahrbar.

Mitleidige Blicke ernten

In dem leisen Schmunzeln und den unverhohlen mitleidigen Blicken, die meine Frau und ich ernten, wenn wir im Freundeskreis eine Geschichte wie diese erzählen: Der billige Plastik-Siphon unter unserer Spüle rutschte immer wieder nach einigen Tagen aus seiner Fassung, weil die Mülleimer, die davor standen, permanent dagegen drückten. Monatelang haben wir das Teil wieder notdürftig reingeschraubt (ja, das habe ich irgendwie selber gemacht), bis es sich wenig später wieder löste. Dann bestellten wir einen Handwerker.

Er hörte sich das Dilemma an, schmunzelte kurz und sägte dann vier Zentimeter von dem Siphon ab. Seitdem hält das Teil. Unsere große Erleichterung konnten unsere Freunde nur bedingt nachvollziehen: „Äh, und für so eine Lappalie lasst ihr extra einen Handwerker kommen?!“

Heimwerken: Sexy, aber nicht ohne Risiko

Ja, sicher! Weil er weiß, wie es geht. Selbermachen gilt zwar als sexy, ist aber nicht ohne Risiken, wie ich leidvoll erfuhr, als ich einmal den Fehler beging, es doch zu versuchen: Ich habe unsere Garderobe im Flur eigenhändig an die Wand gedübelt. Hat sogar gehalten. Drei Tage lang. Dann bröselte mir die Garderobe aus der nassen Wand wieder entgegen. Dass keine zwei Zentimeter unter dem billigen Putz unser Abflussrohr verlief, hatte mir keiner gesagt. Wir taten, was wir gleich hätten tun sollen, und bestellten einen Handwerker.

Warum auch nicht?! Das sind Fachleute, die diesen Beruf gelernt haben. Ich nicht. Meine Schuhe mache ich doch auch nicht selber. Ich verdiene Geld mit Filmemachen, Liedern und Geschichten, damit ich andere für das bezahlen kann, was sie gut beherrschen. Dieses Prinzip der modernen Arbeitsteilung leuchtet doch auch den meisten ein; nur nicht in Sachen Heimwerker. Da hält sich hartnäckig das archaische Klischee, dass „Mann“ so was eben kann.

Handwerklich begabte Freunde fragen

Zum Glück bin ich seit über 30 Jahren mit einer Frau verheiratet, die meine Heimwerker-Phobie geduldig, tapfer und lösungsorientiert erträgt. Der britische Schriftsteller George Bernard Shaw hat gesagt: „Gute Freunde sind Gottes Entschuldigung für schlechte Verwandte.“ Meine Frau pflegt hingegen zu sagen: „Handwerklich begabte Freunde sind Gottes Entschuldigung für meinen Ehemann!“ Womit ich die haushaltsinterne Lösung vieler unserer Baustellen bereits angedeutet habe. Wir wägen einfach jedes Mal ab: Bestellen wir gleich einen Profi – oder fragen wir einen Freund? Letzteres ist natürlich heikel. Wer will schon ständig seinen Freunden mit so was auf die Nerven gehen? Und vor allem: Wie bedanken wir uns hinterher angemessen?

Diese Frage wurde besonders drängend, nachdem meine Frau schon vor über 20 Jahren ihren befreundeten Arbeitskollegen Friedhelm gebeten hatte, uns beim „Ausbau“ unseres neuen Reihenhauses zu helfen. Was Friedhelm gerne und mit – für mich völlig unvorstellbarer – Fachkompetenz dann auch tat. Zum Dank tat ich das, was ich eben besser kann, und schrieb ein Lied für ihn, auf die Melodie des Beatles-Klassikers „Help“. Wer mitsingen möchte, bitteschön:

Friedhelm-„Help“-Song

„Als ich noch jünger war, da dachte ich bei mir: Wenn was kaputtgeht, dass ich das alleine reparier‘. Doch heut‘ weiß meine Frau, dass ich das gar nicht kann. Und immer dann, wenn Not am Mann ist, ruft sie einen an:

Hilf uns, lieber Friedhelm, wir sind down! Bitte hilf den alten Schrank zusamm’nzubau’n. Hilf, bevor mein Mann und ich uns hau’n. Won’t you please, please help me!

Vor Jahren zogen wir in unser Reihenhaus. Wir kannten einen, der kennt sich mit so was bestens aus. Er brachte Lampen an, hat Schalter installiert. Ein echter Mann, der so was kann – und mich damit blamiert.

Hilf uns, lieber Friedhelm, beim Parkett. Komm, verlege unser’n Boden, Brett für Brett! Hilf uns, lieber Friedhelm, sei so nett! Won’t you please, please help me!“

Peinlichkeitsschwelle überwinden

Ja, natürlich gibt es in unserem handwerkerlosen Haushalt jedes Mal auch eine gewisse Peinlichkeitsschwelle zu überwinden, bevor wir dann eben doch um fachkundige Hilfe bitten. Die Folge davon lautet bei uns: Nichts hält länger als ein Provisorium. Unser schönes Holzbett zum Beispiel. Das wurde an den vier Ecken von so kleinen Holzstiften zusammengehalten, die einfach ineinander geschoben waren. Verklebt haben wir sie nie, weil wir dachten, dass wir die Teile dann ja nie wieder getrennt kriegen.

Nun ja, die Konsequenz war, dass auf meinem Nachttisch immer ein Gummihammer lag, mit dem wir alle paar Tage die Holzteile des Bettes wieder zusammengeklopft haben. Als wir dann schließlich doch einen Handwerker kommen ließen und der sich das Ganze ansah, war es um seine Fassung geschehen. Er stammelte nur noch „Entschuldigung!“ und bog sich vor Lachen. Dann verklebte er die Teile („Kein Problem, das Bett kriegen Sie trotzdem später wieder zerlegt“), presste das Ganze mit riesigen Schraubzwingen zusammen und fertig.

Unfallfrei und gesund

Ich höre im Geiste schon, wie sich alle gewieften Heimwerker nun beim Lesen amüsiert auf die Schenkel klopfen. Macht nichts. Damit komme ich klar. Und gebe zu bedenken, was mir aufgrund meines mangelnden Talents alles erspart bleibt: Ich bin noch nie beim Lampen-Fixieren von der Leiter gefallen, habe mir noch nie beim Brettersägen einen Finger amputiert oder beim Reparieren der Waschmaschine den Keller geflutet.

Denn wenn eines beim archetypischen Heimwerker-Mann kein Klischee, sondern Realität ist, dann ist das seine Neigung zur chronischen Selbstüberschätzung mit unabsehbaren Folgen für die Gesundheit. Aus welcher frühen Epoche der Evolution die stammt, mögen die Verhaltensforscher erklären. Jedenfalls ist es wohl kaum genetisch bedingt, wenn Mädchen mit Puppen spielen und kochen lernen, während Jungs irgendwas bauen und basteln. Der Handwerker, der vor Jahren fachkundig unseren Herd reparierte, war übrigens eine Handwerkerin. Wer hätte das gedacht?

Auch Kochen braucht „handwerkliches“ Geschick

Andererseits soll es ja immer noch Männer geben, die zwar hobbymäßig ohne Probleme ein ganzes Dach gedeckt kriegen, aber am Herd schon mit Spiegeleiern vollkommen überfordert sind. Da bin ich jetzt mal aus dem Schneider. Koch ist zwar offiziell kein Handwerksberuf, erfordert aber durchaus „handwerkliche“ Erfahrung.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich koche nämlich oft – und gut! Meint zumindest meine Frau. Im post-emanzipatorischen Zeitalter des 21. Jahrhunderts stellt sich darum die Frage: Warum müssen immer noch alle Männer Heimwerker sein und alle Frauen kochen können?

Martin Buchholz ist ein leidenschaftlicher Erzähler. Als Filmemacher in seinen TV-Dokumentationen für ARD und ZDF, als Songpoet und Referent in Konzerten und Gottesdiensten. Der studierte Theologe lebt mit seiner Frau in Rösrath bei Köln. (martinbuchholz.com)

Symbolbild: nensuria / iStock / Getty Images Plus

WOOP-Methode: So nutzen Sie Hindernisse, um Ihre Ziele zu erreichen

Der Griff zur Chipstüte fällt häufig viel leichter, als sich für einen Spaziergang aufzuraffen. Mit den vier Schritten der WOOP-Methode machen Sie sich Ihren größten Feind zum Verbündeten.

Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, heißt es im Volksmund. Aber warum eigentlich? Ein Grund ist, dass solche Vorsätze häufig eingefleischte Gewohnheiten betreffen, die vor heute auf morgen geändert werden sollen. Oder unsere ganz großen Lebensziele, wohl wissend, dass wir diese nie auf einen Schlag erreichen werden. Beides ist also eigentlich ein sicheres Rezept zum Scheitern. Die Psychologin Gabriele Oettingen erklärt, welche Fallstricke es noch für unsere Vorsätze gibt und wie wir auch anspruchsvolle Ziele wuppen.

Warum Veränderung so schwer ist

Häufig packen wir gerade Gewohnheiten an, die wir über Jahre „geübt“ haben, für die wir unsere unbewussten Programme und Routinen haben: Wann, wo und wie der Griff zur Zigarette oder zur Chipstüte passiert oder der Weg zum Sofa viel attraktiver erscheint als der ins Fitness-Studio.

Aber nicht nur dies: Unsere Änderungswünsche sind auch häufig zu diffus, keine klaren Ziele und ohne konkreten Plan. An mögliche Widrigkeiten denken wir erst recht nicht, die bringt das Leben von allein. So ist dann am Anfang die Motivation zwar groß, doch am Ende erlahmt die Willenskraft und alles bleibt beim Alten. Doch das muss nicht so bleiben.

Wie wir Veränderungen doch noch wuppen

An beschriebenen Fallstricken unserer Veränderungsprozesse setzt nun genau das WOOP-Modell von Gabriele Oettingen an. In zwanzigjähriger Forschung hat sie – zusammen mit Ihrem Mann Peter Gollwitzer – das „Mentale Kontrastieren mit Implementierungs-Intentionen“ entwickelt.

Weil dieser Begriff so sperrig und unverständlich klingt, hat sie der Methode den benutzerfreundlichen Zweitnamen WOOP beigelegt. In USA, wo Oettingen arbeitet, ist dieser Ausruf als „verbales Highfive“ üblich, wenn man über den gelungenen Ausgang einer Sache so richtig begeistert ist.

Dieser Name ist nicht nur viel cooler, jeder der vier Buchstaben steht dabei auch noch für einen konkreten Schritt auf dem Weg zur Veränderung:

  • W bezeichnet den Wunsch, Englisch wish, den man verwirklichen will.
  • Das erste O steht für outcome, das konkrete Ergebnis nach einer geglückten Veränderung.
  • Das zweite O sind die Hindernisse, Englisch obstacles, auf dem Weg zum Ziel.
  • Und P schließlich meint das Planen des Wegs zum Ziel und dem gewünschten Ergebnis sowie vor allem die Überwindung der Hindernisse.

Warum sollten genau diese vier Schritte die Lösung für all die unzähligen Vorsätze sein, die nach wenigen Wochen schon wieder gescheitert waren? Ein Beispiel soll sowohl den Ablauf als auch seine Wirkung erklären.

Vom Waschbärbauch zum Waschbrettbauch

Im jüngsten Marvelfilm Thor – Love and Thunder kann man den Donnergott erleben, wie er sich seinen Kummerspeck aus Avengers Endgame abtrainiert. Die Transformation vom Dad bod zum God bod, vom Waschbärbauch zum Waschbrettbauch, hat Thor-Darsteller Chris Hemsworth wahrscheinlich durch einen kurzen Gang in die Maske erledigt.

Nicht so bei mir. Meine Corona-bedingten Pfunde (durch die Pandemie und nicht das Bier!) sind nicht so leicht zu verlieren. Doch das unterschwellige Bodyshaming in solchen Superhelden-Filmen und die geringe Fitness machen den Verlust der Pfunde und den Aufbau von Kraft und Fitness durchaus attraktiv – auch wenn der gestählte Waschbrettbauch erst mal noch keine realistische Perspektive darstellt.

Wie das erste Pfund über die Wupper geht

Wie würde nun ein WOOP-Prozess in diesem Fall aussehen?

1. WISH – Den Wunsch konkret und klar formulieren

Der erste Schritt ist, einen konkreten Wunsch auszuwählen. Normalerweise haben wir einige unerfüllte Wünsche, aber eben nur begrenzte Willenskraft für eine Veränderung. Daher ist es wichtig, einen bestimmten auszuwählen. Optimal ist es, wenn dieser Wunsch herausfordernd, aber zum Beispiel in Monatsfrist umsetzbar ist.

Also nur die Pfunde verlieren und die auch nicht alle, sondern das erste binnen vier Wochen. Oder entsprechend für die Fitness: Hier geht es eher um die drei bis zehn Sit-Ups und weniger um eine tägliche Fünf-Kilometer-Laufrunde. Dieser Wunsch wird dann mit einer Frist von drei bis sechs Worten notiert.

2. OUTCOME – Das erreichte Ziel aufs Schönste ausmalen

Als Zweites geht es darum, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn der Wunsch aufs Schönste in Erfüllung ginge. Dazu versetzen wir uns in die Zukunft und nehmen diese mit allen Sinnen wahr. Dort stehe ich also vor meinem Kleiderschrank und kann meinen Gürtel eine Öse enger schnallen, während mir meine Frau anerkennend sagt, so gut hätte ich schon länger nicht mehr ausgesehen. Auch das wird mit einer Frist von drei bis sechs Worten schriftlich festgehalten.

3. OBSTACLES – Das zentrale innere Hindernis finden

Wenn unser Wunsch formuliert ist und wir uns dessen schönstmögliche Verwirklichung vorgestellt haben, geht es auf die Suche nach dem zentralen inneren Hindernis. Wir vergleichen dazu Gegenwart und Wunschvorstellung und fragen uns selbst nach dem Hindernis, das der Zielerreichung im Wege steht.

In meinem Fall wären dies meine Gewohnheit und das Bedürfnis, mich nach einem langen Tag am Rechner mit etwas Fettigem, Salzigen oder Zuckrigen zu belohnen – anstatt noch etwas Gesundes zu essen und einen strammen Spaziergang zu machen, was auch wieder Energie bringen würde.

Durch dieses mentale Kontrastieren von Zielvorstellung und hinderlicher Gewohnheit machen wir uns klar, dass es eben nicht nur eine lustvolle Gewohnheit ist, sondern das Hindernis schlechthin auf dem Weg zum Ziel.

Ich sehe mich also vor meinem inneren Auge mit Chips auf der Couch, während ich an die attraktive Szene vor dem Kleiderschrank denke. Diese widersprüchliche Vorstellung fordert dann meine Motivation und Entschlossenheit heraus: Will ich wirklich mit dem Kollaps auf dem Sofa meinen schönsten Moment sabotieren?

4. PLAN – Den Weg über das Hindernis hinweg planen

Was aber ist die Alternative zum Sofa? Wer jetzt noch nachdenken muss, hat schon verloren: Die gewohnte lustvolle Vorstellung von Entspannung wird über den Vorsatz siegen, sofern wir kein alternatives Programm parat haben, das wir automatisch abspulen können.

Die Lösung für dieses Dilemma verdanken wir Oettingens Mann Peter Gollwitzer. Er hat die Implementierungs- oder Umsetzungsintentionen erforscht. Was wieder sehr sperrig klingt, ist ganz einfach: Statt einen kompletten Plan für die Verwirklichung unseres Wunsches zu entwickeln, fokussieren wir uns bei WOOP unmittelbar auf die Überwindung eines konkreten Hindernisses.

Konkrete Schritte planen

Dazu überlegen wir uns die Situation, in der das Hindernis auftritt, und denken uns dafür konkrete Schritte aus, wie wir es anders machen können. Diesen neuen Weg halten wir schriftlich mit Sätzen nach dem Schema „Wenn X passiert, dann mache ich Y“ fest.

Konkret wäre das dann: „Wenn ich mit der Arbeit fertig bin, trinke ich erst einmal ein Glas Wasser und gehe eine Runde um den Block.“ Damit überwinde ich diesen Erschöpfungsmoment nach einer langen Arbeitssession, den ich bisher allzu oft mit einem Käsebrot bekämpft habe.

Ein Weg von 1.000 Meilen beginnt mit einem ersten Schritt

Anstatt zu versuchen, viele Wünsche auf einmal anzugehen und damit zu scheitern, fokussiert sich die WOOP-Methode auf eine machbare Veränderung. Nur versuchen gilt nicht. Ganz nach dem Spruch des Yedi-Meisters Yoda: „Do or Do Not. There is no try. – Tu es oder tue nicht. Es gibt kein Versuchen.“

Ist dieser Schritt geschafft, haben wir nicht nur unser Ziel erreicht, sondern auch unser Selbstvertrauen gestärkt. Das wiederum fördert auch unser psychisches Wohlbefinden und unsere Hoffnung auf gelingende Veränderung. Wir fühlen uns dann besser und sind optimistischer.

Probleme nach und nach lösen

So gestärkt können wir dann nicht nur die nächsten Pfunde oder das nächste Fitnesslevel in Angriff nehmen, sondern auch große und ehrgeizige Ziele, die das Leben lebenswerter machen. Aber eben eines nach dem anderen, wie schon der lebenskluge Papst Johannes XXIII. empfohlen hatte: „Nur für heute werde ich versuchen, den Tag zu leben, ohne die Probleme meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.“

Ziele zuverlässig erreichen

Ob es nun um kleine Tweaks zur Selbstoptimierung geht, um wichtige Kurskorrekturen oder das Erreichen großer eigener Lebensziele, mit der WOOP-Methode sind die vielen einzelnen Schritte leichter und zuverlässiger erreichbar.

Wer mehr über WOOP erfahren möchte, der findet in Oettingens Buch „Die Psychologie des Gelingens“ die ganze Story oder kann sich auf ihrer Webseite woopmylife.com Schritt für Schritt durch den Prozess führen lassen. Und welches Ziel werden Sie jetzt WOOPen?

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Symbolbild: Getty Images / E+ / VioletaStoimenova

Arzt ist überzeugt: Ein Ruhetag die Woche verbessert die Intimität in Beziehungen

In der heutigen Leistungsgesellschaft ist kein Platz mehr für Ruhe. Der Arzt Jonathan Häußer bedauert das, denn: Ein Tag ohne Arbeit verbessert Gesundheit wie Partnerschaft.

Du sollst aus dem Ruhetag keine Wissenschaft machen. So oder so ähnlich heißt es doch im dritten der Zehn Gebote. Okay, vielleicht war es auch „Gedenke an den Ruhetag und heilige ihn!“. Aber warum eigentlich? Manche behaupten ja, es sei das Gebot, das am meisten missachtet wird. Wir scheinen dem also als Gesellschaft keinen so großen Stellenwert beizumessen. Zwar sind am Sonntag viele Geschäfte geschlossen, aber so richtig Ruhe? Wer braucht das schon?

Aber seien wir mal ehrlich. Irgendwann müssen wir uns erholen. Und zumindest ich bin davon überzeugt, dass Gottes Gebote nicht dazu da sind, um uns zu drangsalieren. Am Ende geht es uns besser, wenn wir uns daran halten. Trifft das auch auf den Ruhetag zu? Ist es sogar gut für unsere Gesundheit? Vielleicht müssen wir doch aus dem Ruhetag eine Wissenschaft machen. Wir schauen uns zumindest mal an, was die Forschung dazu zu sagen hat.

Es gibt einige interessante Untersuchungen. Ein Ruhetag scheint dabei viele Bereiche zu berühren. Er wirkt sich sowohl physisch als auch psychologisch, sozial, kulturell und auf unsere Umwelt aus.

Ruhetag verbessert unser Wohlbefinden

Ein Ruhetag hilft uns, uns auf das zu fokussieren, was wirklich wichtig ist im Leben. Wer sagt schon am Ende seines Lebens: „Hätte ich mal mehr gearbeitet“? Also können wir uns die Arbeit an einem Tag guten Gewissens sparen. Meistens sind es andere Dinge, die zu kurz kommen.

Wer einen Ruhetag einhält, hat tendenziell eine bessere psychische Gesundheit. Aber Sie sollten das aus eigenem Antrieb tun und nicht, weil man es von Ihnen erwartet. Wenn man andere damit zufriedenstellen möchte, hat es eher negative Auswirkungen auf die Psyche.

Beziehungen leben auf

Ein Ruhetag bietet uns eine Gelegenheit, Beziehungen zu priorisieren und wieder mit unseren Familien und Freunden Kontakt aufzunehmen. Interessanterweise berichten auch Verheiratete, die einen Tag ruhen, von einer größeren Intimität in ihrer Beziehung. Zudem bietet so ein freier Tag Zeit, um anderen zu helfen.

Eine positive Einstellung gegenüber dem Ruhen ist mit einer besseren körperlichen Gesundheit und besserem Schlaf verbunden. Allerdings hat man z. B. bei orthodoxen Juden festgestellt, dass die Kalorienaufnahme insbesondere bei Übergewichtigen am Sabbat höher war.

Bei Adventisten, wo ein gesunder Lebensstil eine hohe Priorität hat, kann es hingegen dazu führen, dass man selbst diesen gesunden Lebensstil mehr und mehr annimmt. Bei der körperlichen Gesundheit kann ein Ruhetag also sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben.

Rest der Woche positiv beeinflussen

Halten wir fest: Ein Ruhetag kann das psychische Wohlbefinden verbessern und Beziehungen bereichern. Zudem berichten viele davon, dass ein Ruhetag einen positiven Einfluss auf den Rest der Woche hat. Da die meiste Forschung aber an religiösen Menschen durchgeführt wurde, bleibt unklar, wie die Auswirkungen bei säkularen Menschen sind.

Ich habe erst vor Kurzem angefangen, bewusst einen Tag zu ruhen. Vorher hatte ich neben der Arbeit noch einige zusätzliche Projekte am Laufen und das Ganze hat sehr viel Zeit eingenommen. Auch Beziehungen sind in dieser Zeit zu kurz gekommen. Also habe ich aufgehört, sonntags zu arbeiten.

Gemeinschaft viel mehr genießen

Es fiel mir anfangs zwar schwer und ich hatte erst befürchtet, ich würde mich langweilen. Aber mittlerweile – eigentlich schon von Anfang an – gefällt es mir sehr gut. Einfach mal entspannt nach dem Gottesdienst zusammensitzen, ohne im Hinterkopf zu haben, dass man noch irgendwas erledigen muss. Ich konnte die Gemeinschaft viel mehr genießen. Und was erledigt werden muss, das muss ich dann entweder am Tag davor tun oder eben erst am Montag.

Wie Sie Ihren Ruhetag gestalten, hängt ganz von Ihnen ab. Für mich ist es zum Beispiel in Ordnung, auch am Ruhetag Dienste in der Kirche zu übernehmen. Ob ich das auch langfristig so handhaben werde, weiß ich noch nicht. Mir war es wichtig, erst mal anzufangen und ein bisschen Erfahrung zu sammeln.

Mit der zusätzlichen Zeit kann man in sich gehen und sich Gedanken machen, wie man den Ruhetag dann in Zukunft gestalten will. Ich kann Sie nur ermutigen, dem Ruhen auch in Ihrem Leben Platz zu geben. Am Ende wird es nicht nur Ihnen, sondern auch den Menschen um Sie herum guttun.

Jonathan Häußer ist Arzt und Sportwissenschaftler und fühlt sich vor allem in der Sport- und Ernährungsmedizin zu Hause. In seiner Freizeit ist er auch selbst sehr aktiv. Wenn er nicht gerade bei der Arbeit ist oder durch den Wald läuft, ist er häufig in der Gemeinde ICF Hamburg zu finden.

Eugen Klassen und Markus Weninger (Foto: Dijana Kornelsen)

“Ich wollte nur noch in Ruhe sterben”: Zwei Hobby-Mountainbiker beim härtesten Rennen der Welt

Acht Tage, 681 Kilometer und 16.900 Höhenmeter: Das Absa Cape Epic bringt selbst Radprofis ans Limit. Markus Weninger und Eugen Klassen kämpfen während des Rennens mit der Natur und ihren Körpern.

Südafrika. Tag eins des Absa Cape Epic – dem härtesten Mountainbike-Rennen der Welt. 42 Grad. Kein Schatten. Kein Wind. Dafür unglaublich viel Adrenalin. 1040 Männer und Frauen quälen sich und ihr Mountainbike 92 Kilometer und 2850 Höhenmeter durch die Gegend um das Weingut Lourensford. Es bleibt ihnen kaum Zeit, den Ausblick auf die grünen Täler zu genießen. Rechts und links bleiben die ersten Biker am Straßenrand liegen: Dehydration – zu wenig getrunken und zu schnell losgefahren.

Erster Tag fordert Todesopfer

Einer der Fahrer wird komplett dehydriert in eine Klinik geflogen und stirbt zwei Tage später an Herzversagen. Das erzählt Eugen Klassen. Er und sein Teampartner Markus Weninger sind mittendrin im Geschehen. Beide eher Hobbybiker. Was bringt einen Projektmanager und einen Pastor dazu, sich acht Tage 681 Kilometer und 16.900 Höhenmeter durch die Hitze des südafrikanischen Herbstes zu schleppen?

Alles beginnt mit Karl Platt. Karl ist ein deutscher Mountainbiker und mit fünf ersten Plätzen Rekordsieger beim Cape Epic. Eugen und Markus kennen ihn beide über ihre Kirchengemeinde. Markus besucht ihn 2019 beim Rennen in Südafrika. Karl meint zu ihm: Fahr doch mal mit.

„Innerhalb von 40 Sekunden ausgebucht“

Einfacher gesagt als getan. Das Cape Epic ist legendär. In Südafrika kennt es jeder. Vergleichbar mit dem DFB-Pokalfinale in Deutschland. „Die Startplätze des Cape Epic sind immer innerhalb von 40 Sekunden ausgebucht“, meint Eugen. Markus ist schnell genug und er bekommt tatsächlich zwei der begehrten Plätze.

Elend fängt an

Ursprünglich soll Eugen als Koch und Logistiker dabei sein. Er hat schon bei mehreren großen Rundfahrten für Profiteams gekocht. Markus Bruder kann dann aber doch nicht mitfahren und Eugen rutscht nach. „Und dann fing das ganze Elend an“, sagt Eugen lachend.

Mindestens 4.000 bis 5.000 Kilometer sollten laut Eugen im Training gemacht werden. Zwölf Stunden in der Woche Mountainbiken. Das heißt: Auch im deutschen Winter muss der Hintern aufs Rad geschwungen werden.

Keine Zeit für Familie

Bei Regen, Minusgraden und Schneematsch geht es für Eugen durch den Odenwald – vor allem am Wochenende. Für Ausflüge mit der Familie bleibt keine Zeit. „Unsere Familien standen trotzdem voll dahinter.“ Kurz vor dem Cape Epic, mitten in der Vorbereitung, stirbt Eugens Vater an Corona. Das erschwert die ohnehin schon harte Zeit noch deutlich.

Markus und Eugen versuchen von Anfang an mehr Sinn hinter ihr Vorhaben zu bringen, unter anderem um den zeitlichen und finanziellen Aufwand vor ihren Familien und sich selbst zu rechtfertigen. „Für das Projekt haben wir 15.000 Euro ausgegeben. Unser Enthusiasmus im Sport reicht für sowas nicht. Dafür finden wir Familie zu cool und würden das Geld lieber mit denen ausgeben“, meint Eugen. Außerdem wissen beide, dass sie die sportliche Herausforderung keinen Winter lang fürs Training motivieren wird.

Spenden sammeln

Die Idee: Sie wollen das Cape Epic nutzen, um Gutes zu tun. Und zwar in dem sie durch ihre Teilnahme Spenden für zwei Hilfsprojekte – POPUP in Südafrika und Village of Eden in Uganda – sammeln. Ihr Ziel: 200.000 Euro. Zu beiden Projekten haben sie einen persönlichen Bezug.

Freunde von Eugen engagieren sich stark bei POPUP. Die Organisation hilft jungen Menschen aus der Armut heraus, unter anderem durch eine Berufsausbildung. Markus Kirchengemeinde unterstützt Village of Eden schon lange. Dort finden Waisen und bedürftige Kinder ein neues Zuhause.

„Gänsehaut“

Beim Cape Epic in Südafrika angekommen, ist Eugen überwältigt. Überall Kameras, internationales Flair, Leute von allen Kontinenten. Bisher kennt er alles nur aus dem YouTube-Livestream. Den Moment kurz vor Beginn des Rennens beschreibt er mit einem Wort: „Gänsehaut“.

Hubschrauber und Drohnen fliegen über den Fahrern und Fahrerinnen und filmen alles. „Spätestens nach der ersten Etappe verfliegt die Gänsehaut“, meint Eugen grinsend. „Bei YouTube hat man nicht gesehen, wie anstrengend das ist.“

Trotz der Quälerei hätten sie die vielseitige Natur Südafrikas genossen, sagt Eugen. Bergab führen die Trails durch riesige Apfelplantagen und Weinberge – soweit das Auge reicht. Die Äpfel hängen noch an den Bäumen. Wüstenähnliche Mondlandschaften wechseln sich mit satt grünen, malerischen Tälern ab. Die “so ein bisschen wie bei den Hobbits” aussehen.

„So viel wie möglich reinschaufeln“

In den kommenden acht Tagen denken Markus und Eugen nur von Etappe zu Etappe und innerhalb der Etappe von Verpflegungsstation zu Verpflegungsstation. Jeden Morgen stehen die beiden um sechs Uhr auf. Beim Frühstück gilt: „So viel wie möglich reinschaufeln, auch wenn du keinen Hunger hast.“ Anschließend geht es ab auf die Strecke.

Bei der kürzesten Etappe kommen Markus und Eugen nach fünfeinhalb Stunden an, bei der längsten nach neuneinhalb Stunden. „Im Ziel lächelt keiner mehr“, beschreibt Eugen die Strapazen. Angekommen heißt es: Essen, Ausruhen, Essen und um 19 Uhr ab ins Bett. Und natürlich „der Familie sagen, dass man noch lebt“, meint er grinsend.

„Es war brutal heiß“

Am zweiten Tag gilt es 500 Höhenmeter weniger als am Ersten zu überwinden, aber dafür 125 Kilometer. „Es war brutal heiß“, sagt Eugen. „Und entweder kein Wind oder du hast die ganze Zeit richtig schön Gegenwind.“

Bei Kilometer 80 wartet ein Berg, „der einfach nicht aufhörte“. Eineinhalb Stunden fahren Markus und Eugen auf roter, südafrikanischer Erde bergauf – über eine Kuppe nach der anderen. Schlimmer kanns nicht mehr werden – denken sie.

Mit Magenkrämpfen fahren

Anfangs campt neben ihnen ein Drill Sergeant aus den USA. Topfit. Mehrere 24-Stunden-Rennen hinter sich. Ein harter Hund. So beschreibt ihn Eugen. Nach vier Tagen muss er aufhören – Magen-Darm. In der Nacht zu Tag fünf schläft Markus schlecht und auch ihn erwischen die Magenkrämpfe. Die nächste Etappe ist zum Glück „nur“ 82 Kilometer lang und hat „wenig“ Höhenmeter: 1650.

Im Laufe des Tages muss Markus sich mehrmals hinlegen – der Magen rebelliert, keinerlei Energie kommt in seinen Muskeln an. Während einer Etappe dürfen Teammitglieder beim Cape Epic höchstens zwei Minuten auseinanderliegen. Aber: Eugen schiebt Markus trotzdem zu keiner Zeit den Berg hoch. Das haben sie vor dem Rennen so vereinbart.

Völlig erschöpft

Als es bei Markus besser wird, fangen die Magen-Darm-Probleme bei Eugen an. „Es fühlt sich an, als würde man durch Honig fahren“, beschreibt Eugen seinen Zustand der völligen Erschöpfung. Sie schrammen knapp an der Disqualifikation vorbei. Am sechsten Tag kommen sie 20 Minuten vor den Hyänen ins Ziel.

Die Hyänen sind zwei Biker, die die Maximalzeit vorgeben – wer hinter ihnen die Etappe beendet, ist ausgeschieden. „Ein Platten und es hätte nicht gereicht.“ Die Beiden sind frustriert.

Inmitten dieser Qual habe ihnen die Spendenkampagne und die damit eingegangene Verpflichtung geholfen durchzuhalten. „Spätestens ab Tag zwei war das unsere Stütze“, sagt Eugen. „Sonst hätten wir gesagt: Jetzt reichts. Jetzt setzen wir uns irgendwo hin, genießen das leckere Essen und trinken ein Weinchen. Das hätte definitiv mehr Spaß gemacht.“

Zu früh gefreut

Auf der letzten Etappe steht nur noch ein Berg zwischen Markus und Eugen und dem Ziel. Von den Magen-Darm-Problemen immer noch „sowas von am Arsch, das kann man sich nicht vorstellen“. Von oben sieht man in ein schönes Tal und ein Trail schlängelt sich den Berg hinunter. Die Freude darüber verschwindet schnell, als es nach 100 Metern wieder bergauf geht – dieses Mal aber wirklich der letzte Anstieg.

Nur 359 von 527 Teams stehen das achttägige Cape Epic bis zum Ende durch – ein Drittel der Fahrer beendet das Rennen frühzeitig. „Maximale Gleichgültigkeit. Keine Euphorie. Keine Gänsehaut. Absolut unromantisch. Ich wollte einfach nur noch irgendwo in Ruhe sterben“, beschreibt Eugen die Zieleinfahrt. Nie wieder, denkt er sich.

„Ein Freund von mir hätte mir sein Fahrrad ausgeliehen, nur damit dieses Etikett draufkommt“

Zwei Wochen später packt er sein Mountainbike aus. Darauf klebt seine Trophäe: ein Cape-Epic-Sticker mit Startnummer. „Ein Freund von mir hätte mir sein Fahrrad ausgeliehen, nur damit dieses Etikett draufkommt“, meint Eugen. Erst jetzt realisiert er, was sein Körper geleistet hat.

Inzwischen verspürt er die Lust, ein zweites Mal teilzunehmen. „Alle Teilnehmer haben gesagt, dass es das härteste Cape Epic aller Zeiten war. Dann muss es nächstes Mal ja leichter werden“, sagt Eugen lachend. Seine Familie hat es ihm aber in den nächsten zwei Jahren vorerst verboten.

64.000 Euro an Spenden gesammelt

Wurde das Spendenziel von 200.000 Euro erreicht? „Unser Glaube war stark genug, aber es hat nicht geklappt.“ 64.000 Euro an Spenden sind das Ergebnis, 30.000 Euro für POPUP und 20.000 für Village of Eden. Zusätzlich gingen 14.000 Euro an Spenden für die Projektkosten ein.

Die Mitarbeiter von POPUP hätten sich riesig über das Geld gefreut, aber noch glücklicher seien sie über die Aktion an sich gewesen, erzählt Eugen. Sie nutzen die Aktion nun in ihrem Trainingsprogramm. Damit machen sie den Jugendlichen Mut sich aus der Armut heraus zu kämpfen, auch wenn das mit Anstrengungen verbunden ist.

„Gutes tun und nicht müde werden“

Für die Jugendlichen sei es extrem ermutigend gewesen, dass sich jemand für sie quält und mit dieser Aktion auf sie aufmerksam machte. „Durch meinen Glauben an Gott ist bei mir die Erkenntnis gereift, dass ich ganz persönlich herausgefordert bin, die Welt zu einem besseren und gerechteren Ort zu machen“, meint Eugen.

Wie das geschehe, sei ganz individuell. Er sei überzeugt davon, dass jeder dafür seine Leidenschaften nutzen könne – in seinem Fall das Biken. Wenn er während des Rennens kurz vor dem Aufgeben war, habe er oft an einen Spruch seines verstorbenen Vaters denken müssen: „Gutes tun und nicht müde werden.“

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Den eigenen Iron Man entdecken: Durchhaltevermögen lässt sich trainieren

Wer im Job erfolgreich sein will, braucht Optimismus und Durchhaltevermögen, meint Coach Michael Stief. Zwei Übungen sollen ausreichen, um die eigenen Ziele zu erreichen.

Helden. Das Wort lässt an Gal Gadot denken, die als Wonder Woman mit der Macht der Liebe den Kriegsgott Ares in den Hades befördert. Oder an ihre Filmliebe Steve Trevor (gespielt von Chris Pine), der sich und eine tödliche Bomberladung in die Luft sprengt.

Doch sind Helden nur solche Halbgöttinnen und opferbereite Heroen? Oder steckt in jedem eine Portion Heldenqualitäten – die in den Krisen des Lebens und im Chaos des Alltags ans Licht kommt?

Was hilft bei Krisen?

Krisen erlebt jeder Mensch. Schon vergeigte Schulaufgaben, verlorene Spiele oder Liebeskummer können das Vorspiel zu größeren Lebenskrisen wie gescheiterten Projekten, Beziehungsdramen, Jobverlust oder Mid-Life-Crisis sein.

Was hilft in solchen Situationen? Nehmerqualitäten, Härte, Vitamin B, Geld? Ein japanisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: die Fähigkeit, nach sieben Rückschlägen achtmal aufzustehen.

„Psychologisches Kapital“ hilft

Doch woher die Kraft dazu nehmen? Dazu braucht es nach Ansicht des amerikanischen Psychologen Fred Luthans „Psychologisches Kapital“ oder kurz: PsyCap. Der sperrige Ausdruck erklärt sich analog zum Wirtschafts-Kapital. Den Gütern und Geldmitteln, die wir für unsere Ziele einsetzen können und die uns helfen, auch in Krisenzeiten durchzuhalten.

Das Psychologische Kapital besteht dementsprechend aus inneren Ressourcen – emotionalem und intellektuellem Vermögen und Reserven. Diese helfen, kraftvoll Projekte anzugehen, selbstsicher Aufgaben anzupacken, Rückschläge zu verkraften und an unsere Stärken zu glauben.

„Psychologisches Kapital“ lässt sich trainieren

Diese Qualitäten haben eben nicht nur Superhelden im Film. Luthans und seine Kollegen haben herausgefunden, dass niemand einfach mit diesem „Stoff, aus dem die Helden sind“ geboren wird. Nein, „Psychologisches Kapital“ lässt sich trainieren, so wie man durch beharrliche Geldanlage Kapital aufbauen kann.

Was ist das HERO-Modell?

Luthans & Co. haben diese Heldenqualitäten in einem Modell zusammengefasst und mit dem Akronym HERO, nach dem englischen Wort für Held, benannt:

Hoffnung beschreiben sie als einen Zustand, in dem sowohl ein lohnendes Ziel vor Augen ist als auch ein Plan, dieses – notfalls auf unterschiedlichen Wegen – zu erreichen. Daraus folgt die Willenskraft, dieses Ziel beharrlich zu verfolgen.

Erfolgserwartung oder technisch Selbstwirksamkeiterwartung beschreibt das Selbstvertrauen, dieses Ziel auch erreichen zu können, weil ähnliche Herausforderungen bereits erfolgreich bewältigt wurden.

Resilienz ist die Fähigkeit, Stress und Rückschläge zu bewältigen, abzuschütteln und mit voller Energie neu zu beginnen.

Optimismus beschreibt eine positiv-realistische Sicht, die Erfolge nicht dem Zufall zuschreibt, sondern den eigenen Fähigkeiten und dem persönlichen Einsatz. Auch beim Scheitern zweifelt ein Optimist nicht an seinen Fähigkeiten.

Zwei Übungen, um Heldenqualitäten zu trainieren

Wie aber trainiert man diese vier Heldenfähigkeiten konkret? Luthans und Kollegen schlagen dazu zwei Übungen vor. Sie konzentrieren sich aus wissenschaftlichen Gründen auf die Arbeitswelt. Gerade für Trainingsübungen ist diese günstiger, weil sie meist nicht so stark emotional belastend ist wie herausfordernde private Situationen.

1. Resilienz und Erfolgserwartung

  • Vergegenwärtigen Sie sich Situationen in Ihrem Berufsleben, in denen Sie bislang nicht weitergekommen sind, die also Ihre Resilienz herausfordern.
  • Notieren Sie, welche Aspekte dieser Situationen innerhalb Ihrer persönlichen Kontrolle und welche außerhalb liegen.
  • Überlegen Sie sich nun verschiedene Schritte, die Sie ergreifen könnten und die in Ihrer direkten Kontrolle liegen.
  • Erinnern Sie sich an ähnliche herausfordernde und geglückte Situationen aus Ihrer Vergangenheit.
  • Notieren Sie, welche Gedanken und Gefühle Sie hatten und welche Verhaltensweisen erfolgreich waren. Damit steigern Sie Ihre Erfolgserwartung.
  • Entscheiden Sie zuletzt, welche der gefundenen Schritte Sie in den aktuellen herausfordernden Situationen umsetzen wollen.

2. Hoffnung und Optimismus

  • Notieren Sie, wieder bezogen auf die Arbeit, mehrere Ziele, die realistisch herausfordernd und persönlich wertvoll
  • Realistisch herausfordernd ist ein Ziel, das von Ihnen Entschlossenheit, Planung und Einsatz erfordert. Für eine Aufgabe, die nur abzuarbeiten ist, braucht es keine Hoffnung.
  • Persönlich wertvoll ist ein Ziel, das Ihnen selbst wichtig ist und Ihren Werten entspricht. Also keine fremdbestimmte Zielvorgabe. Sie sollen sich damit identifizieren können, sonst ist es nicht Ihre Hoffnung.
  • Wählen Sie eines dieser Ziele aus.
  • Unterteilen Sie dieses Ziel in kleinere Etappenziele.
  • Überlegen Sie sich Aktionen, mit denen Sie die Etappenziele und das Gesamtziel erreichen können.
  • Überlegen Sie sich auch, welche Hindernisse auftauchen könnten und wie sie diese wiederum bewältigen könnten.
  • Malen Sie sich außerdem die positiven Ergebnisse der erreichten Ziele aus.

Warum funktionieren diese beiden Übungen?

Hoffnung, Erfolgserwartung, Resilienz und Optimismus sind alle vier mit Zielvorstellungen verbunden:

  • Wir hoffen, dass wir ein Ziel erreichen, weil es sich lohnt und erreichbar scheint.
  • Wir glauben an uns, weil wir die Erfahrung gemacht haben, vergleichbare oder ähnlich ambitionierte Ziele bereits erreicht zu haben.
  • Wir halten durch und stehen immer wieder auf, weil es sich lohnt, für dieses Ziel Anstrengungen und Belastungen in Kauf zu nehmen oder nach einem ersten Scheitern neu anzufangen.
  • Wir vertrauen optimistisch auf unsere Fähigkeiten, auch wenn die Umstände widrig sind oder wir einmal wegen zu wenig Einsatz gescheitert sind.
  • Die beiden Übungen helfen in den Problemen des Berufs, die eigenverantwortlich erreichbaren Ziele zu identifizieren. Mit ihnen gelingt es, Wege und Stationen dorthin zu finden und sich an vergangene, erreichte Ziele zu erinnern. Durch klarere Vorstellungen vom Lohn der Mühen fällt es leichter, sich zu motivieren.

Heldenfähigkeiten machen glücklicher

Dabei helfen diese Heldenfähigkeiten nicht nur einem selbst. Luthans und Kollegen haben nachgewiesen, dass sie das gesamte Team voranbringen. Obendrein zahlen die HERO-Qualitäten auch auf das Glücksempfinden und das subjektive Wohlbefinden ein.

Denn nach dem Psychologen Martin Seligman tragen Hoffnung und Optimismus zu mehr positive Emotionen bei. Durch Resilienz werden Menschen stärker und gehen voll in ihren Aufgaben auf. Persönlich wertvolle Ziele stärken das Sinnerleben. Wer beharrlich seine Ziele verfolgt, dem sind auch mehr Erfolgserlebnisse sicher.

Die Wonder Woman in sich stärken

Selbst Beziehungen entwickeln sich positiver mit Hoffnung und Resilienz. Das wusste bereits Paulus von Tarsus, der vor 2.000 Jahren von der Liebe schreibt: Sie „nimmt alles auf sich, sie verliert nie den Glauben oder die Hoffnung und hält durch bis zum Ende.“

Wer also diesen mentalen Workout immer wieder übt, der stärkt die Wonder Woman oder den Iron Man in sich Schritt für Schritt. Das hilft nicht nur, den Alltag besser zu bewältigen, Krisen zu überwinden, sondern am Ende sogar ein Stückchen glücklicher zu werden – in der Arbeit, im Privatleben und vielleicht sogar in der Liebe.

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

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Gefühle wahrnehmen: Wie eine Therapie Rolf hilft, nicht mehr auszurasten

Rolf schreit seine Kinder an und zockt abends lieber mit einem Bier am PC, statt sich mit seiner Frau zu unterhalten. Erst eine Therapie führt ihn zur Wurzel des Problems – tief vergraben in seiner Familiengeschichte.

Dass er seine Kinder anschreit, kam früher fast nie vor. Auch nicht, dass er bei der Arbeit montags schon das Wochenende herbeisehnt. Oder am Abend am liebsten mit einem Bier am PC zockt, statt mit Martina über den Tag zu reden.

Doch in Rolfs Leben hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert: das neue Haus, das die Bank zu 80 Prozent finanziert hat; seine Beförderung zum Teamleiter, der nun Verantwortung für zwölf Kollegen trägt und direkt an die Geschäftsführung berichtet; seine Eltern, die im Ruhestand zunehmend seine Hilfe brauchen; und seine Ehrenämter in der Kirchengemeinde und im Klimaschutz, die während der Pandemie deutlich aufwendiger wurden.

Widerwillig geht Rolf zur offenen Männergruppe

Wenn Martina, mit der Rolf seit 14 Jahren verheiratet ist und die Kinder Robin (11) und Clara (9) hat, ihn auf seine gereizte und abweisende Art anspricht, winkt der 42-Jährige nur ab. Es sei halt „aktuell alles ein bisschen viel“, aber nach dem Sommer werde es besser, wenn in der Firma die Umstrukturierung abgeschlossen sei und in der Klimaschutzinitiative andere Ehrenamtliche ihm Aufgaben abnähmen. Und überhaupt, was sie immer gleich habe.

Als nach dem Sommer nichts besser ist und Martina zunehmend bemerkt, dass Rolf nur noch unruhig schläft und vermehrt Alkohol trinkt, drängt die Erzieherin darauf, dass ihr Mann sich helfen lässt. Eher widerwillig besucht er meine offene Männergruppe, ist dann aber beeindruckt von der Offenheit, mit der sich Männer hier zeigen, den Themen der Männer, die ihn alle an ihn selbst erinnern, und der Klarheit, mit der ich die Gruppe führe.

Gespräche galten als „vertane Zeit“

Nach dem Abend spricht mich Rolf an und vereinbart einen Termin mit mir für ein Einzelgespräch. Auch hier kommt er sich zunächst wieder komisch vor, weil sich „hier ja alles um mich dreht“. Schnell wird klar, dass das dritte von vier Geschwistern mit Sätzen wie „Nimm dich nicht so wichtig!“ oder „Stell dich nicht so an!“ in einem kleinen Handwerksbetrieb aufgewachsen ist.

Zeit war immer knapp, die Kunden gingen vor und Gespräche galten als „vertane Zeit“. „Eigentlich habe ich immer nur funktioniert und geschaut, dass ich keinen Ärger mache und keinen Ärger kriege“, fasst Rolf diese Kindheit zusammen. Ich spiegele ihm, dass all diese Sätze aus dem Elternhaus Imperative waren, also Aufforderungen in Befehlsform. So habe er verinnerlicht, sich selbst herumzukommandieren.

Gefühle nicht wahrgenommen

Und ohne Gesprächskultur habe er auch nicht gelernt, zu reflektieren, in sich hineinzuhören und seine Befindlichkeiten und Gefühle wahrzunehmen und zu spüren. Denn unsere Gehirne sind sehr intelligent organisiert und lernen schnell: Wenn Gefühle dauerhaft ignoriert werden, meldet sie unser Gehirn nicht mehr unserem System, sondern schiebt sie in unser Unterbewusstsein, wo sie sich unserer Kontrolle entziehen.

Rolf bestätigt, dass er oft nichts fühlt und deshalb auch seine Befindlichkeiten nicht artikuliert. Ich widerspreche. Er fühle sehr wohl, nehme das aber nicht mehr wahr, weil er sich – bzw. sein Gehirn ihm – das abtrainiert habe.

„Deine Trauer und deine Tränen sind willkommen“

Nun schweigt der 42-Jährige lange, seine Haltung verändert sich und seine Mimik zeigt Trauer. Als ich das ausspreche, kommen Rolf die Tränen. Und sofort meldet sich auch seine Scham, indem er die Tränen wegwischt und versucht, einen Witz zu machen, mit dem er seine Situation ins Lächerliche ziehen will.

Ich halte dagegen: „Deine Trauer und deine Tränen sind willkommen, Rolf, du machst gute Arbeit.“ Und gemeinsam sitzen wir da, schweigen und jegliche Macher-Allüren fallen von dem Familienvater ab.

„Was treibt dich an, Rolf?“

Beim nächsten Termin wirkt Rolf schon gelöster. Er habe sich auf den Termin gar gefreut. Er sei gespannt, was er heute über sich erfahre, und macht auch gleich ein Angebot: In seinem christlich geprägten Elternhaus sei immer klar gewesen, dass man „nicht für sich selbst lebt, sondern für den Dienst am Nächsten“. Nun nehme er wahr, dass ihn dieser Anspruch überfordere, weil er gelegentlich einfach zu erschöpft sei, für das Gemeindefest Helfer zu gewinnen und einzuteilen oder in seiner Klimaschutzinitiative noch Unterlagen zu lesen, Protokolle zu schreiben und ein Pressegespräch vorzubereiten.

„Was treibt dich an, Rolf?“, frage ich den Ingenieur, und er scheint fast in seinem Korbsessel zu versinken, ehe zögerlich seine Antwort kommt: „Ich möchte halt niemanden vor den Kopf stoßen.“ Und als ich weiterfrage, kommen Variationen dieser Aussage. Schließlich biete ich ihm eine Antwort an: „Rolf, kann es sein, dass du geliebt werden möchtest?“ Und wieder verrät seine Mimik viel Trauer und wir schweigen gemeinsam.

Im Wettbewerb um die Gunst von Vater oder Mutter

Nun erzählt der Macher aus seiner Kindheit. Wie er um die Anerkennung der Eltern buhlen musste. Wie die Geschwister im Wettbewerb um die Gunst von Vater oder Mutter standen, denen nahezu nie ein Lob über die Lippen kam, nach dem alten schwäbischen Motto: „Nicht geschumpfen ist Lob genug.“

Rolf erinnert sich, dass im elterlichen Betrieb Geld offenbar immer wieder mal knapp war, weil Kunden insolvent gingen und Rechnungen nicht bezahlten oder der Vater zu viele Leistungen zu preisgünstig erbrachte. Rolf muss lachen, als ich ihm die Parallele aufzeige, dass offenbar auch sein Vater von jedermann geliebt werden wollte.

Immer besser kommt der Familienvater nun in seine Gefühle und kann sie benennen: Trauer, dass zu Hause so wenig Raum für Gespräche und Reflexion war. Wut, dass ihm niemand beigebracht hat, seine Bedürfnisse zu spüren und sie äußern zu dürfen. Aber auch Freude, dass er jetzt bei mir sitzt, das neue Verhalten trainiert und damit neue Erfahrungen sammelt bei der Arbeit, in der Familie und in seinen Ehrenämtern.

Rückfall löst Panik aus

Nun verlängert er die Abstände, in denen er in die Therapie kommt. Stößt ihm im Alltag etwas unangenehm auf, dann muss er nicht mehr sofort heftig reagieren, sondern begnügt sich mit dem Wahrnehmen, dass jetzt offenbar gerade wieder etwas schiefläuft. Dann nimmt Rolf bewusst Geschwindigkeit aus der Situation oder stoppt sogar ganz, um innezuhalten, wahrzunehmen und zu atmen. Gelegentlich muss er sogar innerlich lächeln, weil er sich dabei auf die Schliche kommt, in sein altes Muster zu rutschen.

Einmal geschieht dies tatsächlich in seiner Kirchengemeinde und er pampt Mitstreiter an, weil sie ein wichtiges Detail vergessen haben. In seiner Panik ruft er mich an und sitzt bereits am nächsten Tag bei mir. Ich lasse ihn erzählen, wie es zu der Situation kam, und schon in seiner Schilderung nimmt er wahr, wie er „gelbe Warnschilder“ ignoriert hat. „Du warst dir zu sicher, mit deiner Veränderung ‚durch‘ zu sein“, spiegele ich ihm und frage ihn, wann er mal „etwas Wichtiges vergessen“ hat. Sofort fallen ihm drei Beispiele aus jüngster Zeit ein. Beim nächsten Treffen in seiner Gemeinde will Rolf seinen Mitstreitern von seinen Versäumnissen berichten und um Verzeihung für seinen Ausraster bitten. Dieser dient ihm nun vor allem dafür, dauerhaft mit sich selbst achtsam zu sein.

Leonhard Fromm (58) ist Gestalttherapeut und Männer-Coach. Der zweifache Vater lebt in Schorndorf bei Stuttgart und macht (Gruppen-)Angebote in Präsenz und online. derlebensberater.net

Andrea Zogg (links) und Marco Schädler in Stefan Zweigs "Die Auferstehung des Georg Friedrich Händel". (Foto: profile productions)

„Was hab‘ ich Angst gehabt“: Plötzlich fürchtet Tatort-Kommissar Andrea Zogg um seine Karriere

Mit Anfang 50 kann Andrea Zogg immer schlechter Texte auswendig lernen. In seiner Verzweiflung hilft ihm der Komponist Georg Friedrich Händel.

Manchmal sind es bis zu 12 Millionen Leute, die sonntagabends „Tatort“ gucken. Spielte die Folge in Bern, war Andrea Zogg der Kommissar. Im „Tatort“ aus Zürich ist er mal der Bösewicht, mal der Retter. Die Staffeln der Serie „Zürich-Krimi“ heißen immer „Borchert und …“, Andrea Zogg hat darin mehr als zehnmal mitgespielt, 2011 war er für den Schweizer Filmpreis als „Bester Darsteller“ nominiert, 2020 als „Beste Nebenrolle“ im Film über den Schweizer Reformator Ulrich Zwingli und, ja, einmal gab’s sogar einen Oscar für den besten ausländischen Film. Im aktuellen Kino-Blockbuster „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ steht Andrea Zogg an der Hotelrezeption.

Auf der Bühne, am Konzertflügel, sitzt Georg Friedrich Händel (1685–1759) mit Perücke und Schnallenschuhen. Am Schreibtisch steht Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) und erzählt, wie Händel tödlich erkrankt zu Boden fällt – ein Schlaganfall? Ein Herzinfarkt? Und der Notarzt sagt: „Er wird nie mehr komponieren können.“

Tatort-Kommissar singt Kirchenlieder

Schauspieler Andrea Zogg weiß, wie man mit sonorer Sprechstimme und wenigen ausdrucksstarken Gesten das Publikum auf die vorderen Stuhlkanten lockt. 70 spannende Minuten lang rezitiert er auswendig, wie G.F. Händel aus Halle in Sachsen überraschend gesund wird, sich 1741 in seiner Londoner Wohnung einschließt und in nur 23 Tagen sein berühmtestes Werk schreibt: „Der Messias.“ Seit 250 Jahren wird es von vielen Chören und Orchestern der Welt aufgeführt, meist zu Ostern, und selbst religionsferne Tatort-Gucker würden etliche Melodien daraus wiedererkennen.

Den Zuschauern stockt der Atem: Andrea Zogg kann Teile aus Händels „Messias“ richtig gut singen! In einer Art szenischer Popversion, während Pianist Marco Schädler ein furioses Medley inklusive „Stairway to heaven“ oder „Crazy Diamond“ von Pink Floyd drunterlegt. Und dann setzt er noch einen drauf: Das „Große Halleluja“ singen die Zuschauer begeistert mit.

Ein Schauspieler, der Texte vergisst

„Das war meine Auferstehung“, erzählt Andrea ganz untheatralisch nach der Show, „ich war Anfang 50 und konnte immer schlechter Texte behalten. Katastrophal für einen Schauspieler: Du bist nicht gut im Auswendiglernen?! Was hab‘ ich Angst gehabt am Filmset, was hab‘ ich mich durchgemogelt! Kleine Zettel in die Möbel oder in die Kostüme gesteckt, genuschelt, geschummelt – und dann wurde ich auch noch krank. Irgendein Virus. Da las ich Stefan Zweigs ‚Die Auferstehung des Georg Friedrich Händel‘ und dachte: Das muss man mal aufführen! Meine Frau sagte: ‚Das schaffst du nicht mehr. Eine Stunde Text? Solo?'“

Andrea Zoggs Elternhaus in einem Graubündner Dorf war nominell evangelisch, aber nicht religiös. „Meine Oma gab mir eine Kinderbibel, da fand ich nur die Bilder mit Schlangen und wilden Tieren interessant. Dann flog ich von der Schule wegen schlechtem Betragen, kam auf ein Internat und ging in den Schulchor, Händels ‚Messias‘, ein Jahr lang geprobt. Wir waren so geflasht von der Wucht der Texte und der Musik, das haben wir noch nachts in der Kneipe gesungen.“

„Nach 16 Jahren mit einem behinderten Kind waren unsere Batterien einfach leer“

Er fällt an der Schauspielschule durch die Prüfung, studiert Geschichte und Germanistik auf Lehramt, seine Schwester wird Theatermalerin an der Landesbühne Hannover und der Berliner Schaubühne. Durch ihre Vermittlung wird er doch noch angestellt, macht Karriere am renommierten Frankfurter Theater am Turm, am Schauspielhaus Wien, am Theater St. Gallen, wird fürs Fernsehen und Kino entdeckt, heiratet, bekommt drei Söhne und – zieht mit seiner Familie in jenes Schweizer Bergdorf zurück, „wo die Betreuung unseres autistisch-epileptischen Jungen besser gewährleistet ist. Nach 16 Jahren mit einem behinderten Kind waren unsere Batterien einfach leer.“

Andrea Zogg macht eine Pause. Was er und seine Frau durchgestanden haben, ist vorstellbar. Harte Medikamente, heftige Nebenwirkungen, Unfälle im Haushalt, kaum gesundheitliche Fortschritte. „Unser mittlerer Sohn ist jetzt 33 und lebt im betreuten Wohnen auf einem Bauernhof, es geht ihm gut. Der ältere und der jüngste sind beruflich bei Filmproduktionsfirmen gelandet.“

Gedächtnisprobleme verschwinden

Jetzt grinst Andrea wieder: „Ich las von Georg Friedrich Händel am Tiefpunkt seines Lebens, wie er von der Auferstehung des Jesus Christus singt und musiziert. Und dabei seine eigene körperliche, mentale und künstlerische Auferstehung in nur drei Wochen erlebt. Ich lernte den Text von Stefan Zweig und – es ging plötzlich! Ich hab‘ seither keine Gedächtnisprobleme mehr beim Drehen. Als meine Mutter mit 95 Jahren starb, bot ich dem Pfarrer an, das Stück an ihrer Trauerfeier vorzutragen. Es war die erste Aufführung, die Marco Schädler und ich in einer Kirche machten. Meine Auferstehung, wenn du so willst.“

Andreas Malessa (66) wurde bekannt als Teil des Gesangsduos „Arno & Andreas“ und gab rund 1.400 Konzerte im In- und Ausland. Nach Abitur und Theologiestudium in Hamburg zog der „überzeugte Norddeutsche“ als Wahl-Schwabe in die Nähe von Stuttgart, ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert verheiratet, hat zwei fast erwachsene Töchter, liebt Fernreisen, gute Romane, Rotwein und kritisch mitdenkende Zuhörer.

Foto: Rüdiger Jope

Mehr als Obst und Gemüse: Auf Frühschicht im Lebensmittelgroßhandel

Stefan Lindner beliefert Schulen, Restaurants und Altenheime mit Lebensmitteln. Ob der Apfel aus Deutschland oder der aus Neuseeland eine bessere Umweltbilanz hat, ist dabei nur ein Problem unter vielen.

Es ist 5:08 Uhr. Ganz Deutschland schlummert dem Tag noch entgegen. Ganz Deutschland? Nein! Im modernsten Frischezentrum Deutschlands direkt an der A5 in Frankfurt am Main wird rund um die Uhr gearbeitet. LKWs stehen wie aufgefädelte Perlen an einer Rampe. Gabelstapler brummen. Rollwagen werden scheppernd in Laderäume bugsiert.

Besuch im Königreich der Vitamine

Kistenweise stapeln sich gemüsige und fruchtige Köstlichkeiten aus der ganzen Welt. Ihre Farbenpracht lässt mich die Dunkelheit vergessen. Ich erklimme eine Alutreppe. Lindnerfood. „Alles frisch.“ An der Tür begrüßt mich Lebensmittelgroßhändler Stefan Lindner (34). Er bittet mich in sein Königreich der Vitamine. Ich lerne an diesem Tag: Nachtschichten sind nicht nur furchtbar, sondern auch fruchtbar.

Eine heiße Kaffeetasse wärmt meine kalten Hände. „Wir machen mehr als Obst und Gemüse“, erklärt mir der jugendlich-drahtige Obstprofi, während er die fertigen Auslieferungszettel am PC kontrolliert. Ein Mitarbeiter ruft: Haben wir bei Tour eins an die zweieinhalb Kilogramm Kartoffelstifte für die Kita gedacht? Sind bei der Tour sieben für das Hotel die Kisten mit dem grünen Spargel dabei? Telefone klingeln. Mitarbeiter nehmen Bestellungen auf. Es ist hektisch. Doch Lindner agiert gelassen.

Vom Kartoffelschäler zum Großhändler

Großvater Lindner besaß eine kleine Landwirtschaft. Nach dem Krieg fing er an, Kartoffeln zu schälen. Doch wie liefert man die geschälten Rohlinge an die Amerikaner, in Krankenhäuser, ohne, dass die Stärke sie schwarz färbt? Bald darauf schwammen die Kartoffeln in Wasserbottichen zu den Kunden. Diese fragten nach: Könntest du uns nicht noch dieses oder jenes frisch mitliefern?

Irgendwann wurde der Kartoffelschälbetrieb eingestellt und ein Einzelhandelsgeschäft gegründet. Dabei waren auch ein paar Gastrokunden. Der Sohn stieg mit ein. Ihm fiel auf: Der Gastwirt muss nach oder vor der Kneipenöffnung auf den Großmarkt losziehen, um sich mit frischer Ware für die Küche einzudecken.

Ein Geschäftsmodell wird geboren: Sag mir, welche Produkte du brauchst, welchen Anspruch an Qualität du hast – und ich besorge sie dir. Ich arbeite für dich, während du schläfst. „Wir gehen mit den Augen unserer Kunden durch den Großmarkt“, erklärt mir Stefan, während er den Packen Kommissionsscheine in die Ablagen platziert. Mit einem LKW ging es los, inzwischen rollen täglich 15 vom Hof, über 115 Angestellte bestücken Altenheime, Großküchen, Restaurants, Schulen und Gastronomen mit nahrhaften Produkten.

110 Großhändler versorgen fünf Millionen Menschen

Wir streifen uns die Jacken über. Wenige Momente später stehen wir im Herzen des Frankfurter Frischezentrums. 110 Großhändler versorgen von hier aus täglich vier bis fünf Millionen Menschen mit frischem Obst und Gemüse. Auf 23.000 m2 wird mit allem gehandelt, was die Magenfrage sättigt. Am 800 m2 großen Stand von Lindner stehen Karotten in den Farben orange, orange-violett, gelb, weiß bereit. Mangos. Orangen. Weintrauben. Rosenkohl. Mangold. Litschis. Peperoni.

Lindnerfood kauft die Ware weltweit, aber vor allem regional ein. Ab Mitternacht startet der Direktverkauf. Bis in die frühen Morgenstunden holen Stammkunden hier frische Ware ab. Eine einsame Eidechse (Elektrokarre) hupt sich an uns vorbei. Es ist kurz nach sieben Uhr. „Das ist die Ruhe nach dem Sturm, jetzt wird aufgeräumt, die Flohmarkthändler sind auf Schnäppchenjagd“, so der Juniorchef.

„Was macht ihr mit der Ware, die ihr nicht verkauft?“

Stefan schaut über die Reste. Befühlt die Avocados, lässt mich ein Stück Ingwer probieren. Fruchtig-scharf. Er macht sich Notizen, bespricht sich mit einem Mitarbeiter. „Was macht ihr mit der Ware, die ihr nicht verkauft?“, frage ich. Lindner lächelt. „Das kommt zum Glück selten vor und wenn, dann spenden wir es der Arche oder der Frankfurter Tafel.“ Für den Einkauf und den Verkauf ist Fingerspitzengefühl nötig. Die Spekulationsfrist bei Obst und Gemüse ist kurz. Das Angebot und die Nachfrage regeln den Preis.

Lindner zeigt auf wenige Melonen. „Im Sommer ist das der Renner. Wir bestellen große Mengen. Plötzlich schlägt bei uns die Hitze in Regenwetter um. Wir bleiben auf dem Produkt sitzen, der Preis fällt. Umgekehrt: Es regnet in Spanien. Hier ist es heiß, Melonen werden uns zu hohen Preisen aus den Händen gerissen.“ Marktwirtschaft in Reinform.

Wir treten durch eine Art Plexiglastür. Vier Grad. Mich fröstelt. Im Salatkühlhaus lagern Lollo rosso, Lollo bionda, Eichblattsalat, Feldsalat, Pilze, Küchenkräuter wie Kerbel, Kresse, Petersilie, Sauerampfer, Schnittlauch. Stefan zieht einen Keimling raus, lässt ihn mich schmecken. „Nussig?“ Lachen. Das ist der Trend für Snacks auf dem kalten Buffet 2022.

Schon als Kind Bestellungen aufgenommen

Bei einem Frankfurter Würstchen und einem zweiten heißen Kaffee schütteln wir uns die Kälte an einem Imbissstand im Großmarkt aus den Gliedern. War seine Karriere vorgezeichnet? „Überhaupt nicht“, entfährt es Stefan. Er grinst.

Die telefonische Privatnummer der Familie war anfänglich auch die Geschäftsnummer. Stefan erinnert sich: Das Telefon klingelte. Er hob ab. Sein Gesprächspartner am anderen Ende sprudelte los: eine Kiste Tomaten, zwei Kisten Gurken! Er legte den Hörer auf und vertiefte sich wieder ins Spiel.

„Das hat Spaß gemacht!“

Die Mutter entdeckte den Zettel mit der Kinderschrift. Welcher Kunde war es? Für welchen Tag hat er bestellt? Keine Ahnung! Lachen. „Wir Kinder konnten noch nicht lesen, haben aber die Rechnungen der Lieferanten schon nach Logos sortiert“, so Lindner.

In den Ferien besserte er sein Taschengeld mit dem Kommissionieren der Ware und dem Fegen der Halle auf. „Das hat Spaß gemacht!“ Ich nehme es ihm ab. Nach dem Abitur studierte er BWL, stieg in eine Unternehmensberatung ein. Irgendwann fragte der Vater: Wie sieht es aus? Wir wollen planen. Mit dir oder ohne dich? Stefan sagt in aller Freiheit: Plant mit mir!

Was bedeutet Qualität?

Das Smartphone klingelt. Vier leitende Angestellte einer Warenhauskette lassen sich an diesem Morgen Betrieb und Produkte zeigen. Ich laufe mit und lerne viel über Anbau, Ernte, Handel: Die Ananas reift von unten nach oben. Sie ist keine nachreifende Frucht! Von der Pflanzung bis zur Ernte braucht sie anderthalb Jahre. Unten schmeckt besser als oben.

Mangos werden von Hand zu Hand gereicht. Lindner stellt die drei Kategorien vor: 1. Unreif geerntet – unreif im Verkauf. 2. Unreif geerntet – und nachgereift (wie Bananen). 3. Baumgereift. Umfragen sagen: Leute kaufen zu 100 Prozent nach Qualität ein. Doch was meint Qualität? Haltbarkeit? Geschmack?

Der Vitaminprofi doziert: Je niedriger der Zuckergehalt, umso haltbarer und unreifer ist das Obst und das Gemüse. Das birgt wenig Risiko für den Transport, die Lagerung. Ich verstehe. „Da kann ich einen guten Preis machen, weil ich wenig Verluste habe. Wenn ich jetzt aber auf Geschmack setze, dann ist die Haltbarkeit extrem beschränkt“, sagt’s und schneidet uns mit einem Taschenmesser eine rotgelbe Mango auf. Ein Feuerwerk der Geschmackssinne. Lecker. Süß. „Der Verbraucher muss sich daher die Frage stellen: Was ist eigentlich das Kriterium, nach dem ich einkaufe? Haltbarkeit, Geschmack, Regionalität?“, so der Juniorchef.

„Wir sind Problemlöser für den Kunden“

Wir laufen einmal quer über den Hof. Meine Frage, für was Lindnerfood steht, beantwortet sich hinter den großen Alutüren. „Alles frisch!“ In den gekühlten Hallen ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke zu. Aufgetürmte Eimer mit Kartoffelsalat, vorgekochte Eier, brühfertige Maultaschen, Paletten mit Joghurts warten auf Abholung.

Lindner erklärt: „Wir sind Vollsortimenter!“ Bei belegten Brötchen und einem dritten Kaffee wird er später fortsetzen: „Wir sind Problemlöser für den Kunden. Solange wir es besser machen, kauft er bei uns.“ Das überzeugt nicht nur mich, sondern auch die, die an diesem Tag bei Lindnerfood reinschnuppern.

Ein Mitarbeiter kommt auf Stefan zu. Eine Palette mit grünem Spargel ist übrig. Zu welchem Preis wird diese „verschleudert“, damit sie nicht verdirbt, aber eben doch noch was abwirft? Aufmerksam wendet sich Lindner der Frage zu, sortiert im nächsten Atemzug einen angefaulten Apfel aus.

„Ehrlich zu sein, zahlt sich langfristig aus“

Vor den Bananenkisten kommen wir zum Stehen. „Nicht die Firma zahlt das Gehalt, sondern der Kunde! Damit man einen Verdienst hat, muss man erst mal dienen!“ Dass dies keine leeren Worte sind, erlebe ich in dieser Frühschicht hautnah.

Wir reden über Werte. Bei Lindnerfood läuft nichts an der Steuer vorbei. „Ehrlich zu sein, zahlt sich langfristig aus.“ Die losgeschickte Ware in Spanien war top – die Ware kommt hier an, sieht schlecht aus: „Jetzt kann ich reklamieren. Doch stimmt das? Wenn ich heute Fotos von der Ware mache, kann ich ja auch Fotos von der Ware von letzter Woche schicken. Aber eigentlich habe ich mich verkalkuliert. Ein Mitarbeiter war in der Versuchung. Nein, wir stehen zu unseren Fehlern. Wir sind ehrlich.“

Kein Gegensatz zwischen Leben und Arbeiten

Seit zwei Jahren ist Stefan einer der drei Teilhaber. Jetzt muss er nicht mehr um ein Uhr nachts ran, sondern gehört mit sieben Uhr zu den Spätaufstehern der Firma. Was ihn glücklich macht? „Wenn ich positives Feedback von Lieferanten und Kunden bekomme, die Umsätze und Deckungsbeiträge stimmen, ich merke, dass es vorwärts geht.“ Den Ansatz von Work-Life-Balance hält er für verfehlt. Er impliziere: Es gibt einen Gegensatz zwischen Leben und Arbeiten.

Für Stefan ist die Arbeit integraler Bestandteil des Lebens. „Ich muss die Entscheidung treffen: Welchen Platz will ich der Arbeit in meinem Leben geben? Ich entscheide mich für die Priorität. Das verändert sich doch im Laufe des Lebens, den unterschiedlichen Lebensphasen.“ Arbeit ist für ihn nicht Übel, sondern Erfüllung.

„Flug, in Zeiten von Nachhaltigkeit?“

Wir stehen vor den Beeren. Trendobst 2022. Heidelbeeren, Brombeeren, Himbeeren, Erdbeeren. Was sollte der MOVO-Leser einmal probieren? „Stinkfrucht!“ „In echt?“ „Nein“, lacht Stefan. „Eine reife Flugmango.“ „Flug, in Zeiten von Nachhaltigkeit?“ Stefan erteilt mir Nachhilfe. „Früchte aus Südamerika? Ist das nicht sündig?“ Ich lerne: Die Ware wird in der Regel im Frachtraum eines Passagierflugzeugs mitgeliefert.

Die Mango landet hier, weil es einen internationalen Touristik- und Geschäftsbetrieb gibt, der macht das eigentlich erst möglich. „Ist das jetzt schlecht, dabei Ware mitzunehmen?“ Stefan greift nach einem Apfel. Boskoop. Wann wird dieser geerntet? Im Herbst. Was passiert mit den Äpfeln vom Herbst bis zum Frühjahr? In gekühlten Hallen wird ihnen der Sauerstoff entzogen und Stickstoff hinzugegeben.

Dadurch wird der Reifungsprozess gestoppt. „Doch was bedeutet dies für die CO2-Bilanz für so einen regionalen Apfel? Die ist, je nach Zeitpunkt, möglicherweise schlechter als die des Apfels, der aus Neuseeland importiert wird!“, so der Betriebswirt. Ich ahne: Die Frage nach Gut und Böse im Lebensmittelbereich, nach fairer Bezahlung, nach Qualität ist vielschichtiger, komplizierter, nicht auf den sprichwörtlichen Bierdeckel zu packen. Alles hängt mit allem zusammen. Es ist komplex.

„Christsein ist nicht geschäftsschädigend“

Stefan ist Christ. Evangelisch. Prädikant. Welche Rolle spielt der Glaube im Kühlhaus, am Verkaufsstand? „Das Gebot der Nächstenliebe spornt mich an, das Beste für den Kunden zu wollen.“ Lachend fügt er an: „Christsein ist nicht geschäftsschädigend.“

Ich hake nach: Redet dir Jesus in die Firma rein? „Im Optimalfall ja! Jesus war ein Mensch der klaren Worte. Aber eben auch jemand, der unglaublich viel Wertschätzung rübergebracht hat. Beides brauchen wir im Betrieb.“ Deswegen setzt man bei Lindnerfood auch auf Fehlerkultur. Hier wird niemandem der Kopf abgerissen, jeder bekommt bei Einsichtigkeit eine zweite Chance.

Der Wind spielt mit einer leeren Papiertüte an der verlassenen Rampe. Ich will ins Auto, Stefan wird nachher mit dem Rennrad eine Runde durch den Taunus drehen und nachmittags in der Fernsehsendung „Hallo Hessen“ den Obst- und Gemüseerklärer geben. Wie bestellt bricht die Sonne durch den Himmel, bescheint die Früchte in meiner Tüte, Slogan: Here comes the sun.

Rüdiger Jope liebt Bananen, kann aber auch Zucchini, Mangold und Pommes Frites etwas abgewinnen.