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Foto: Rüdiger Jope

Mehr als Obst und Gemüse: Auf Frühschicht im Lebensmittelgroßhandel

Stefan Lindner beliefert Schulen, Restaurants und Altenheime mit Lebensmitteln. Ob der Apfel aus Deutschland oder der aus Neuseeland eine bessere Umweltbilanz hat, ist dabei nur ein Problem unter vielen.

Es ist 5:08 Uhr. Ganz Deutschland schlummert dem Tag noch entgegen. Ganz Deutschland? Nein! Im modernsten Frischezentrum Deutschlands direkt an der A5 in Frankfurt am Main wird rund um die Uhr gearbeitet. LKWs stehen wie aufgefädelte Perlen an einer Rampe. Gabelstapler brummen. Rollwagen werden scheppernd in Laderäume bugsiert.

Besuch im Königreich der Vitamine

Kistenweise stapeln sich gemüsige und fruchtige Köstlichkeiten aus der ganzen Welt. Ihre Farbenpracht lässt mich die Dunkelheit vergessen. Ich erklimme eine Alutreppe. Lindnerfood. „Alles frisch.“ An der Tür begrüßt mich Lebensmittelgroßhändler Stefan Lindner (34). Er bittet mich in sein Königreich der Vitamine. Ich lerne an diesem Tag: Nachtschichten sind nicht nur furchtbar, sondern auch fruchtbar.

Eine heiße Kaffeetasse wärmt meine kalten Hände. „Wir machen mehr als Obst und Gemüse“, erklärt mir der jugendlich-drahtige Obstprofi, während er die fertigen Auslieferungszettel am PC kontrolliert. Ein Mitarbeiter ruft: Haben wir bei Tour eins an die zweieinhalb Kilogramm Kartoffelstifte für die Kita gedacht? Sind bei der Tour sieben für das Hotel die Kisten mit dem grünen Spargel dabei? Telefone klingeln. Mitarbeiter nehmen Bestellungen auf. Es ist hektisch. Doch Lindner agiert gelassen.

Vom Kartoffelschäler zum Großhändler

Großvater Lindner besaß eine kleine Landwirtschaft. Nach dem Krieg fing er an, Kartoffeln zu schälen. Doch wie liefert man die geschälten Rohlinge an die Amerikaner, in Krankenhäuser, ohne, dass die Stärke sie schwarz färbt? Bald darauf schwammen die Kartoffeln in Wasserbottichen zu den Kunden. Diese fragten nach: Könntest du uns nicht noch dieses oder jenes frisch mitliefern?

Irgendwann wurde der Kartoffelschälbetrieb eingestellt und ein Einzelhandelsgeschäft gegründet. Dabei waren auch ein paar Gastrokunden. Der Sohn stieg mit ein. Ihm fiel auf: Der Gastwirt muss nach oder vor der Kneipenöffnung auf den Großmarkt losziehen, um sich mit frischer Ware für die Küche einzudecken.

Ein Geschäftsmodell wird geboren: Sag mir, welche Produkte du brauchst, welchen Anspruch an Qualität du hast – und ich besorge sie dir. Ich arbeite für dich, während du schläfst. „Wir gehen mit den Augen unserer Kunden durch den Großmarkt“, erklärt mir Stefan, während er den Packen Kommissionsscheine in die Ablagen platziert. Mit einem LKW ging es los, inzwischen rollen täglich 15 vom Hof, über 115 Angestellte bestücken Altenheime, Großküchen, Restaurants, Schulen und Gastronomen mit nahrhaften Produkten.

110 Großhändler versorgen fünf Millionen Menschen

Wir streifen uns die Jacken über. Wenige Momente später stehen wir im Herzen des Frankfurter Frischezentrums. 110 Großhändler versorgen von hier aus täglich vier bis fünf Millionen Menschen mit frischem Obst und Gemüse. Auf 23.000 m2 wird mit allem gehandelt, was die Magenfrage sättigt. Am 800 m2 großen Stand von Lindner stehen Karotten in den Farben orange, orange-violett, gelb, weiß bereit. Mangos. Orangen. Weintrauben. Rosenkohl. Mangold. Litschis. Peperoni.

Lindnerfood kauft die Ware weltweit, aber vor allem regional ein. Ab Mitternacht startet der Direktverkauf. Bis in die frühen Morgenstunden holen Stammkunden hier frische Ware ab. Eine einsame Eidechse (Elektrokarre) hupt sich an uns vorbei. Es ist kurz nach sieben Uhr. „Das ist die Ruhe nach dem Sturm, jetzt wird aufgeräumt, die Flohmarkthändler sind auf Schnäppchenjagd“, so der Juniorchef.

„Was macht ihr mit der Ware, die ihr nicht verkauft?“

Stefan schaut über die Reste. Befühlt die Avocados, lässt mich ein Stück Ingwer probieren. Fruchtig-scharf. Er macht sich Notizen, bespricht sich mit einem Mitarbeiter. „Was macht ihr mit der Ware, die ihr nicht verkauft?“, frage ich. Lindner lächelt. „Das kommt zum Glück selten vor und wenn, dann spenden wir es der Arche oder der Frankfurter Tafel.“ Für den Einkauf und den Verkauf ist Fingerspitzengefühl nötig. Die Spekulationsfrist bei Obst und Gemüse ist kurz. Das Angebot und die Nachfrage regeln den Preis.

Lindner zeigt auf wenige Melonen. „Im Sommer ist das der Renner. Wir bestellen große Mengen. Plötzlich schlägt bei uns die Hitze in Regenwetter um. Wir bleiben auf dem Produkt sitzen, der Preis fällt. Umgekehrt: Es regnet in Spanien. Hier ist es heiß, Melonen werden uns zu hohen Preisen aus den Händen gerissen.“ Marktwirtschaft in Reinform.

Wir treten durch eine Art Plexiglastür. Vier Grad. Mich fröstelt. Im Salatkühlhaus lagern Lollo rosso, Lollo bionda, Eichblattsalat, Feldsalat, Pilze, Küchenkräuter wie Kerbel, Kresse, Petersilie, Sauerampfer, Schnittlauch. Stefan zieht einen Keimling raus, lässt ihn mich schmecken. „Nussig?“ Lachen. Das ist der Trend für Snacks auf dem kalten Buffet 2022.

Schon als Kind Bestellungen aufgenommen

Bei einem Frankfurter Würstchen und einem zweiten heißen Kaffee schütteln wir uns die Kälte an einem Imbissstand im Großmarkt aus den Gliedern. War seine Karriere vorgezeichnet? „Überhaupt nicht“, entfährt es Stefan. Er grinst.

Die telefonische Privatnummer der Familie war anfänglich auch die Geschäftsnummer. Stefan erinnert sich: Das Telefon klingelte. Er hob ab. Sein Gesprächspartner am anderen Ende sprudelte los: eine Kiste Tomaten, zwei Kisten Gurken! Er legte den Hörer auf und vertiefte sich wieder ins Spiel.

„Das hat Spaß gemacht!“

Die Mutter entdeckte den Zettel mit der Kinderschrift. Welcher Kunde war es? Für welchen Tag hat er bestellt? Keine Ahnung! Lachen. „Wir Kinder konnten noch nicht lesen, haben aber die Rechnungen der Lieferanten schon nach Logos sortiert“, so Lindner.

In den Ferien besserte er sein Taschengeld mit dem Kommissionieren der Ware und dem Fegen der Halle auf. „Das hat Spaß gemacht!“ Ich nehme es ihm ab. Nach dem Abitur studierte er BWL, stieg in eine Unternehmensberatung ein. Irgendwann fragte der Vater: Wie sieht es aus? Wir wollen planen. Mit dir oder ohne dich? Stefan sagt in aller Freiheit: Plant mit mir!

Was bedeutet Qualität?

Das Smartphone klingelt. Vier leitende Angestellte einer Warenhauskette lassen sich an diesem Morgen Betrieb und Produkte zeigen. Ich laufe mit und lerne viel über Anbau, Ernte, Handel: Die Ananas reift von unten nach oben. Sie ist keine nachreifende Frucht! Von der Pflanzung bis zur Ernte braucht sie anderthalb Jahre. Unten schmeckt besser als oben.

Mangos werden von Hand zu Hand gereicht. Lindner stellt die drei Kategorien vor: 1. Unreif geerntet – unreif im Verkauf. 2. Unreif geerntet – und nachgereift (wie Bananen). 3. Baumgereift. Umfragen sagen: Leute kaufen zu 100 Prozent nach Qualität ein. Doch was meint Qualität? Haltbarkeit? Geschmack?

Der Vitaminprofi doziert: Je niedriger der Zuckergehalt, umso haltbarer und unreifer ist das Obst und das Gemüse. Das birgt wenig Risiko für den Transport, die Lagerung. Ich verstehe. „Da kann ich einen guten Preis machen, weil ich wenig Verluste habe. Wenn ich jetzt aber auf Geschmack setze, dann ist die Haltbarkeit extrem beschränkt“, sagt’s und schneidet uns mit einem Taschenmesser eine rotgelbe Mango auf. Ein Feuerwerk der Geschmackssinne. Lecker. Süß. „Der Verbraucher muss sich daher die Frage stellen: Was ist eigentlich das Kriterium, nach dem ich einkaufe? Haltbarkeit, Geschmack, Regionalität?“, so der Juniorchef.

„Wir sind Problemlöser für den Kunden“

Wir laufen einmal quer über den Hof. Meine Frage, für was Lindnerfood steht, beantwortet sich hinter den großen Alutüren. „Alles frisch!“ In den gekühlten Hallen ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke zu. Aufgetürmte Eimer mit Kartoffelsalat, vorgekochte Eier, brühfertige Maultaschen, Paletten mit Joghurts warten auf Abholung.

Lindner erklärt: „Wir sind Vollsortimenter!“ Bei belegten Brötchen und einem dritten Kaffee wird er später fortsetzen: „Wir sind Problemlöser für den Kunden. Solange wir es besser machen, kauft er bei uns.“ Das überzeugt nicht nur mich, sondern auch die, die an diesem Tag bei Lindnerfood reinschnuppern.

Ein Mitarbeiter kommt auf Stefan zu. Eine Palette mit grünem Spargel ist übrig. Zu welchem Preis wird diese „verschleudert“, damit sie nicht verdirbt, aber eben doch noch was abwirft? Aufmerksam wendet sich Lindner der Frage zu, sortiert im nächsten Atemzug einen angefaulten Apfel aus.

„Ehrlich zu sein, zahlt sich langfristig aus“

Vor den Bananenkisten kommen wir zum Stehen. „Nicht die Firma zahlt das Gehalt, sondern der Kunde! Damit man einen Verdienst hat, muss man erst mal dienen!“ Dass dies keine leeren Worte sind, erlebe ich in dieser Frühschicht hautnah.

Wir reden über Werte. Bei Lindnerfood läuft nichts an der Steuer vorbei. „Ehrlich zu sein, zahlt sich langfristig aus.“ Die losgeschickte Ware in Spanien war top – die Ware kommt hier an, sieht schlecht aus: „Jetzt kann ich reklamieren. Doch stimmt das? Wenn ich heute Fotos von der Ware mache, kann ich ja auch Fotos von der Ware von letzter Woche schicken. Aber eigentlich habe ich mich verkalkuliert. Ein Mitarbeiter war in der Versuchung. Nein, wir stehen zu unseren Fehlern. Wir sind ehrlich.“

Kein Gegensatz zwischen Leben und Arbeiten

Seit zwei Jahren ist Stefan einer der drei Teilhaber. Jetzt muss er nicht mehr um ein Uhr nachts ran, sondern gehört mit sieben Uhr zu den Spätaufstehern der Firma. Was ihn glücklich macht? „Wenn ich positives Feedback von Lieferanten und Kunden bekomme, die Umsätze und Deckungsbeiträge stimmen, ich merke, dass es vorwärts geht.“ Den Ansatz von Work-Life-Balance hält er für verfehlt. Er impliziere: Es gibt einen Gegensatz zwischen Leben und Arbeiten.

Für Stefan ist die Arbeit integraler Bestandteil des Lebens. „Ich muss die Entscheidung treffen: Welchen Platz will ich der Arbeit in meinem Leben geben? Ich entscheide mich für die Priorität. Das verändert sich doch im Laufe des Lebens, den unterschiedlichen Lebensphasen.“ Arbeit ist für ihn nicht Übel, sondern Erfüllung.

„Flug, in Zeiten von Nachhaltigkeit?“

Wir stehen vor den Beeren. Trendobst 2022. Heidelbeeren, Brombeeren, Himbeeren, Erdbeeren. Was sollte der MOVO-Leser einmal probieren? „Stinkfrucht!“ „In echt?“ „Nein“, lacht Stefan. „Eine reife Flugmango.“ „Flug, in Zeiten von Nachhaltigkeit?“ Stefan erteilt mir Nachhilfe. „Früchte aus Südamerika? Ist das nicht sündig?“ Ich lerne: Die Ware wird in der Regel im Frachtraum eines Passagierflugzeugs mitgeliefert.

Die Mango landet hier, weil es einen internationalen Touristik- und Geschäftsbetrieb gibt, der macht das eigentlich erst möglich. „Ist das jetzt schlecht, dabei Ware mitzunehmen?“ Stefan greift nach einem Apfel. Boskoop. Wann wird dieser geerntet? Im Herbst. Was passiert mit den Äpfeln vom Herbst bis zum Frühjahr? In gekühlten Hallen wird ihnen der Sauerstoff entzogen und Stickstoff hinzugegeben.

Dadurch wird der Reifungsprozess gestoppt. „Doch was bedeutet dies für die CO2-Bilanz für so einen regionalen Apfel? Die ist, je nach Zeitpunkt, möglicherweise schlechter als die des Apfels, der aus Neuseeland importiert wird!“, so der Betriebswirt. Ich ahne: Die Frage nach Gut und Böse im Lebensmittelbereich, nach fairer Bezahlung, nach Qualität ist vielschichtiger, komplizierter, nicht auf den sprichwörtlichen Bierdeckel zu packen. Alles hängt mit allem zusammen. Es ist komplex.

„Christsein ist nicht geschäftsschädigend“

Stefan ist Christ. Evangelisch. Prädikant. Welche Rolle spielt der Glaube im Kühlhaus, am Verkaufsstand? „Das Gebot der Nächstenliebe spornt mich an, das Beste für den Kunden zu wollen.“ Lachend fügt er an: „Christsein ist nicht geschäftsschädigend.“

Ich hake nach: Redet dir Jesus in die Firma rein? „Im Optimalfall ja! Jesus war ein Mensch der klaren Worte. Aber eben auch jemand, der unglaublich viel Wertschätzung rübergebracht hat. Beides brauchen wir im Betrieb.“ Deswegen setzt man bei Lindnerfood auch auf Fehlerkultur. Hier wird niemandem der Kopf abgerissen, jeder bekommt bei Einsichtigkeit eine zweite Chance.

Der Wind spielt mit einer leeren Papiertüte an der verlassenen Rampe. Ich will ins Auto, Stefan wird nachher mit dem Rennrad eine Runde durch den Taunus drehen und nachmittags in der Fernsehsendung „Hallo Hessen“ den Obst- und Gemüseerklärer geben. Wie bestellt bricht die Sonne durch den Himmel, bescheint die Früchte in meiner Tüte, Slogan: Here comes the sun.

Rüdiger Jope liebt Bananen, kann aber auch Zucchini, Mangold und Pommes Frites etwas abgewinnen.

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„PERMA-Modell“: Diese fünf Wege führen zu dauerhaftem Glück

Positive Gefühle, Flow-Erleben, gute Beziehungen, Sinn und Erfolgserlebnisse: Coach Michael Stief hat für jeden Weg einen Tipp parat.

Gibt es permanentes Glück oder ist das Science-Fiction? Ist Glücksstreben nicht Zynismus angesichts einer Welt in der Krise? Keineswegs! Gerade in Krisenzeiten gilt es, das Positive im Blick zu behalten, um mental fit und dadurch handlungsfähig zu bleiben. Wie aber finden Sie dauerhaftes Glück?

Fünf Wege zum Glück

Beim permanenten Glück geht es um das Glück des Augenblicks. Das beschreibt Glücksmomente, Gipfelerfahrungen oder in der Rückschau die Erkenntnis: „Ich bin glücklich.“ Intuitiv scheinen alle zu wissen: Glück ist etwas ganz Individuelles. Wirklich ganz individuell? Die Vielfalt menschlicher Genüsse, Dutzende von Eissorten, Pizzavariationen und Parfummarken legen die Vermutung nahe.

Im Gegensatz dazu hat der Psychologe Martin Seligman fünf universelle Wege identifiziert, wie Glück zu finden ist, nämlich durch positive Gefühle, Flow-Erleben, gute Beziehungen, Sinn und Erfolgserlebnisse. Zusammengenommen sind diese Wege die größtmögliche Annäherung an permanentes Glück. Dementsprechend nennt Seligman seine Glückformel das PERMA-Modell; nach den Anfangsbuchstaben der fünf englischen Entsprechungen Positive Emotions, Engagement, Relationships, Meaning und Accomplishment.

Eigenes Glück testen

Die fünf Wege zum Glück klingen nur vordergründig trivial. Sie sind wissenschaftlich gesichert und messbar. Die Psychologinnen Julie Butler und Margaret Kern haben dafür einen Test entwickelt (ippm.at/perma-profiler). Mit 23 Fragen gibt er Auskunft, welche dieser fünf Wege schon gut beschritten werden und wo noch Steigerung möglich ist.

Ähnlich wie ein Check-up beim Arzt gibt der Test Orientierung und hilft das Verhalten bewusster zu steuern. Dabei gibt es Raum für persönliche Vorlieben: So finden manche durch positive Gefühle und Erfolgserlebnisse zum Glück und die anderen im Flow sinnvollen Tuns.

Was macht wirklich glücklich?

Doch eines ist immer gleich: Das nachhaltige Glück fällt nicht in den Schoß wie ein Lottogewinn und selbst der macht nicht nachhaltig glücklich. Nach wenigen Monaten sind auch Lottogewinner nicht glücklicher als zuvor.

Wirklich glücklich macht nur eine große Zahl glücklicher Momente. Deswegen sollten Sie wie bei einem Sparbuch konsequent auf die fünf „Konten“ des permanenten Glücks „einzahlen“, um das Kapital an Glücksmomenten zu mehren.

Fünf Übungen für dauerhaftes Glück

Wie funktioniert das konkret? Wahrscheinlich hat jeder eine Liste von Dingen, die ihn im Alltag glücklich machen: die gute Tasse Kaffee am Morgen, der gemeinsame Spaziergang bei Sonnenuntergang oder eine „Bucket List“, was er noch erleben möchte. Letzteres ist hilfreich, wenn es ohne Zwang geschieht.

Darüber hinaus haben die Positiven Psychologen viele Übungen gefunden, die das Glücksempfinden steigern. Folgende fünf Übungen unterstützen jeweils einen Faktor des permanenten Glücks.

1. Positives sammeln

Manche werden aus der Zeit vor iPhone & Co. Fotoalben kennen. Darin konnte man auch an trüben Tagen in sommerlichen Erinnerungen schwelgen. Ähnlich funktioniert das Positive Portfolio. Dazu sammeln Sie Sprüche, Fotos, Musiktitel oder Filmsequenzen, die gezielt Freude oder Heiterkeit auslösen. Diese Sammlung ist dann parat, wenn Ihre Stimmung einen positiven Push braucht.

2. Stärken stärken

Flow-Erlebnisse entstehen, wenn Sie etwas tun, was Sie sehr gut können und was Sie gleichzeitig voll fordert. Dann brauchen Sie Ihren ganzen Fokus für diese eine Sache und gehen in dieser Tätigkeit auf. Die Voraussetzung ist, dass Sie Ihre Stärken kennen und sich gezielt Herausforderungen suchen. Neben praktischen Stärken verfügt jeder über Charakterstärken wie Fairness, Disziplin, Lernfähigkeit, Mut oder Menschlichkeit. Wenn Sie sich neue Gelegenheiten suchen, um Ihre Talente und Charakterstärken auszuleben, steigern Sie Ihr Glücksempfinden.

3. Gutes tun

Glücklich ist, wer Gutes tut. Überlegen Sie sich gezielt fünf positive Gesten für eine bestimmte Person. Es spielt keine Rolle, ob diese Gesten klein oder groß sind. Wichtig ist nur, dass diese frei und kreativ sind und nicht die Erwiderung eines Gefallens oder die Erfüllung einer längst geäußerten Bitte.

4. Sinn erleben

„Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“ war das Lebensmotto des Psychiaters und Holocaust-Überlebenden Viktor Frankl. Er machte den Sinn zur Grundlage seiner Logotherapie. Dementsprechend können Sie mit der großen Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest starten oder ganz einfach für andere da sein. Denn verschiedene Studien zeigen: Schon die Sorge für eine Zimmerpflanze genügt, das Glücksempfinden (und die subjektive Gesundheit) zu steigern.

Eigene Antworten finden

Sie können Sinn erleben durch Engagement für die großen Menschheitsziele, durch den Trost der Philosophie oder die Hingabe an einen persönlichen Glauben. Oder Sie finden eigene Antworten auf die Frage nach dem Sinn:

  • Machen Sie sich klar, was für Sie persönlich wertvoll und wichtig ist.
  • Überlegen Sie, was Sie selbst dafür im Kleinen wie im Großen tun können.
  • Setzen Sie sich dementsprechend konkrete Ziele.

5. Erfolgserlebnisse ernten

Manchmal landen Sie einen Glückstreffer, doch sonst braucht es Ziele, wenn Sie Erfolge erleben wollen. Für manche hat der Begriff „Ziel“ einen unangenehmen Beigeschmack, denn im Berufsleben sind sie oft mit Zielvorgaben konfrontiert. Selbstgesetzte Ziele aber motivieren und machen persönliche Entwicklung und Erfolge sichtbar. Und je konkreter sie sind, desto wirkungsvoller sind sie auch:

  • Täglich 10.000 Schritte gehen.
  • Bis Jahresende eine neue Fähigkeit erlernen.
  • Regelmäßig Zeit für die besten Freunde nehmen.

Tag für Tag glücklicher werden

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und nicht zuletzt können Sie auch die fünf Wege zum Glück selbst als Grundlage für Ihre Ziele verwenden:

  • Täglich etwas unternehmen, das Ihre Laune hebt.
  • Regelmäßig etwas tun, was Sie in den Flow bringt.
  • Zeit in Beziehungen investieren.
  • Energie in sinnvolle Projekte stecken.
  • Neue, lohnenswerte und wertvolle Ziele verfolgen.

Auf diese Weise werden Sie vielleicht nicht sofort und endgültig glücklich, aber Tag für Tag ein bisschen glücklicher und das in jeder Beziehung.

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork & Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de)

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Wie Paare Gleichberechtigung leben: „Meine Frau verdient das Geld, ich trage es wieder fort“

Oliver ist Hausmann, während Heiko nicht an die Waschmaschine darf. Wir haben vier Paare gefragt, wie sie ihre Beziehung leben.

Was bedeutet für euch Gleichberechtigung?

Stefan: Nach dem Tod meiner ersten Frau sagten viele: Du brauchst jetzt aber dringend wieder eine Frau für deine vier Kinder. Ich habe über diesen Satz viel nachgedacht.

In der Generation meiner Eltern war es gar nicht denkbar, als Vater für vier kleine Kinder zuständig zu sein, den Haushalt zu managen. Meine erste Liebeserklärung an meine jetzige Frau Brigitte war: Ich brauch dich nicht, aber ich will dich! (allgemeine Heiterkeit)

Oliver: Ich lebe gerade den absoluten Rollentausch. Seit letztem Jahr verdient meine Frau als Sonderpädagogin das Geld und ich kümmere mich um Haushalt, Kinder und Küche.

Kathrin: Oliver war vorher täglich bis zu 14 Stunden als ITler außer Haus. Unsere Rollenteilung lebten wir zwölf Jahre klassisch. Nach vielen, vielen Gesprächen haben wir den Tausch gewagt.

Stefan: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Punkt.

Axel: Richtig! Der Respekt gegenüber meiner Frau macht sich nicht im Sternchen fest, sondern im Handeln.

„Wir werden im Leben niemals fair und gleich behandelt“

Oliver: Das ist doch die Chance und Schwierigkeit unserer Zeit: Beide können arbeiten gehen, beide in Teilzeit arbeiten, der Mann kann zu Hause sein, die Frau darf arbeiten gehen. Dafür ist aber auch alles irgendwie im Fluss, muss ausdiskutiert, abgesprochen und organisiert werden.

Heiko: Ja, wir sind gleichberechtigt. Das Thema ist durch. Doch wir werden im Leben niemals fair und gleich behandelt. Wenn ich mich auf eine Stelle bewerbe, werde ich definitiv besser bezahlt.

Wenn sich eine Frau mit Kindern auf eine Stelle bewirbt, wird sie trotz Sternchen anders behandelt als ein Mann. Umgekehrt: Wenn du als Mann in der Wirtschaft für die Kinder kürzertrittst, kommst du hinterher auch nicht mehr in eine höhere Position.

Maja: Vielleicht müssten wir hier das Wort „gleichgerecht“ gebrauchen? Dann bekommt das Thema eine andere Würze.

„Warum ist das, was jemand zu Hause leistet, weniger wert?“

Wird die Arbeit zu Hause für die Kinder gleich wertgeschätzt wie die außer Haus?

Axel: Nein. Da passiert für mich von staatlicher Seite noch viel zu wenig. (alle nicken) Der, der zu Hause bleibt, hat hinterher die schmalere Rente. Frauen werden schlechter bezahlt und dann im klassischen Rollenmodell auch noch bestraft fürs Kümmern um die Kinder. Hier schlägt’s meinem Gerechtigkeitssinn das Zäpfle hoch!

Oliver: (leidenschaftlich) Genau daran muss sich aber etwas ändern. Warum ist das, was jemand zu Hause leistet, weniger wert, als wenn er den ganzen Tag im Büro rumsitzt?

Stefan: Da bin ich ganz bei dir. Es liegt auch an mir, wie ich diese Rolle ausfülle, präge, lebe. Die Diskussion, ob mit oder ohne Sternchen, geht an mir total vorbei. Ich sage meinen Kindern: Ihr merkt hoffentlich an meinem Verhalten, dass ich mit ganz großem Respekt mit allen Menschen umgehe. Es liegt doch an uns: Wie prägen wir die nächste Generation?

„Manchmal ist es für uns Männer daher einfacher, auf die Arbeit zu gehen, weil du Not und Elend zu Hause nicht siehst“

Ein „Glaubensbekenntnis“ unserer Tage ist: Kinder, Karriere und Beziehung sind miteinander scheinbar problemlos vereinbar. Stimmt das? Muss man Abstriche machen?

Maja: Diese drei Themen sind wie ein Dreieck. Jedes Thema bringt Emotionen und Herausforderungen mit. Es ist ein großes Spannungsfeld. Ja, es funktioniert, aber auf welche Kosten? Wo mache ich Abstriche? Was bleibt auf der Strecke?

Stefan: Als ich alleinerziehend war, stand für mich die Frage im Raum: Woher bekomme ich meinen Wert? Eine Frau aus meinem Umfeld fragte mich: Stefan, woraus beziehst du jetzt deine Anerkennung?

Wenn du für den Haushalt und die Kinder zuständig bist, kommst du maximal auf null, aber nie ins Plus. Das Geschirr, die Wäsche, die Wohnung werden wieder dreckig. Manchmal ist es für uns Männer daher einfacher, auf die Arbeit zu gehen, weil du Not und Elend zu Hause nicht siehst. (allgemeine Heiterkeit)

Axel: Hoffentlich liest das Jugendamt Reutlingen nicht diesen Artikel. (allgemeine Heiterkeit)

„Die wenigsten putzen mit Leidenschaft, sondern sehen darin wie ich das notwendige Übel“

Stefan: Kinder großzuziehen ist nicht jeden Tag die Quelle großer Freude. Und die wenigsten putzen mit Leidenschaft, sondern sehen darin wie ich das notwendige Übel. Wenn du für Geld arbeiten gehst, bekommst du Anerkennung aufs Konto. Die größte Herausforderung ist die: Wo bekommen wir unsere Anerkennung her?

Axel: Widerspruch: Unterschätze mal nicht den Jubelschrei einer 16-Jährigen, die den Schrank aufmacht und ihre Lieblingshose liegt frisch gewaschen darin.

Stefan: Sind das die 95 Prozent des Teenagerlebens in eurer Familie? (alle lachen) Das verstehe ich nicht. (lacht)

Nicole: Ich bin ja bereits acht Wochen nach der Geburt unserer Tochter wieder arbeiten gegangen, da Axel noch mit 50 Prozent studierte. Das kostete mich echt Überwindung, war schwer. Heute bin ich dankbar, dass wir uns diese Herausforderung geteilt haben, diese Vielfalt heute so möglich ist. Ich wäre mit der klassischen Rolle als „nur“ Hausfrau und Mutter nicht glücklich geworden.

„Wir dürfen nicht erst an uns denken, wenn alle To-dos erledigt sind“

Wo habt ihr Dinge miteinander erkämpfen müssen? Was waren Stolperfallen?

Heiko: Familien schultern ein echtes Pensum. Als Eltern sind wir gerade in den Belastungen herausgefordert: Wo bleibt die Liebesbeziehung? Wir können uns als Team super die Bälle zuspielen, doch wo bleibt die Zeit für ein Rendezvous? Wann hatten wir als Paar unser letztes Date?

Paare kneifen den Arsch zusammen, damit alles funktioniert, doch dabei bleibt das Schöne, das Romantische, das, was einem Kraft gibt, ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, auf der Strecke. Wir dürfen nicht erst an uns denken, wenn alle To-dos erledigt sind. Dies passiert nämlich nie.

Wie bekommt ihr beide eine gesunde Balance hin?

Maja: Wir haben uns beide mit Mitte 30 und drei Kindern nochmal für ein Studium entschieden. Das war wirklich ein Rechen-Exempel. Der Mix aus Arbeiten, Studieren, Kinder und Haushalt funktionierte nur mit ganz, ganz viel Absprache. Wir haben finanziell alles zurückgeschraubt, um unseren Traum leben zu können, und wir haben einen Deal: Die Abende gehören in der Regel uns.

Heiko: Wir achten inzwischen sehr darauf, dass wir die privaten Termine, die uns guttun, nicht mehr hinten anstellen. Wir planen im Outlook-Kalender auch private Dinge. Wir müssen darauf achten, dass die Säulen unserer Beziehung stabil sind.

Brigitte: Als Team Balance zu halten, ist eine echte Herkulesaufgabe.

Nicole: Oder ein echter Drahtseilakt.

Kathrin: Die Zeit für uns als Paar kommt auch immer zu kurz. Doch wir schöpfen auch unglaubliche Kraft aus dem Zusammensein mit den Kindern. Da passiert so viel Wesentliches.

„Ohne Humor hätten wir einander erschossen“

Axel: Vor ein paar Monaten hatten wir den Eindruck: Wir sollten ein paar Kilo verlieren. Doch wie passt dies in den vollen Alltag? Wir haben uns für einen Lauf über neuen Kilometer angemeldet. Damit hatten wir ein Ziel, mussten trainieren. Das hat dann dazu geführt, dass wir zweimal die Woche auch mal nach 21 Uhr die Tür hinter uns zumachten und gemeinsam stramm spazieren gingen.

Wir sind miteinander gegangen bei Wind und Wetter. Wir hatten plötzlich 90 Minuten, in denen uns keiner reinquatschte. Mir ging es dann schon so: Hey, ich würde gerne mit dir mal was besprechen, wann gehen wir laufen? Jetzt ist leider der Lauf vorbei …

Stefan: (lacht) Ich empfehle euch als Paar einen Schrittzähler. Wir finden es auch sehr hilfreich, miteinander Erwartungen zu klären. Uns ist zum Beispiel das Thema Geld nicht so wichtig. Geld ist schön zu haben, aber hat nicht die Priorität in unserer Beziehung. Wir brauchen nicht den Urlaub auf den Malediven, sondern genießen den abendlichen Spaziergang, eine gemeinsame Tasse Kaffee.

Brigitte: Und wir teilen einen großen Humor.

Stefan: Sehr richtig! Ohne diesen hätten wir einander schon erschossen. (alle prusten vor Lachen los)

„Ich habe von meiner Frau ein Waschverbot bekommen“

Ihr habt euch scheinbar aus den Stereotypen rausgewagt. Welchen Wandel findet ihr gut? Wo denkt ihr, war es früher vielleicht angenehmer?

Brigitte: Ich finde es toll, dass Stefan einkauft. Er liebt es.

Stefan: Meine Frau verdient das Geld, ich trage es wieder fort. Das ist doch ein guter Wandel. Vor allem kommen jetzt vernünftige Sachen ins Haus. (allgemeine Heiterkeit)

Heiko: Ich habe von meiner Frau ein Waschverbot bekommen. (alle lachen) Ich glaube immer noch, dass ich sehr gut waschen kann (vehement), aber um des lieben Friedens willen bin ich hier einen Schritt zurückgetreten.

Maja: Wir streiten wirklich wenig, doch beim Thema Waschen hat es schon zweimal heftig geknallt: Wie erkläre ich meinem Mann zum wiederholten Male, dass man dunkle und helle Wäsche trennt oder dies oder jenes Kleidungsstück nicht in den Trockner stecken sollte?

Ich habe es ihm erklärt, ein Bild hingehängt … Und er macht es trotzdem. Das Thema Waschen ist eines der wenigen Reizthemen bei uns.

„In puncto Stereotypen haben wir beide eine 180-Grad-Wendung hingelegt“

Heiko: Ich gehe wie Stefan einkaufen. Ein hilfreiches Tool für uns als Paar ist Outsourcing. Allerdings hat meine Frau gesagt: Heiko, du kannst alles outsourcen, das Putzen, das Hemdenbügeln, nur nicht unsere Beziehung.

Oliver: Als ich die Aufwärmfragen „Wer macht was?“ fürs Interview las – einkaufen, waschen, kochen, Kinder für die Schule fertig machen, die defekte LED-Leuchte auswechseln… –, dachte ich mir: Was macht Kathrin eigentlich noch? (alle lachen) Steuererklärung macht Kathrin immer noch nicht.

Das Auto entkrümeln steht auch auf meiner To-do-Liste. Lohnt sich aber nicht, da es nach einer halben Stunde Autofahrt wieder aussieht wie vorher. (zustimmendes Nicken der Männer) Bügeln mache ich nicht, finde ich totale Zeitverschwendung. (Stefan klatscht Beifall)

In puncto Stereotypen haben wir beide eine 180-Grad-Wendung hingelegt. Dieser Wandel funktioniert aber nur in einer tragfähigen Beziehung, indem man Dinge gemeinsam priorisiert und die Bereitschaft mitbringt, sich anzupassen, zurückzunehmen, Solidarität zu leben.

Nach zwölf Jahren voll im Job war es für mich dran: Wenn nicht jetzt, wann dann? Der Wechsel hat für uns als Paar und die Kinder die Chance eröffnet, die Rollen von Mann und Frau nochmal ganz anders und neu wahrzunehmen.

„Wer ist der fremde Mann im Wohnzimmer?“

Jetzt musst du aber ohne die Anerkennung der Kollegen und Kolleginnen auskommen …

Oliver: Mein Höhepunkt der letzten Woche war ein Besuch mit allen vier Kindern beim Ohrenarzt. Als die Ärztin mich sah und sagte: „Respekt, ich habe zwei Kinder, sie kümmern sich um vier!“ – Das hat mir dann doch etwas gegeben!

Stefan: Ich koche immer bei der Aussage: Mein Mann ist IT-ler, ich bin nur Hausfrau. Ich habe das nie gesagt. Ich habe mich immer so vorgestellt: Ich leite ein mittelständisches Familienunternehmen.

Die Frage, die wir uns als Paar, als Gesellschaft stellen müssen, ist doch die: Welchen Wert messen wir den Kindern, den Aufgaben zu Hause bei? Zudem müssen wir uns fragen: Bin ich glücklich? Habe ich eine erfüllende Beziehung? Kennen meine Kinder mich noch aus dem Alltag oder fragen sie: Wer ist der fremde Mann im Wohnzimmer?

„Männer und Frauen, die sich selbst um die Kinder kümmern, werden stigmatisiert“

Heiko: Und wir brauchen als Gesellschaft ein neues Modell. Wie wäre es, wenn die Person, die zu Hause bleibt, auch ein adäquates Gehalt bezieht für die Leistung, die sie für die Gesellschaft erbringt? (Applaus aus vier Städten) Hier läuft meiner Überzeugung nach manches falsch. Da liegt der Hase doch im Pfeffer.

Männer und Frauen, die sich selbst um die Kinder kümmern, werden stigmatisiert nach dem Motto: Die arbeiten nicht bzw. wir müssen als Wirtschaft und Politik dafür sorgen, dass endlich beide Elternteile in Arbeit kommen.

Brigitte: Gerade Männern, die sich noch stark über Arbeit definieren, signalisiert man damit: Haushalt und Kinder sind keine Arbeit.

Stefan: Bin ich nicht! (allgemeine Heiterkeit) Ganz im Ernst. Ich führe Trauergespräche vor Beerdigungen. Da ziehen Leute Bilanz. Wenn mir eine Frau über ihren verstorbenen Mann sagt, er aß gerne Süßigkeiten, dann ist das doch eine dürftige Bilanz eines Männerlebens. Als Männer und Frauen sollten wir uns fragen: Was ist wertvoll? Und dann von dieser Maxime aus unser Leben gestalten.

„In einem Arbeitszeugnis würde man schreiben: Hat sich stets bemüht!“

Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm provozierte kürzlich im SPIEGEL mit dieser Aussage: Etwa jede dritte Mutter wehrt sich gegen zu viel männliches Engagement. Sie nörgelt, wie er sich mit dem Kind beschäftigt, oder gibt ihm vor, was er im Haushalt wie zu erledigen hat. Steckt in dieser Aussage ein Körnchen Wahrheit?

Heiko: Ich habe damit kein Problem, nur meine Frau. (alle lachen)

Nicole: Wenn ich von der Schicht komme, hilft es mir, erst mal tief durchzuatmen. (Axel schlägt die Hände vors Gesicht – allgemeine Heiterkeit)

Axel: In einem Arbeitszeugnis würde man schreiben: Hat sich stets bemüht! (alle lachen)

Kathrin: Bevor ich aus der Familienarbeit „ausgestiegen“ bin, habe ich mir dazu erstaunlich viele Gedanken gemacht. Doch dann konnte ich sehr schnell loslassen. Oliver macht das auch gut!

„Verantwortung abzugeben, ist abgegebene Verantwortung“

Oliver: Nur beim Thema Schule mischt sie sich als Lehrerin doch immer wieder ein. (allgemeine Heiterkeit) Jeder hat seine Art, die Dinge zu tun. Wir müssen uns davon lösen, den anderen zu erziehen, wie wir ihn gerne hätten. Es geht in die Hose, wenn ich dem anderen meinen Stil überstülpe. Verantwortung abzugeben, ist abgegebene Verantwortung.

Stefan: Brigitte legt Wert auf Ordnung in der Küche. Das ist mir schon auch wichtig. (alle lachen) (gespielt energisch:) Ja, vielleicht nicht ganz so ausgeprägt. Ein paar Mal hat sie dann schon zum Lappen gegriffen, bevor sie ihre Jacke überhaupt aus hatte. Ich hatte einen dicken Hals. Ich habe dann meine Verletzung zur Sprache gebracht, dass wenigstens meine Bemühungen gesehen werden. (Kathrin lacht)

„Kommunikation ist der Schlüssel“

Euer Kompromiss sieht jetzt wie folgt aus?

Stefan: Sie nimmt nicht den Lappen, wenn sie zur Tür reinkommt, sondern wischt, wenn überhaupt nötig, nach, wenn ich draußen bin. (alle lachen) Zudem schreibt sie mir jetzt, wann sie da ist. Dann ist der Espresso fertig und die Küche tipptopp.

Maja: Ich würde das gerne unterstreichen. Kommunikation ist der Schlüssel, um die Andersartigkeit des anderen lieben zu lernen. Eine nörgelnde Frau, ein nörgelnder Mann bringt keine Veränderung hervor.

„Ohne meine Frau wäre unsere Ehe unerträglich“

Was beglückt euch im Miteinander?

Heiko: Unsere Liebessprache ist es, Zeit miteinander zu haben, zusammen zu lachen, eine gute Flasche Wein, Zeit im Schlafzimmer.

Stefan: Meine Lieblingspostkarte trägt die Aufschrift: „Ohne meine Frau wäre unsere Ehe unerträglich.“ (allgemeine Heiterkeit) Humor gehört unbedingt dazu!

Nicole: Kleine glückliche Momente im Alltag und dass wir die Chance haben, aus der Vergebung heraus immer wieder neu miteinander anfangen zu dürfen.

Kathrin: Gespräch, Gespräch und nochmals Gespräch, und dass wir uns zu 100 Prozent aufeinander verlassen können.

Herzlichen Dank für eure Offenheit und die humorvollen 1 ½ Stunden!

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO.

Lokführer Martin Mallek sitzt im Cockpit seines ICE. (Foto: Rüdiger Jope)

Alltag eines Lokführers: „Man kann sich nicht erlauben, mal wegzuträumen“

Martin Mallek wollte schon als kleines Kind Lokführer werden. So geht er damit um, für einen ICE mit tausend Menschen verantwortlich zu sein.

Wenn wir als Kinder draußen spielten und das rhythmische Stampfen der Lokomotive vom nahen Bahnhof an unsere Ohren drang, gab es nur einen Weg: raus durch das kleine, rostbraune Gartentor und rauf auf die Brücke. Wenn dann die Dampflok rauchend und zischend um die Ecke schnaufte, der Lokführer unser Winken mit einem Signaltongruß erwiderte, verschwanden wir Momente später jauchzend und hüpfend in einer gigantischen Rauchwolke.

Hbf Dortmund, 9:08 Uhr. 45 Jahre später stehe ich einem meiner Kindheitsidole gegenüber: Martin Mallek (61). Lokführer. Er strahlt mich an. Soeben ist der Intercity-Express „Passau“ in den Dortmunder Hauptbahnhof aus Aachen eingefahren. Pünktlich.

Zahlreiche Lampen blinken

Mit der Corona-Faust verabschiedet der Eisenbahner seinen Kollegen. Mit einem Schlüssel öffnet er eine Glastür. Dann stehen wir in Martin Malleks Reich. Ein Cockpit zieht sich über die ganze Breite des Fensters. Das Hauptsignal steht bereits auf Grün. Während ich auf einem Klappsitz Platz nehme, über die verwirrend vielen Lämpchen, Hebel und Schalter staune, setzen sich die 900 Tonnen mit 9.000 PS um 9:09 Uhr Richtung Berlin in Bewegung.

„Nur keine Scheu.“ Martin Mallek winkt mich neben sich. Engagiert erklärt er mir seine Werkbank. Die kennt er im Schlaf. Über das Display erhält er wichtige technische Informationen zum gesamten Zug und kann verschiedene Schaltungen vornehmen. Der Bildschirm zeigt ihm seinen Fahrplan oder auch technische Vorgänge im Zug an. Zahlreiche Lampen blinken.

Doppelte Geschwindigkeit bedeutet vierfacher Bremsweg

Er erklärt: Durch das unterschiedliche Aufleuchten der Leuchtmelder erhält er Informationen über die Zugbeeinflussungssysteme an der Strecke. Er sieht die Fragezeichen auf meinem Gesicht. Schmunzelnd erklärt er mir: Bei Verdopplung der Geschwindigkeit vervierfacht sich der Bremsweg. Mit den normalen Signalabständen würde das rechtzeitige Bremsen nicht funktionieren, daher braucht es ein System, was die Fahrt beeinflusst.

Das ist „die Linienzugbeeinflussung (LZB)“, so Mallek. Der Sender im Gleis und unter der Lok zeigt ihm, wie die Strecke auf den nächsten Kilometern aussieht. Die Sender kommunizieren mit dem Stellwerk, den Computern auf der Strecke, dem Lokführer. Martin Mallek verweist auf einen roten Leuchtmelder. Blinkt dieser, ist die Geschwindigkeit zu hoch.

Führerloser Zug im Vollsprint ist ein Hirngespinst

Der Bahner redet sich in einen Fluss. Dabei fressen wir bei 160 km/h förmlich die Schienen. Freie Fahrt. Neben uns stehen die Autos auf der A1 Stoßstange an Stoßstange. Der Lokführer betätigt in regelmäßigen Abständen das Fußpedal unter dem Führertisch. Vergäße er dies, würde der ICE eine Zwangsbremsung einleiten. Durch das Pedal wird sichergestellt, dass der Lokführer arbeitsfähig und wachsam ist. Wie beruhigend. Ein führerloser Zug im Vollsprint ist nur ein Hirngespinst von Hollywood & Co.

Noch 15 Minuten bis Hamm. Alles begann mit einem Kindheitstraum. Martin stand auf der Brücke, wollte unbedingt in den Rauch der Lokomotive … Nach der Schule erlernte er einen normalen Beruf, damals noch eine Voraussetzung, um überhaupt Lokführer werden zu können. Doch 1980 herrscht Lokführermangel wie 2021. Ein Mitbewohner aus dem Haus sahnt eine Vermittlungsprämie von 50 D-Mark ab, vermittelt den frischgebackenen Kfz-Mechaniker an die Bahn.

Kindliche Begeisterung nicht verloren

Er schraubt ein halbes Jahr im Lokschuppen, fuchst sich in die Lokomotiven der Baureihe 110, 111, 141, die Güterzugloks der Serie 150, 151 und die Dampfloks ein. „Diese Berufsentscheidung habe ich bis heute nicht bereut.“ Diese Überzeugung spüre ich ihm an diesem Morgen ab. Hier hat einer seine kindliche Begeisterung nicht verloren.

Während er sich an seinem Tablet zu schaffen macht, hake ich nach. „Was macht für dich die ‚Faszination Lokführer‘ aus?“ Ohne zu zögern schießt es mir entgegen: „Die Freiheit. Ich bin allein. Ich mach meine Tür zu und habe Ruhe. Wenn es läuft, wird man den ganzen Tag nicht gestört.“ Zwischen Dortmund und Berlin läuft es aber derzeit nicht ganz planmäßig. Denn eine Baustelle folgt auf die nächste. Gleise werden neu verlegt, Weichen ausgetauscht, Brücken erneuert. Nach Jahren, in denen mehr in die Straße investiert wurde als in die umweltfreundliche Bahn.

„Da sag mal einer, dass Männer nicht multitaskingfähig sind“

Mallek verweist mich auf sein Tablet. Dort werden ihm die tagesaktuellen, die Wochen-, Monats- und Jahresbaustellen, die Abweichungen zu seinem Bildschirm auf dem Cockpit angezeigt. Mir entfährt: „Da sag mal einer, dass Männer nicht multitaskingfähig sind.“ „Richtig!“, lacht Martin. „Neben der Schiene muss ich auch noch das Handy im Blick haben. Damit kommuniziere ich mit dem Zugführer.“ Ich ahne: Lokführer müssen ein hohes Maß an Konzentration mitbringen: Cockpit, Tablet, Handy, Schiene, Bahnhöfe…

Hbf Hamm, 9:32 Uhr. Pünktlich. Martin Mallek schaut aus dem Fenster. Menschen steigen ein und aus. Der Bildschirm im Cockpit zeigt ihm nur noch eine offene Tür, „die des Zugführers“. Im selben Moment piept sein Handy. Der Chef des Zuges, der Zugführer, gibt ihm grünes Licht. Martin Mallek bestätigt. Das Signal steht auf Grün. Er schiebt den Geschwindigkeitsregler nach vorne …

„Die Idylle muss man sich selbst basteln.“

Ich bohre weiter. „Wie viel Idylle von Lukas, dem Lokomotivführer, steckt noch im Job?“ Martin lacht auf. „Die Idylle muss man sich selbst basteln.“ Er braucht gefühlt keinen Fahrplan mehr, die Zeiten, Strecken und Bahnhöfe sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn er am Rhein entlangfährt, kann er die Schönheiten zwischen Mainz und Bonn, die „Freiheit der Fahrt auch genießen“. Verschmitzt schiebt er hinterher: „Neulinge in der Lok sind verspannter. Für mich gilt inzwischen: möglichst wenig arbeiten, trotzdem effektiv und sicher fahren!“

Herausfordernd bleiben die ständig wechselnden Dienstzeiten, Wochenenddienste, der Stand-by-Modus und die Verdichtung der Arbeit. Gab es früher noch die Möglichkeit zur Übernachtung und Stadtbesichtigung, heißt es heute an einem normalen Arbeitstag: Dienstauftrag aufs Tablet. 8:51 Uhr Dienstbeginn. 15:45 Uhr Berlin Hbf. Pause. Mit der S-Bahn rüber zum Ostbahnhof. Und dann den ICE nach Düsseldorf. Feierabend in Dortmund.

Keine Zeit für Ablenkung

Noch zwölf Minuten bis Gütersloh. Mallek erklärt mir die Bedeutung von Vor- und Hauptsignalen. „Man kann sich nicht erlauben, mal wegzuträumen.“ Trotzdem frage ich nach: Was macht man noch so nebenbei im Cockpit? Vehement entgegnet er mir: „Nichts! Da bleibt keine Zeit für anderes. Es gilt die Strecke zu beobachten.“ Dies tut er. Mit einem Grinsen. Stille.

„Doch was ist, wenn den Lokführer ein großes menschliches Problem befällt?“ Martin lacht. „Dann gilt es, mit Schweißperlen auf der Stirn in den nächsten Bahnhof zu kommen und dem Zugführer zu signalisieren: Du musst mir mal fünf Minuten Zeit geben.“ Zwei Anzeiger im Display liegen gleichauf: Wir liegen im Zeitplan. Martin lehnt sich entspannt zurück.

„Wie viel Spielraum hast du, um Verspätungen aufzuholen?“

„Ärgerst du dich über Verspätung?“ Das „Immer!“ folgt prompt. Mich interessiert, wodurch diese zustande kommen. „Durch Baustellen und die zu hohe Streckenauslastung. Immer mehr Züge auf immer den gleichen Gleisen. Wenn dann ein Zug langsamer ist, gar liegen bleibt, baut sich eine Störung auf.“

Ich hake nach: „Wie viel Spielraum hast du, um Verspätungen aufzuholen?“ Der Bahner erklärt: „Das kommt auf die Streckenverhältnisse, den Zug an. Bei Regenwetter kann ich die Kraft des Zuges nicht so auf die Schiene bringen. Mit meiner Erfahrung hole ich, wenn sie mich lassen und die langsameren Nahverkehrszüge aufs Überholgleis schicken, auch mal zehn Minuten raus.“ Sagt’s und rauscht an einer wartenden Regionalbahn vorbei.

Bahnhof ausgelassen

Noch fünf Minuten bis Gütersloh. „Hast du schon mal vergessen, an einem Bahnhof anzuhalten?“ „Ja, aber nicht in Wolfsburg!“ Lachen. „Sondern?“ „Es gibt öfters Abweichungen von den geplanten Zügen.“ Auf der Fahrt nach Magdeburg sollte er außerplanmäßig in Helmstedt halten. Er fuhr automatisch durch, weil es nicht im normalen Fahrplan stand. Lachend berichtete er: „Der Zugführer rief mich an und sagte mir: ‚Hey Martin, du hast einen Halt ausgelassen‘ …“

Hbf Gütersloh, 9:53 Uhr. Wir lassen heute Gütersloh nicht aus. Pünktlich. Ich verhalte mich still auf meinem Notsitz. Martin Malleks Finger betätigen scheinbar spielend, aber fokussiert Knöpfe und Hebel. Wieder schließen sich alle Türen, sein Handy piept. Er schiebt den Hebel nach vorne … Der ICE nimmt Fahrt auf. Keine 5 km später bremst uns ein gelbes Signal aus. Langsamfahrstelle. Brückenbauarbeiten.

„Sei freundlich zu den Kunden, sie bezahlen dein Gehalt!“

Wir reden über Verantwortung. Ein doppelter ICE transportiert locker mal tausend Menschen. „Das ist Verantwortung, da ist der Zug voll bis unter die Mütze und ich sage mir, heute musst du doppelt aufpassen.“ Martin Mallek erklärt mir seine Grundmotivation: Die Menschen sind das Wichtigste. Kunden gehen vor! Sein Vorgesetzter wird mir dies auf der Rückfahrt bestätigen: Mallek geht es immer um das Wohl der Menschen, oder wie er selbst sagte: Sei freundlich zu den Kunden, sie bezahlen dein Gehalt!

Seinen christlichen Glauben verschweigt der Eisenbahner nicht. „Ich bete vor jeder Zugfahrt, trotzdem kann mir alles passieren.“ Wenn Unregelmäßigkeiten auftreten, auf der Strecke, am Fahrzeug, muss Martin in Sekundenschnelle die richtige Entscheidung treffen. Ich ahne: An dem Job hängt viel dran.

Personen in den Gleisen

Noch 5 Minuten bis Bielefeld. Martin Mallek übernimmt den Gesprächsfaden. „Willst du nicht auch noch die Frage nach Personenschäden stellen?“ Ich zögere. „Personen in den Gleisen gehören dazu. Man darf nicht den Fehler machen, sich schuldig zu fühlen. Man ist unfreiwilliger Zuschauer“, erklärt der Bahner versöhnt, aufgeräumt, ja fast seelsorgerlich. Ich spüre: Hier ist einer im Reinen mit sich, seinem Beruf, mit Gott.

Er schiebt nach: „Als ich als Lehrling an einem Unfall vorbeifuhr, ploppte sie innerhalb weniger Momente in mir auf: die Sinnfrage. Was bleibt vom Leben?“ Zu Hause greift er nach der Bibel. Er stellt fest: Okay, ich verstehe Gott nicht in allem, will ihm aber vertrauen. Martin, der am Hebel für tausende Menschen sitzt, lässt Gott ans Steuer seines Lebens.

„Was macht ein Lokführer in seiner Freizeit?“

Noch 2 Minuten bis Bielefeld. Ein Baumarkt rechts ist für den Lokführer die Wegmarke. Hier muss er anfangen, die Bremsung einzuleiten. Tut er es nicht rechtzeitig, schiebt das Gewicht des Zuges ihn über den Bahnhof hinaus. Schnell frage ich noch: „Was macht ein Lokführer in seiner Freizeit? Fahrpläne auswendig lernen, an einer HO-Modellbahnplatte sitzen?“ Mallek lacht schallend.

„Freizeit?“ Pause. „Ich engagiere mich in einer Kirchengemeinde. Zudem schraube ich gerne. Die Leute stehen Schlange mit ihren defekten Rasenmähern, Mofas und Waschmaschinen. Die bringe ich repariert wieder aufs Gleis.“

Hbf Bielefeld, 10:04 Uhr. Pünktlich. Der Intercity-Express „Passau“ spuckt mich auf den Bahnsteig aus. Ich bin um zwei Erfahrungen reicher: Lokführersein ist mehr als ein Kinderspiel und die Stadt Bielefeld gibt’s in echt.

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. Er wuchs auf in Sichtweite der ersten deutschen Ferneisenbahnstrecke Leipzig-Dresden. Er lernte u.a. im ICE-Cockpit: Lokführer wie Martin Mallek können zu 99 Prozent nichts für die Verspätungen. Sie freuen sich, wenn Fahrgäste oder eine „ganze Mannschaft nach vorne kommen und sich mit Apfelsinen oder einem kühlen Getränk für die (hoffentlich) wunderbare und störungsfreie Zugfahrt bedanken“.

Der Kneipenpastor Titus Schlagowsky (Foto: Rüdiger Jope)

Morgens stehen zwei Steuerfahnder im Schlafzimmer: So wurde Titus vom Kriminellen zum Kneipenpastor

Titus Schlagowsky war Schläger, Säufer und Schwindler. Im Knast wollte er sich erhängen. Heute ist er Kneipenpfarrer.

So eine Geschichte kann man sich nicht ausdenken! Wir sind durch Nastätten gekurvt, einem kleinen Städtchen im westlichen Hintertaunus, 4.000 Einwohner. Jetzt stehen wir in der kleinen Kneipe des Ortes. Früher Abend, gedämpftes Licht, Stimmengemurmel. Wimpel der Biermarke Astra und von Borussia Dortmund hängen wild verteilt herum. Es ist noch leer, fünf, sechs Leute stehen um den Tresen. Sie fußballfachsimpeln, frotzeln, lachen, rauchen.

Hinterm Tresen steht Titus Schlagowsky. Der Wirt, ein großer kräftiger Typ, auf dem Kopf fast kahl, Vollbart, zieht genüsslich am Zigarillo. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, eine Lederweste und sein Herz auf der Zunge, wie sich in den nächsten Stunden zeigen wird.

Seit ein paar Monaten ist er über seine Kneipe und Nastätten hinaus bekannter geworden: als „Kneipenpastor“. Früher wollte er mal nach Island auswandern, hat mehrere gescheiterte Beziehungen und Insolvenzen hinter sich, im Knast gesessen … Und ist heute Pastor? In einer Kneipe? Es ist viel passiert, bis wir an diesem Abend im Oktober 2021 beim Bier zusammensitzen.

„Keine Schlägerei ohne mich!“

Titus Schlagowsky ist Sachse, 1969 geboren, aufgewachsen in einem Vorort von Crimmitschau, in einer christlichen Familie. „Ich war nicht staatlich ‚jugendgeweiht'“, erzählt er. Seine Kindheit und frühen Jugendjahre hat er in guter Erinnerung, „die Kirche hat mir Rückhalt gegeben“. Es machte ihn aber auch zum Außenseiter, der von Mitschülern gemobbt wurde, nachdem die Familie in die Stadt umgezogen war. Eines Tages wehrt er sich, schlägt mehrere seiner Mitschüler nieder. Von da an war sein Motto: „Keine Schlägerei ohne mich!“

Zu den Prügeleien kommt der Alkohol. Nach der Schule lernt er Schreiner und säuft so viel, dass er am nächsten Tag oft „nicht mehr weiß, was oben und unten ist“. Auch in Sachen Glauben macht er jetzt sein „eigenes Ding“, wird ein „typischer U-Boot-Christ“, wie er das nennt: „An Weihnachten auftauchen, wieder abtauchen, Ostern auftauchen, wieder abtauchen … Das war’s.“ Auch von der DDR hat er die Nase voll. Gleich nach der Wende 1989 verschwindet er mit seiner damaligen Freundin in den Westen, landet über Verwandte, die in Bad Nauheim leben, in Nastätten.

Dicke Autos und große Häuser

In den nächsten Jahren wird’s richtig wild. Titus Schlagowsky hangelt, mogelt und schummelt sich durch, eckt an. In seinem neuen Schreinerbetrieb belegt er einen Meisterkurs, wird kurz vor der Prüfung gefeuert, erklärt sich aber wie ein Hochstapler schon mal („mit wohlwollendem Blick auf die Zukunft“) zum Schreinermeister.

Als er den Meisterbrief endlich in den Händen hält, lebt er auf viel zu großem Fuß: dicke Autos, große Häuser, er betankt Firmenfahrzeuge mit billigem Heizöl statt Diesel, wird erwischt; muss bald Insolvenz anmelden. Obendrein drängt er seine neue Lebenspartnerin, die unter einer Bulimie-Essstörung leidet und ein Kind von ihm erwartet, zur Abtreibung; sie verlässt ihn …

In Haft wegen Steuerhinterziehung

Schlagowsky will auswandern, nach Island: sein Traumland. Da lernt er seine heutige Frau Andrea kennen. Das Paar wagt einen Neuanfang, ackert ohne Finanzpolster, bringt mit Freunden und gesammelten Einrichtungsgegenständen aus aufgegebenen Bäckereien quer durchs Land ihr neues Café mit Kneipe auf Vordermann – und dann stehen eines Morgens um fünf Uhr zwei Steuerfahnder im Schlafzimmer … Zum Verhängnis wird Titus Schlagowsky, dass er bei seinem Neuanfang Privat- und alten Firmenbesitz beim Verkauf vermischt und Löhne, Überstunden unter Umgehung der Lohnsteuer bar aus der Kasse bezahlt, auch Einkäufe bei Lieferanten ohne Rechnung begleicht.

Nach jahrelangen Ermittlungen wird im März 2012 der Haftbefehl gegen ihn vollstreckt. Verurteilt zu drei Jahren und drei Monaten wegen Steuerhinterziehung, landet er im Knast, Haftnummer 39 812. Im Juli ist er fertig. Die Zelle ohne Fenster, 24 Stunden künstliches Licht, „Lebensüberwachung“ alle 20 Minuten. Er will sich umbringen.

Suizidversuch im Knast

Der Strick, eine in Streifen geschnittene Jogginghose, ist gedreht, sein Abschiedsbrief geschrieben, als der Kuli unters Bett rollt. Er kniet davor und denkt sich: „Jetzt kannste auch noch ’ne Runde beten.“ Es wird das längste Gebet seines Lebens, er heult Rotz und Wasser, und merkt, dass „auf einmal alles anders“ geworden ist, er „eine andere Einstellung zum Leben“ gewonnen hat. Und er vernimmt Gottes Reden: „Ich hab noch was vor mit dir.“

Noch im Knast wird er zum „Müllschlucker“: Andere Knackis, die von seiner Veränderung gehört haben, kippen in Gesprächen ihren Müll bei ihm ab. Er wechselt bald ins Freigängerhaus und wird Ende November 2013 vorzeitig entlassen, allerdings mit vier Jahren Bewährung. Wieder „draußen“, macht er eine Prädikantenausbildung, ist seit 2016 Laienprediger der evangelischen Kirche und hat in den folgenden dreieinhalb Jahren 265 Predigten gehalten. Demnächst will er noch seine kirchliche Diakonen-Ausbildung abschließen.

BILD-Schlagzeile in einer Predigt

Jetzt, bei unserem Besuch im Oktober, steht er abends in seiner Kneipe, hat T-Shirt und Weste gegen ein schwarzes Kollarhemd mit grüner Stola getauscht. Die Musik aus dem Radio ist abgedreht, Gäste hocken am Tresen und in den Bänken, gut 30 Leute insgesamt, es ist eng. An einem Tisch proben Gabi Braun am Akkordeon und Heiner Keltsch auf dem E-Piano ein paar Takte, ein Elektrotechniker aus der Nachbarschaft hat Licht und Kameras aufgebaut, um die Kneipen-Andacht, die hier gleich abläuft, aufzuzeichnen. Sie wird später auf YouTube zu sehen sein.

Titus startet mit einem Wochenrückblick, macht eine launige Bemerkung zu einer BILD-Schlagzeile. Dann geht es schnell zur Sache. Grit, eine Mitarbeiterin, liest aus Psalm 32 und Titus holt den Bibeltext in die Kneipen-Atmosphäre, spricht von Krankheit, Leid und Dankbarkeit. Er kennt die Leute hier, spricht sie direkt an: „Ute, Rudi – was denkt ihr?“

„In der Kneipe predige ich nicht!“

Mittendrin zapft Chantal am Tresen still ein Bier. Zum Ende lädt Titus seine kleine Gemeinde ein: „Wenn ihr eine Krankheit überwunden habt, dann bedankt euch – und nehmt Gott beim Dank mit ins Boot! Denn nicht die Glücklichen sind dankbar, sondern die Dankbaren sind glücklich.“ Gabi und Heiner spielen noch ein Lied, einige murmeln das Vaterunser mit. Segen. Ein paar Gäste bekreuzigen sich.

Schlagowskys „Karriere“ als „Kneipenpastor“ begann erst vor gut einem Jahr: An einem Abend wollte er sich kurz zurückziehen, um im Bierkeller seine nächste Predigt nochmal laut zu proben. „Das kannst du doch auch hier machen“, meint ein Gast. „Klar, ich predige hier in der Kneipe – so einen Scheiß mach ich nicht!“, wehrt Titus mit gewohnt großer Klappe ab. Als aber noch andere Gäste ihn auffordern, hält er tatsächlich seine erste Kneipenpredigt.

Kirche bei einem Glas Bier

Inzwischen lädt er zweimal im Monat zu Gottesdiensten ein. Und landet oft bei dem Gedanken: „Jeder Mensch hat eine zweite Chance, so wie ich“, vor allem beim „Chef“, wie er Gott nennt. Seinen Gästen gefällt’s. „Ich habe wie Titus am Boden gelegen. Der labert nicht nur vom Leben, sondern der weiß, wie es ist. Mit seinen Predigten spricht er mir aus der Seele“, bekennt Axel (59).

Neben ihm sagt Frank (61): „Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil sie mir nichts zu sagen hatte. Die Pfarrer sind so weit weg vom Leben! Hier verstehe ich die Bibel.“ Kevin (45) ist richtig begeistert: „Kirche nicht altbacken, sondern an meinem Leben dran. Und das bei einem Glas Bier. Wo gibt’s denn sowas!“

Würde Jesus heute in die Kneipe gehen? Titus lacht. „Ja, da bin ich mir sicher. Der hat sich zu allen gesellt.“ Auch Pfarrerinnen und Pastoren, Christen überhaupt sollten ruhig öfter mal in die Kneipe gehen.

Harte Kritik an der Kirche

„Ich glaube, das ist eine Aufgabe“ – um mit den Menschen zu reden, sich ihre Fragen anzuhören, findet er: „Ich gehe teilweise hart ins Gericht mit meiner Kirche, weil der Bezug zu den Leuten immer weiter verloren geht. Das tut mir in der Seele leid.“ Er selbst hat im Treppenhaus hinter der Kneipe einen Stuhl stehen. Dahin zieht er sich mit Gästen zurück, wenn einer von ihnen mal reden will: „Es landet alles bei dir: Ehekrisen, Alkoholprobleme, Kinderärger, Altersfrust …“

Die Worte des Kneipenpastors bleiben nicht ohne Wirkung. Gabi, die Akkordeonspielerin, sagt nachdenklich: „Jahrzehnte hat Gott für mich keine Rolle gespielt, ich bin aus der Kirche ausgetreten. Titus hat mit seinen Gottesdiensten etwas in mir zum Klingen gebracht. Ich bin Gott nähergekommen. Vielleicht trete ich bald wieder ein.“

Jörg Podworny ist Redakteur des Magazins „lebenslust“.

Lesetipp und mehr: Der Kneipenpastor. Wie Gott mein Versagen gebraucht, um Herzen zu verändern (SCM Hänssler)

Romanautor Titus Müller (Foto: Debora Kuder)

Überwachung war allgegenwärtig: Titus Müller profitiert für seine Spionage-Romane von eigenen Erlebnissen

Titus Müllers neuestes Buch handelt von einer Spionin zur Zeit des Mauerbaus – ein Thema, das ihn persönlich betrifft. Er erinnert sich an beklemmende Momente aus seiner DDR-Kindheit.

Kurz nach neun holt mich Titus Müller am Bahnhof in Landshut ab. Es sind Ferien. Trotzdem ist er seit sechs Uhr wach – wie jeden Morgen, seit er vor sieben Jahren Vater geworden ist. Titus Müller ist Autor. 14 Romane hat er bisher veröffentlicht und etwa nochmal so viele Erzählungen und Sachbücher. Es gefällt ihm, zwischen christlichem und säkularem Markt hin- und herzuwechseln. Im Juni kamen zwei Bücher parallel heraus: Ein Spionageroman und C.S. Lewis’ Briefe auf Deutsch.

„Und das gilt als Beruf!“

Auch nach zwanzig Jahren freut er sich noch darüber, dass er sich monatelang mit spannenden Themen beschäftigen darf: „Und das gilt als Beruf!“ In seinen Romanen widmet er sich meist historischen Personen oder Ereignissen. Detailreich und mit viel Hintergrundwissen schreibt er über das Leben im Mittelalter, das Erdbeben in Lissabon im Jahr 1755, die Märzunruhen 1848, den Untergang der Titanic, einen Hochstapler in den Zwanzigerjahren oder Geheimdienstaktivitäten während des Zweiten Weltkriegs. „Geschichte in Geschichten zu erzählen, ist Titus Müllers großes Talent“, heißt es im Radiosender Bayern 2 über ihn. Seine Geschichten bestechen dadurch, seine Leser in andere Welten und Zeiten zu entführen.

Zu Fuß machen wir uns auf den Weg in sein Büro, an einer schönen Spazierstrecke entlang. Ein kleiner Zufluss der Isar schlängelt sich hier, umsäumt von einer wilden, regennassen Wiese. Titus Müller ist ein Stadtmensch und kann sich drinnen stundenlang in Bücher aller Art vertiefen. Draußen kommt eine andere Seite zum Vorschein – die des Staunenden, der in der Natur verborgene Schätze entdeckt. Raureif, zarte Vogelfedern, knisternde Ameisenbeinchen.

Fürs Schreiben ausquartiert

Müllers Schreibschmiede befindet sich in einem nüchternen Bürogebäude. Seit zu Hause Legobauten und Hot-Wheels-Bahnen dominieren, hat er sich fürs Schreiben ausquartiert und den Schreibtisch an seinen Sohn abgetreten, fürs Hausaufgabenmachen. Auf der Fensterbank liegen Papierstapel, in der Ecke stehen Hausschuhe. Computer, Drucker, ein Glas Leitungswasser. Mehr braucht Titus Müller nicht zum Schreiben. Ach ja, und eine Menge Bücher.

Zwei Reihen sind für die eigenen Bücher reserviert. Außerdem stehen in den Regalen Biografien über Erich Honecker und Willy Brandt, Sachbücher über den Mauerbau und die Spionageabwehr der DDR, ein Lexikon des DDR-Alltags. Darin steckt Titus Müller gerade gedanklich. Seine aktuelle Romantrilogie handelt von einer Sekretärin, die im DDR-Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel als Informantin für den BND arbeitet. Am zweiten Band, der im Jahr 1973 spielt, arbeitet er gerade.

Talent kennt auch Zweifel

Ein bis anderthalb, manchmal auch zwei Jahre arbeitet Titus Müller an einem Roman von der ersten Idee bis zur Abgabe. „Zwei Jahre sind ungünstig fürs Kühlschrank-Füllen und Miete-Bezahlen. Ein Jahr ist besser“, meint er: „Ich könnte doppelt so schnell sein und zwei Romane im Jahr schreiben, wenn ich nicht so viel Zeit damit vergeuden würde, meine Selbstzweifel zum Schweigen zu bringen. Am Morgen, wenn ich mich an den Computer setze, fürchte ich anfangs immer: ‚Heute wird’s nichts'“, berichtet er.

Wenn sein innerer Kritiker zischt: „Du kriegst heute nichts hin“, stellt sich Titus Müller manchmal vor, wie ein Töpfer Ton auf die Drehscheibe klatscht. Der erste Entwurf für eine Romanszene muss nicht brillant sein, es genügt ein Klumpen Ton auf der Drehscheibe, aus dem später ein schöner Krug werden wird. Um Durchhänger zu überwinden, hat Müller viele Tricks auf Lager. Zum Beispiel hört er gern Filmmusik, um sich in die passende Stimmung zu bringen.

Über den Mauerbau wollte er schon länger schreiben

Buchideen hat Titus Müller genug. Er sammelt sie manchmal jahrelang. „Eine Idee stirbt auch mal nach drei Tagen“, sagt er: „Aber wenn es mich nach Wochen immer noch im Bauch kitzelt, weiß ich, dass sie spannend genug ist.“ Solche Ideen schlägt er vor und die verkaufsträchtigsten von ihnen darf er als Romane umsetzen. Über den Mauerbau wollte er schon lange schreiben: „Betrifft mich ja auch irgendwie“, meint er.

Geboren 1977 in Leipzig, hat er zwanzig Jahre in Berlin verbracht. Als Kind stand er vor der Mauer, starrte mit seinen Brüdern und seiner Mutter auf das Brandenburger Tor, die Grenzsoldaten und die Westseite Berlins: „Immer wieder fragten wir: ‚Könnten wir nicht mit einem Heißluftballon über die Mauer fliegen? Oder einen Tunnel graben?‘ Und meine Mutter sagte: ‚Das hat man alles schon probiert.'“

„Das wirft moralische Fragen auf“

Müller war davon fasziniert, wie es möglich gewesen war, die Öffentlichkeit über Nacht vor vollendete Tatsachen zu stellen. Doch erst in Verbindung mit der Spionage-Komponente gab der Verlag grünes Licht für das Thema. Bereits in dreien seiner Romane agieren Spione. Ich will wissen, warum.

„Geheimdienste täuschen und hintergehen, um ein vermeintlich höheres Gut zu erreichen. Das wirft moralische Fragen auf, ideal für die Erkundung in einem Roman. Und mich interessiert der Alltag der kleinen Leute, aber eben auch das Leben von denen, die am großen Rad gedreht haben. Wenn ich die Aktionen des BND, des KGB und der Staatssicherheit schildere, kann ich Erich Honecker, Alexander Schalck-Golodkowski und Reinhard Gehlen ins Scheinwerferlicht rücken.“

Mordmethoden eines KGB-Killers verstehen

Ein Großteil seiner Zeit fließt in die Recherche: Müller interviewt Zeitzeugen und Experten, reist an Orte des Geschehens, durchsucht Archive. Für „Die fremde Spionin“ wälzte er dicke Bände aus der Münchner Staatsbibliothek über die Kommerzielle Koordinierung und vertiefte sich in rechtsmedizinische Schriften, um die komplexen Mordmethoden eines KGB-Killers zu verstehen.

Nicht immer verläuft die Recherche nach Plan: „Bei meinem Roman ‚Nachtauge‘ wusste ich, dass die Frau, auf der meine Heldin beruhte, Kinder gehabt hatte – sie mussten noch leben.“ Er suchte tagelang nach ihnen, befragte vor Ort Lokalhistoriker – keiner wusste etwas. Schließlich wurde eine Recherchespezialistin fündig, die er beauftragt hatte – leider allerdings erst, als das Buch fertig war.

Pakete kamen aufgerissen daheim an

An seine eigene Kindheit hat Müller viele schöne Erinnerungen: „Mit meinen beiden Brüdern habe ich viel gelacht. Wir sind Schlitten gefahren und durch den Park getobt. Manches habe ich auch nicht mitbekommen – zum Beispiel, dass es zu Hause Stasi-Besuch gab.“ Überwachung an sich war aber allgegenwärtig. Pakete kamen aufgerissen daheim an und bei größeren Veranstaltungen saß stets jemand zur Überwachung im Publikum. „Wenn es beim Telefonieren in der Leitung knackte, sagten wir manchmal: ‚Willkommen in unserem Gespräch'“, erinnert er sich.

Beklemmende Momente erlebte er auch in der Schulzeit: In der Politikdiskussion ignorierte ihn die Lehrerin einfach. Beim Fahnenappell stach er als Einziger ohne Pionier-Hemd heraus „wie ein Farbklecks in der Meute“. Einmal wurde sogar sein Schulranzen durchsucht: „Mein Freund Mathias, der Pionierleiter war, kam mit zwei starken Jungs, als fürchte er, ich könnte mich wehren, und entschuldigte sich mit ernstem Gesicht, bevor er zur Tat schritt. Wir waren danach weiter befreundet; ich wusste ja, er tat nur, was von ihm erwartet wurde. Aber wir sprachen nie darüber.“

In der DDR wäre er Bäcker geworden

Vor allem war klar, dass er als Sohn eines Adventisten-Pastors in der DDR nicht hätte studieren können: „Nach der zehnten Klasse wäre Schluss gewesen und ich wäre dann Bäcker geworden. Mein Beruf als Autor erfüllt mich. Das Schreiben und Veröffentlichen-Dürfen macht mir so einen Spaß. Wäre die DDR weitergegangen, hätte es das für mich nicht gegeben.“ Inzwischen gehört Müller mit seiner Familie zu einer Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde.

Ich will wissen, ob er immer noch samstags den Griffel ruhen lässt. „Ich weiß nicht, ob es Gott wichtig ist, welcher Tag es ist“, meint er. „Aber ich glaube, es ist ihm wichtig, dass man sich einen Tag ausruht.“ Seine Wochenenden sind oft voll mit Lesungen, Schreibwerkstätten oder Literaturgottesdiensten. „Und mein Impuls ist immer, an den Geschichten weiterzumachen“, gibt er zu: „Aber es tut mir gut, darin auch mal gebremst zu werden und einfach mal durchzuatmen.“

„Leser merken genau, ob ein Autor sie belehren will“

Müllers Glaube taucht auch in seinen Büchern auf. In manchen nehmen christliche Themen einen zentralen Platz ein, in anderen sind sie flüchtige Streiflichter. Aufdringlich missionieren möchte er aber nicht: „Leser merken genau, ob ein Autor sie belehren will. Wenn es aber authentisch ist und die Bücher von interessanten Menschen erzählen, dürfen auch tiefere Fragen vorkommen“, findet er: „In meiner Kindheit gab es das Prinzip der Schluckimpfung. Ich würde gern als Unterhaltungsautor gute Zuckerwürfel herstellen mit etwas Medizin darauf. Ich freue mich, wenn ein Roman so viel Tiefgang hat, dass am Ende etwas zum Nachdenken bleibt.“

Auf die Frage, wie sich sein eigener Glaube entwickelt hat, meint er: „Ich weiß weniger. Früher war mir alles sicherer und klarer. Aber ich nehme mehr Anregungen auf aus allen Richtungen. Gottes Spuren und Impulse auf dieser Welt zu erkennen, ist ein spannender Prozess, der hoffentlich für mich weitergeht, bis ich alt und grau bin.“ Eine geistliche Konstante ist für ihn bis heute C.S. Lewis.

„Vom ersten Buch an hat er mich gepackt“

Entdeckt hat er ihn mit 15 Jahren: „Vom ersten Buch an hat er mich gepackt mit seinem Tiefgang, seinem breiten Horizont, seiner Herzenswärme und seiner Klugheit. Vor allem damit, wie er an das Thema Glauben herangeht – ohne Angst vor schwierigen Fragen. Irgendwann hatte ich alles von ihm gelesen.“ Mit seinen Briefen hatte er noch einmal mehrere tausend Seiten Material. Diese auf Deutsch herauszugeben, hat ihm viel bedeutet: „Dadurch bin ich dem Menschen C.S. Lewis nähergekommen, mit allen seinen Brüchen.“

Titus Müller begleitet mich zurück zum Bahnhof. Er selbst fährt mit dem Fahrrad zurück nach Hause. Seine Frau Lena ist mit den Jungs ausgeflogen, er kann den Rest des Tages von daheim aus weiterschreiben. Ein Mensch mit viel Tiefgang. Mir bleibt auch über den Heimweg hinaus noch viel zum Nachdenken.

Debora Kuder arbeitet als freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in München.

Foto: Inside Creative House / iStock / Getty Images Plus

Arbeiten bis zum Umfallen: Sind Sie in Gefahr, arbeitssüchtig zu werden?

Anhand welcher Symptome erkennen Sie Ihre Arbeitssucht? Erste Anzeichen und fünf Tipps, um der Arbeitsfalle zu entkommen.

Erfüllung, Entfaltung und Lebensgrundlage auf der einen Seite. Überforderung, Burnout und Workaholismus auf der anderen: Arbeit hat nicht nur zahlreiche Formen und Facetten, sondern auch vielfältige Ausprägungen und Konsequenzen. Doch was, wenn aus dem, was eigentlich die Existenz sichert, eine Sucht wird? Woran merkt man, ob man betroffen ist? Oder noch besser: Was kann jeder tun, um diesen Zustand rechtzeitig zu vermeiden? Die Bedeutung von Arbeit hat im persönlichen Wertesystem jedes Individuums unterschiedliche Gewichtung: So arbeiten die einen, um zu leben, also den Lebensunterhalt zu finanzieren. Andere wiederum leben, um zu arbeiten.

Das ist alles per se weder gut noch schlecht und auch nicht in jedem Fall selbstbestimmt gewählt. Für jeden Menschen hat Arbeit daher eine andere Sinnhaftigkeit. Arbeit ist etwas Gutes, viel arbeiten ist in unserer Gesellschaft ebenfalls und größtenteils positiv besetzt. Nicht zwingend geht das mit Überforderung oder sogar einem möglichen Burnout einher. Wer oft und viel tätig ist, kann das durchaus lustvoll tun und erfährt dadurch Erfüllung. Selbst wenn die Gefahr von Workaholismus bei denen lauert, die überdurchschnittlich viel tun, ist dieser Begriff eher positiv konnotiert. Erst die Steigerung dessen führt zur eigentlichen Arbeitssucht und die Grenze zu einer Erkrankung rückt näher. Was kennzeichnet Arbeitssüchtige? Es sind Menschen, die typisches Suchtverhalten zeigen, also immer mehr von einer Sache brauchen, um über den Tag zu kommen. So sind sie in der damit verbundenen Dauerschleife gefangen: Ihr gesamtes Selbstwertgefühl fußt auf ihrer Arbeit, daher sind sie nicht mehr in der Lage, sich von ihr abzugrenzen, arbeiten zwanghaft und leben einen ausgeprägten Perfektionismus.

Wo lauert der Workaholismus?

Die Menschen in der modernen Gesellschaft arbeiten viel mehr als die Generationen davor in früheren Jahrhunderten. Mit der Aufklärung kam ein modernes Versprechen auf, das sich über die industrielle hin zur digitalen Revolution bis zur Globalisierung erstreckte: Die Menschen werden von der Arbeit befreit. Bis heute ist es eine Zusicherung geblieben. Tatsächlich wurden zwischenzeitlich grobe, manuelle oder repetitive Arbeiten an Maschinen oder in die IT-Welt ausgelagert. Erstaunlich allerdings bleibt, dass sich der Mensch – kaum hat er sich der körperlich schweren Arbeit entledigt – die Unfreiheit mit Arbeitssucht wieder zurückholt.

Arbeitssucht ist eine Form von Abhängigkeit. Man kann nicht mehr ohne Arbeit sein und entwickelt ein hohes Verlangen nach der Tätigkeit und der entsprechenden Anerkennung dadurch. Leistungssucht ist ein Teil dessen, man will sich selbst etwas beweisen. Workaholismus wird als ein exzessives Bedürfnis nach Arbeit beschrieben. In diesem Zustand verlieren wichtige, andere Lebensbereiche an Bedeutung. So brechen allmählich soziale Kontakte ab und der Zwang, sich über die Arbeit zu definieren, steigt weiter. Die Spirale setzt sich in Gang und wie bei jeder Sucht muss zur Befriedigung die Dosis ständig erhöht werden. Das kann schlussendlich in Krankheiten münden. Wer permanent mehr als 50 Stunden pro Woche arbeitet, kommt dem Workaholismus bereits sehr nahe.

Führungskräfte und Selbstständige besonders betroffen

Die Ursachen für Arbeitssucht sind oft in übertriebenem Engagement zu finden. Häufig betroffen sind vor allem Führungskräfte und Selbstständige, die sich derart ins Zeug legen und anhand von Erfolgen und Ergebnissen, Zuspruch und weiteren Aufträgen oder Projekten eine hohe Befriedigung erleben. Bleibt das eine vorübergehende Phase und findet man einen entsprechenden Ausgleich, ist das durchaus positiv zu sehen.

Risikoreich wird es allerdings dann, wenn dieses hohe Engagement eng mit dem persönlichen Wertesystem und der Manifestation des Selbstwertgefühls verknüpft ist. Wer seinen eigenen Wert an die Arbeitsleistung koppelt, ist schneller von Arbeitssucht betroffen. Aus dem Zwang, alles perfekt machen zu wollen, um sich selbst und anderen gegenüber wertvoll zu erscheinen, geht die Fähigkeit verloren, Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen. Um überhaupt noch alles zu erledigen, gibt es Sonderschichten in der Nacht und Mehrarbeit am Wochenende. Dass jemand überhaupt zu so einer Form der Sucht neigt, erklären Therapeuten anhand von Erziehung, Vererbung, der persönlichen Lebensgeschichte und der sozialen Umstände, auch Einflüsse der Gesellschaft spielen eine Rolle. Doch anhand welcher Symptome erkennen Sie Arbeitssucht?

Drei Symptome von Arbeitssucht

Sie denken immer mehr, auch außerhalb der Arbeitszeit, an Ihre Arbeit. Sie überlegen sich, wo Sie noch mehr Zeit für Ihre Arbeit beschaffen können, und opfern dafür Freizeit, Hobby und soziale Kontakte. Sie entwickeln einen hohen Grad an Perfektionismus und verlieren die Fähigkeit, Prioritäten zu setzen. Sie spüren, dass Sie im Grunde zu viel arbeiten.

Sie machen eine saubere Planung und stellen fest, dass Sie immer mehr Zeit mit Arbeiten verbringen, als Sie es sich vorgenommen haben. Aus Zeitgründen schieben Sie übergeordnete Aufgaben vor sich her, was Sie noch mehr unter Druck setzt.
Sie vergessen Termine und können sich das nicht erklären. Sie ärgern sich über Ihre Umstände und erleben Schuldgefühle oder erste Anzeichen von Depression.

Sie entwickeln körperliche Entzugssymptome, wenn Sie sich nicht der Arbeit widmen können (WLAN-freie Zonen, Krankheit, Urlaub mit der Familie usw.). Sie haben Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, und erhöhen das Arbeitspensum, um allem und allen gerecht zu werden. Sie verfolgen verbissen Ziele oder Pläne, die Sie um jeden Preis durchsetzen wollen.

Fünf Tipps, um der Arbeitssucht zu entgehen

Wenn Sie erkennen wollen, ob Sie gefährdet sind, dann braucht es im ersten Schritt Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Zeigen sich regelmäßig erste Symptome? Es ist ein Unterschied, ob Sie in einem Projekt vier Wochen fast rund um die Uhr arbeiten oder ob Sie über einen Zeitraum von mehreren Monaten oder Jahren die entsprechenden Verhaltensweisen an den Tag legen. Beginnen Sie mit einer verbindlichen Arbeitsplanung für sich selbst:

  1. Weihen Sie Freunde und Familie ein und erlauben Sie, explizit darauf angesprochen zu werden, wenn Sie zu viel arbeiten.
  2. Seien Sie sehr rigide mit Freizeitterminen, also nehmen Sie den Fußballabend mit Ihren Freunden und die Geburtstagsfeier Ihres Kindes genauso pflichtbewusst wahr wie Ihre Geschäftstermine.
  3. Schalten Sie mobile Geräte am Abend aus und schaffen Sie sich Zeitinseln, in denen Sie nicht arbeiten.
  4. Lernen Sie, Vertrauen zu anderen zu haben – das schafft die Möglichkeit, zu delegieren.
  5. Lernen Sie, Ihr Selbstwertgefühl nicht ausschließlich von der Arbeit abhängig zu machen.

Stefan Häseli ist Kommunikationstrainer, Keynote-Speaker, Moderator und Autor mehrerer Bücher. Er betreibt ein Trainingsunternehmen in der Schweiz (www.stefan-haeseli.com). Als Kommunikationsexperte begleitet er seit Jahren zahlreiche Unternehmen bis in die höchsten Vorstände von multinationalen Konzernen.

Der Koloss von Prora - Hier wohnten die Zwangsarbeiter. (Foto: 3quarks / iStock / Getty Images Plus)

Leben als Staatsfeind: DDR sperrte Pazifisten als Zwangsarbeiter weg

Wer in der DDR den Wehrdienst verweigerte, musste als Zwangsarbeiter leiden. Schikaniert, angebrüllt, niedergemacht: Thomas Weigel erzählt, wie er diese Hölle überlebte.

Thomas, du bist Autor des Buches „Ausgangssperre – Bausoldat im Koloss von Prora“. Erklär mal jüngeren Lesern: Was ist ein Bausoldat? Was verbirgt sich hinter dem Koloss von Prora?

Der Dienst als Bausoldat war in der DDR die einzige Möglichkeit, den Dienst mit der Waffe in der Armee zu verweigern. Man arbeitete nach einer militärischen Grundausbildung auf Baustellen und in Betrieben. Der Koloss von Prora ist ein riesiges, 4,5 Kilometer langes Gebilde auf der Ostseeinsel Rügen. Es war gedacht als ein Urlaubsareal für 20.000 Menschen in der NS-Zeit. Der Koloss wird jetzt saniert, in Ferien- und Eigentumswohnungen umgewandelt. Zu DDR-Zeiten wurde der Komplex militärisch genutzt.

Du hast den Armeedienst mit der Waffe verweigert und kamst dafür von November 1986 bis April 1988 auf die wunderschöne Ostseeinsel Rügen. Wie viel Urlaub atmete diese Zeit?

Prora war berüchtigt. Bausoldaten, die von dort zurückkamen, haben den Spruch geprägt: „Drei Worte genügen: Nie wieder Rügen!“ Die Kaserne lag nur 100 Meter vom malerischen Strand entfernt. Allerdings war der Strand Grenzgebiet. Den durfte man nicht betreten. Klar gab es Möglichkeiten, die Insel im Sommer hier und dort zu erkunden, aber der hohe psychische Druck ließ kaum Erholung zu.

4:00 Uhr war Arbeitsbeginn

Wie sah der Alltag im Koloss von Prora aus?

Sehr schematisch, sehr gleichförmig, sehr eintönig. Im Sommer wurden wir um 4:00 Uhr geweckt. Um 6:00 Uhr marschierte der ganze Trupp zum LKW und wir wurden zur Baustelle gefahren. Gegen 18:30 Uhr waren wir wieder in der Kaserne. Abendessen. Mit Leuten reden. Um 21:00 Uhr hieß es Bettruhe. Das ging bei manchen von Montag bis Sonntag, bei anderen auch mal zwei Wochen durch. Sehr überschaubar von den Abläufen.

Gearbeitet hast du tagsüber auf der Baustelle Mukran. Was verbarg sich dahinter?

Mukran war damals die größte Baustelle der DDR. Der Hafen nach Klaipeda (damals Sowjetunion, heute Litauen) wurde als Fracht-, aber auch versteckter Militärhafen gebaut. Damit wollte man den Weg über das politisch unsicher gewordene Polen umschiffen.

DDR trennte Väter von ihren Kindern

Das Verhältnis zu den Vorgesetzten muss man sich wie vorstellen?

Ich und viele andere wurden als 26-jährige, bereits berufstätige Familienväter mit zwei, drei Kindern fern der Heimat eingezogen. Die Offiziere, denen wir dann Gehorsam leisten mussten, kamen z.T. aus einfachen Verhältnissen, waren 18, 19 oder 20 Jahre alt. Den Befehlen dieser „Grünschnäbel“ hatten wir Folge zu leisten. Befehlsverweigerung zog strenge Strafen nach sich.

Deinen eindrücklichen Schilderungen spürt man ab: Junge Menschen bekamen dort nichts geschenkt. Im Gegenteil: Sie wurden schikaniert, angebrüllt, niedergemacht, verletzt. Schildere mal eine typische Situation.

Täglich galt es, auf dem 120 Meter langen Gang anzutreten. Beim Raustreten wurde man vor allen beschimpft und angebrüllt. Wenn man in den Ausgang gehen wollte, wurde die Rasur aufs Peinlichste überprüft, und ob die Schuhe geputzt waren. Doch selbst, wenn alles perfekt war, suchten und fanden die Offiziere etwas zu bemängeln. Zudem gaben uns die Vorgesetzten permanent zu verstehen, dass wir Christen zu den Staatsfeinden gehörten.

Offiziere bestraften Einzelne hart

Die Hauptfigur deines Romans, Bernd, kommt selbstbewusst nach Rügen, wird dann aber durch Vorgesetzte gebrochen. Passierte dies tatsächlich?

Es wurden immer wieder Einzelne herausgezogen, die man dann hart bestraft hat. Dies diente als wirkungsvolles Exempel für uns alle.

Unter Bausoldaten gab es verhältnismäßig viele Christen. Schaffte das einen besonderen Zusammenhalt?

Die Gemeinschaft der Christen aus ganz unterschiedlichen Glaubensrichtungen war schon etwas Besonderes. Uns einte der gemeinsame Feind, der christliche Glaube, die Idee von einem Frieden ohne Waffen.

Nur einmal die Woche raus aus der Kaserne

Wurden Gottesdienste und Bibelrunden von den Vorgesetzten gefördert?

(lacht) Sie wurden verhindert. Es wurde ganz klar gesagt: Hier ist hoheitliches Staatsgebiet. Religion hat hier nichts zu suchen. Viele unserer Vorgänger haben für den Ausgang gekämpft. So durften wir einmal (!) die Woche abends und manchmal sonntags raus. Dies nutzten viele, um einen Gottesdienst oder Hauskreis zu besuchen. In der Kaserne waren Glaubenstreffen tabu, trotzdem haben wir uns heimlich zu Gottesdiensten und Bibelstunden verabredet.

Eine Schlüsselszene des Buches ist die, als Bernds Frau mit Tochter überraschend anreist, ihn aber nicht zu Gesicht bekommt, weil dieser von seinem Vorgesetzten absichtlich mit einer Ausgangssperre belegt wird, infolgedessen ausrastet und mit Arrest bestraft wird. Hast du Ähnliches erlebt?

Zum Glück nicht, aber ich hatte Leute in meiner Kompanie, die für Lappalien hart bestraft wurden, einer sogar mit Militärgefängnis. Es gab Fälle, in denen Besuch abgewiesen wurde. Hämisch wurde den Bausoldaten gesagt: Ihr Besuch wird Sie leider heute nicht empfangen.

„Ich habe die Tage runtergezählt“

Was waren Momente, die dir Tränen in die Augen trieben? Wo warst du nahe dran, aufzugeben?

(zögernd) Belastend war für mich die geschilderte Gleichförmigkeit, das Weggesperrt-Sein. Ich habe versucht, mit viel Lesen und dem Kennenlernen der Leute dagegenzuhalten. Doch in den letzten Monaten ging mir die Kraft aus. Ich saß nur noch im Fernsehraum und sah DDR 1 und 2. Ich habe die Tage runtergezählt. Das war etwas, was ich von mir gar nicht kannte. Ich war psychisch auf dem Nullpunkt.

Das Bausoldat-Sein war kein Pfadfinderlager. Was hat dir Kraft gegeben, diese schwere Zeit auszuhalten?

Mein Glaube, die Stille, das Gebet. Der Austausch mit anderen Christen wurde mir zur Kraftquelle.

Keine Wiedergutmachung erfahren

15.000 junge Männer entschieden sich zwischen 1964 und 1990 aus Überzeugung für diesen schweren Weg. Damit entschieden sie sich auch gegen ein Studium und die damit verbundene Karriere. Ist den Bausoldaten nach der Wende Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung widerfahren?

Es gibt keine Rehabilitation in irgendeiner Weise. Da tun sich bei manchen im Rückblick auf den beruflichen Werdegang sicher auch schmerzliche Lücken auf. Trotz allem, die Zeit hat mich stark und fit gemacht fürs Leben. Das Bausoldaten-Sein hat auch Persönlichkeiten wie den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, den mitteldeutschen Bischof Friedrich Kramer oder Ex-Minister Wolfgang Tiefensee hervorgebracht.

Ist von daher alles gut?

Sicher nicht! Ich kenne Bausoldaten, die in der Zeit zerbrochen sind, bis heute psychische Probleme haben.

Kann es sein, dass sich hinter der Zustimmung im Osten für die AfD, Pegida & Co. auch ein gewisser Prozentsatz an Frust verbirgt, nach dem Motto: Wir haben unseren Kopf hingehalten, aber den Reibach haben die Mitläufer oder sogar die gemacht, die damals das Sagen hatten?

Wie heißt es so schön: Fett schwimmt oben! Das ist auch meine Erfahrung. Menschen, die im SED-Staat Karriere gemacht haben, haben diese in die Deutsche Einheit hinübergerettet. Ob das der AfD zugutekommt, kann ich nicht beurteilen.

Dankbar für kleine Freiheiten

Hier und dort wurde den fiesen Vorgesetzten ein Schnippchen geschlagen. Welche Aktion lässt dich heute noch schmunzeln?

(lacht) Ich freue mich heute noch darüber, dass es mir heimlich gelang, Kontakte zur evangelischen Jugend und einem Schachverein auf Rügen zu knüpfen. Dadurch war es mir möglich, Zivilklamotten außerhalb der Kaserne zu platzieren. Wenn ich Ausgang hatte, konnte ich in deren Wohnung die Uniform ausziehen, mich anschließend frei und zivil bewegen. Ich bin dankbar, dass diese „kleine Freiheit“ nie entdeckt wurde, ich nicht wie andere in Polizeikontrollen geriet und anschließend bestraft wurde.

Die Bausoldaten sind seit 31 Jahren nur noch ein Wimpernschlag der Geschichte. Warum ist es wichtig, ihre Geschichte 2021 noch zu erzählen?

Zum einen, weil erzählte Geschichte bildet und dankbar werden lässt. Zum anderen, weil diese Geschichten Mut machen, sich nicht mit Gegebenheiten abzufinden, sondern zum Aufstehen bewegen und dazu, für unsere Demokratie und die Glaubensfreiheit einzutreten. Bausoldaten waren sehr engagiert, als es um die Wende ging. Sie waren wichtig dafür, dass die neuen Länder in der Bundesrepublik ankamen

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Thomas Weigel ist Geschäftsführer vom netzwerk-m. Die Organisation verbindet christliche Jugend-, Sozial- und Missionswerke und Kirchen und begleitet jährlich über 800 junge Menschen in Freiwilligendiensten. Er lebt mit seiner Familie bei Kassel. Weigel ist Autor des Buchs „Ausgangssperre – Bausoldaten im Koloss von Prora“ (Concepcion Seidel).

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Oberfeldwebel Gideon Schmalzhaf (Foto: Bundeswehr / Claas Gärtner)

Es roch nach verbrannten Menschen: Soldat berichtet von Corona-Einsatz in Indien

Oberfeldwebel Gideon Schmalzhaf rettete im indischen Krisengebiet Corona-Patienten vor dem Ersticken. Was er dort erlebte, veränderte ihn für immer.

Herr Schmalzhaf, was ist Ihre Funktion bei der Bundeswehr?
Ich bin Oberfeldwebel im Bereich Informationstechnik. Ich bin dafür zuständig, Netzwerke zu prüfen und eine Schwachstellen-Analyse von Bundeswehrnetzen zu erstellen. Dort bin ich allerdings noch relativ frisch, begonnen habe ich in der IT im Bereich der Sanität. Dadurch bin ich auch in die Corona-Mission der Bundeswehr reingekommen.

Sie waren im Frühjahr auf Corona-Missionen in Indien dabei. Wie kam es dazu?
Die Bundesregierung hatte beschlossen, dass wir kurzfristig eine Corona-Hilfe machen in den Krisengebieten. Für Indien hatte ich zwei Tage Vorbereitung.

Wie haben Sie sich in diesen zwei Tagen auf Indien vorbereitet?
Es standen für mich Fragen im Raum wie: Was muss ich anziehen in diesem sehr, sehr heißen Land? Unsere Uniform lässt nicht viel Spielraum. Dann: Was nehme ich mit, wie lange steht die Chance, dass wir bleiben? Wie packe ich da bei begrenztem Gepäck? Wir konnten dort außerdem nicht unsere standardmäßigen Kommunikationsmittel benutzen, also musste ich ein Satelliten-Telefon organisieren. Dann musste ich herausfinden, wer alles mitgeht, wie viele Computer ich brauche. Was für Netzwerke ich aufstellen muss, wie wir die Kommunikation nach Hause sicherstellen und auch in Indien selbst.

„Ich hatte Angst“

Was war Ihre Aufgabe in Indien?
Wir haben eine Sauerstofferzeugungsanlage aufgebaut, die medizinischen Sauerstoff für Krankenhäuser erzeugt und gleichzeitig auch abfüllbar ist in Flaschen, die man theoretisch den Patienten mitgeben könnte.

Mit welchen Erwartungen oder mit welchem Gefühl sind Sie dann nach Indien geflogen?
Wir haben gehört, dass praktisch überall Menschen verbrannt werden, dass die ganze Stadt im Dunstnebel versinkt von den Scheiterhaufen, die überall aufgebaut sind. Und ich muss ehrlich sagen, ich hatte richtig Respekt und manchmal würde ich sogar sagen: Ich hatte Angst, dass es so krass wird – man wird stark mit dem Tod konfrontiert.

War es dann auch so wie angekündigt?
Wir waren in einem Hotel innerhalb der Botschaftsviertel untergebracht und da war es eher aufgeräumt. Aber sobald man den Bereich verlassen hat, hat man das schon gerochen. Es waren nicht überall Scheiterhaufen, so wie man es sich vorgestellt hat, sondern abgesperrte Bereiche, in denen ganz groß mit Schildern angekündigt wurde: Hier ist ein Krematorium. Da sind ständig Fahrzeuge reingefahren, es war eine richtige Massenabfertigung an Verbrennung von Menschen. Das war schon sehr seltsam.

Sauerstoff war wertvoller als Gold

Wo war dann Ihr Arbeitsbereich?
Wir hatten einen Platz an der inneren Grenze von Neu-Delhi. Dort hatte das indische Militär schon ein provisorisches Krankenhaus gebaut, wo Menschen hinkommen konnten, die kein Geld für ein normales Krankenhaus haben. Zu der Zeit konnten dort 1.000 Menschen gleichzeitig behandelt werden. Wir haben dann neben diesem Krankenhaus die Anlage aufgebaut und zusätzlichen Sauerstoff erzeugt, der dann zu weiteren Stellen transportiert wurde.

Haben sich die Einsätze angefühlt wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein?
Auf dem Papier betrachtet war es nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir haben eine große Anlage aufgebaut, aber im Vergleich dazu, wie viele Menschen dort leben, ist das nur was Kleines. Die Kapazität konnte, während wir dort waren, auf 2.500 Patienten erhöht werden, aber vor den Toren standen immer noch riesige Schlangen und der Abtransport der Toten war ein stetiger Fluss. Viele von unseren Soldaten hatten teils das Gefühl, dass wir nichts bewirken, aber für mich war es wichtig zu sehen: Wir retten hier Menschenleben, selbst wenn es nur ein einziges ist. Jede Sache, die wir tun, ist unbezahlbar. Ich will auch als Christ sagen, dass jedes Menschenleben wertvoll ist, und dann ist für mich egal, wie viel wir helfen konnten, weil jede Hilfe großartig war.

Im Hotel kam mal jemand auf uns zu, der vor Freude über unsere Hilfe geweint hat und sich bedankt hat, dass wir sie retten. Die Inder haben ja selbst medizinische Versorgung, aber brauchten eben den Sauerstoff, der teilweise wertvoller war als Gold. Für sie hängt sowieso viel an der Gesundheit, weil es dort viele Tagelöhner gibt. Und wer krank ist, kann nicht arbeiten, was bedeutet, dass die Familie zu Hause kein Geld mehr hat und eventuell Hunger leiden muss.

Corona bedeutet für arme Menschen den sicheren Tod

Haben Sie generell von den Menschen dort noch etwas gehört, wie sie die Pandemie bisher erlebt haben, was ihre Lebensrealität in der Zeit war?
In Indien gab es nicht die gleichen Maßnahmen und Einschränkungen, die wir in Deutschland hatten, weil es teilweise auch nicht umgesetzt werden konnte. Für die gehobenen Schichten, die Geld haben, ging die Zeit ähnlich vorüber wie für uns in Deutschland. Aber für die ärmeren Schichten, die darauf angewiesen sind, jeden Tag Arbeit zu haben, und die sich keine Masken leisten konnten, hat eine Ansteckung mit Corona eigentlich den sicheren Tod bedeutet. Da herrschte eine sehr große Angst der Menschen, sich zu infizieren, weil sie gleichzeitig nicht wussten, wie sie sich schützen sollen. Wir haben ihnen am Anfang gezeigt, wie sie sich mit den Mitteln, die sie haben, relativ einfach schützen können.

Hat Ihr Glaube Ihnen geholfen, annehmen zu können, dass der Tod ein unkontrollierbarer Teil der Einsätze ist?
Ja, schon. Zu Hause bin ich jemand, der dem Thema Tod gerne aus dem Weg geht, weil es eben sehr belastend ist. Ich habe mir dann dort die Frage gestellt: Was ist wichtiger: Trauere ich um die vielen Toten oder tue ich das, was ich am besten kann, und helfe und sorge mit dafür, dass jeder, der eben nicht sterben muss, nicht sterben muss? Das war immer omnipräsent: Wenn wir nichts tun, sterben mehr Menschen.

„Wir leben im reinen Luxus!“

Wie blicken Sie nach der Zeit in Indien auf das deutsche Pandemie-Management? 
Ich verstehe jeden, der sagt, ich habe keinen Bock mehr auf eine Maske. Aber manchmal muss ich mich innerlich echt zusammenreißen, dass ich nicht irgendwas Schlimmes sage, weil ich denke: Leute, uns geht es so gut, wir leben im reinen Luxus! Nur weil wir einmal abends nicht essen gehen können oder, als wir die Ausgangssperre hatten, um 21:00 Uhr zu Hause sein sollten … Das ist nichts dagegen, dass viele andere Menschen sterben! Bei uns war es nicht wie in Indien, wo wir vorm Krankenhaus Schlange stehen mussten und gehofft haben, dass der vor uns stirbt, damit wir einen Platz bekommen, sondern wir haben im Luxus gelebt. Ich glaube, wenn jeder Deutsche einmal auf eine Corona-Intensivstation bei uns ginge, dann wäre der eine oder andere geheilt von seinem Luxusproblem.

Viele Deutsche wissen nicht zu schätzen, was wir haben, weder den Luxus mit unserem Gesundheitssystem, dass jeder zum Arzt gehen kann und sich keinerlei Sorgen um Bezahlung machen muss, noch das Sozialsystem, dass wir einfach mal über ein Jahr die Wirtschaft stilllegen und deswegen keiner von uns Hunger leiden oder auf der Straße leben muss. Welches Land kann das tun? Und dafür sind wir, glaube ich, viel zu wenig dankbar.

Haben die dortigen Erlebnisse etwas mit Ihrem Verständnis vom Mannsein gemacht?
Die Begegnung mit einem Mann hat mich da ins Nachdenken gebracht. Er hat mir erzählt, dass er jeden Tag Angst davor hat, krank zu sein, weil er seine Familie dann nicht mehr versorgen kann. Und dass quasi alle Männer, sobald sie arbeiten können – Jungen ab 16 –, in die große Stadt gehen und dort arbeiten. Ihre ganze Familie ist davon abhängig, dass sie dort Arbeit haben. Und dann habe ich an unsere typisch biblischen Rollenbilder gedacht, wo der Mann für die Versorgung der Familie zuständig ist. Und natürlich leben wir in einer Zeit, in der es nicht notwendig ist, dass unbedingt die Männer arbeiten gehen oder wo beide einen Job haben. Aber wir Männer lehnen uns auch gerne zufrieden zurück und sagen: Ich hab meine Frau, ich hab meine Arbeit, mein Haus – ich setz mich aufs Sofa, guck abends meinen Fußball mit einem Bier in der Hand und meine, ich bin der ultimative Mann.

Ich habe dort gelernt, dass eigentlich so viel mehr dazugehört. Eben, nicht nur mit dem zufrieden zu sein, sondern dass dann eigentlich erst die Aufgabe anfängt, weil da Menschen sind, die auf meine Arbeit, meine Hilfe und mein Dasein zählen. Und dann darf ich auch nicht feige sein und, weil mir etwas nicht passt oder nicht so ist, wie ich das gerne hätte, aufhören, meine Rolle einzunehmen. Das hat mir dahingehend Ehrfurcht gegeben, dass ich dachte: Krass, ich bin noch so weit weg von dem Bild, was ich denke, was ein „echter Mann“ ist, und ich weiß nicht, ob ich dem jemals gerecht werden kann.

Gideon Schmalzhaf ist Oberfeldwebel bei der Bundeswehr und in Ulm stationiert.

Die Fragen stellte Liesa Dieckhoff.

Ingmar Krimmer, Foto: Rüdiger Jope

Besuch beim Bäcker: So choreografiert entstehen preisgekrönte Biobrötchen

Die Backstube von Ingmar Krimmer ist mehrfach ausgezeichnet. Doch damit Qualität entsteht, braucht es vom Team viel Disziplin und Zeit.

Es ist 3:02 Uhr. Noch ist es stockdunkel in Untermünkheim. Fast. Aus einer offenen Stahltür tritt Licht. Bäckermeister Ingmar Krimmer lädt mich ein in seine Welt, die sich der Genussfreude verschrieben hat. Der Pausenraum ist übervoll, eng, chaotisch. „Den Pulli kannst du auslassen, bei uns ist es warm“, lacht der Meister und reicht mir ein Haarnetz. Eine Kreidetafel verkündet: Nachtschicht! Na dann mal los!

Heiß und eng

Über einen verwinkelten Gang geht es in die Backstube. Es ist heiß. Bleche scheppern. Ein Rührgerät summt. „Vorsicht!“ Ich suche mir eine Nische – gefühlte 100-mal in den sechs Stunden. Ein Wagen mit Blechen rumpelt an mir vorbei. Es ist eng, sehr eng. Ein Azubi bemehlt die Arbeitsfläche, packt einen großen Berg Teig drauf und beginnt, diesen zu portionieren. Die Klingel schrillt. Eine der zehn Ofentüren wird aufgeklappt. 229 Grad zeigt das Thermometer. „20 Quadratmeter Backfläche. Das Gas heizt das Wasser. Dieses läuft sozusagen drumherum und sorgt für ein optimales Backklima“, erklärt mir Ingmar nahe am Ohr. Mit großen Schiebern angelt der Geselle nach den knusprigen Vollkornbroten. Sie werden mit feinem Wasserdampf besprüht, „damit der Glanz bleibt“. Der Meister packt sie auf lange Holzbretter. Ich lese die digitale Anzeige: „Laugenbrötchen Rest 8 min“, „Brezeln Rest 7 min“, „Baguettes Soll 24 min“ … „Vorsicht!“ Bin schon weg! Der Geselle fegt mit einem langstieligen Besen den Ofen aus.

Aus dem Pfarrerskind wird ein Bäcker

Zusammen mit zwei Kollegen knetet und formt der 33-jährige Krimmer beidhändig (!) Kartoffelbrote, platziert diese dann in Gärkörben. „Wie wird man Bäcker?“, frage ich. Lachen. „Ich stamme aus einer Pfarrersfamilie. Wir waren zehn Geschwister. Da musste man sich seine Nische suchen, um nicht unterzugehen.“ Mit 15 ½ Jahren ist Ingmar zu jung für den eigentlich anvisierten sozialen Beruf. Er lernt erst mal was Solides, „ebbes rechts“. Dabei stellt er fest: Mit Backen macht man Menschen glücklich! Er setzt seinen Meister drauf, „bäckt sich“ seine Traumfrau, lächelnd: „Hat sich so ergebe.“ Er heiratet Tanja, seine erste Auszubildende. Es folgen gemeinsame Lern- und Wanderjahre …

„Vorsicht!“ Ich verschwinde hinter einem Stapel mannshoher leerer Eimer. Eine Mitarbeiterin walzt Teigplatten für Croissants. Es klingelt. Der Ofenmann braucht Unterstützung. Frische Baguettebrötchen fallen rasselnd in Körbe. So muss es im Paradies gerochen und geschmeckt haben! Zwei Frauen sortieren die reifen Leckerbissen in Körbe und Tüten für die Auslieferung. Meister Krimmer formt jetzt filigran die „Seelen“, eine Art langgestrecktes Weißbrotgebäck aus Dinkel.

Ehrliches Handwerk statt Industriebetrieb

2014 hauchte Ingmar zusammen mit Tanja einem alten Bäckerladen eine neue Seele ein. Die Bäckerdynastie hatte nach sechs Generationen keinen Nachfolger mehr vorzuweisen, zum Backstuben-Jünger wird nun der 25-Jährige aus der Pfarrerdynastie. Mit sechs Mitarbeitern starten sie durch, heute wirbeln rund um die Uhr an sechs Tagen die Woche 40 Leute durch Backstube und Laden im Drei-Schicht-System. „Industriebetrieb?“, frage ich. „Nein“, wehrt der Meister mit aufgerissenen Augen ab, „ehrliches Handwerk, mit Sinn für Qualität und Geschmack.“

Die Laugenweckle fliegen förmlich aus den Händen auf lange Schiebebretter mit integriertem Förderband. Diese werden von vier kräftigen Armen schwungvoll an den geöffneten Ofen angesetzt. Behänd wird das umlaufende Stoffband surrend nach hinten geschoben, die Teiglinge landen sanft für 21 Minuten auf dem heißen Stein.

14 Leute arbeiten im Takt

5:18 Uhr. Hochbetrieb. Die Backstube atmet jetzt etwas von einem Ameisenhaufen. 14 Leute wirbeln umher. Ingmar jongliert lange Bretter mit Broten nach vorne in den Laden. Zwei Frauen belegen Brötchen mit Schinken, Käse, Gurken, Tomaten. Ein kalter Luftzug umweht die Beine. Aus der Kühlung werden Wagen mit Kleingebäck die Alurampe hochgewuchtet. Laugenspeckschnecken, Osterhasen, Nusshörnchen werden belegt, bestrichen, bestreut. Eine Helferin schält Äpfel. Zwei Konditorinnen rühren, mischen, mixen. Ich habe mir einen Kaffee erbeutet. „Vorsicht!“ Nur wohin? Vor mir setzt ein Geselle den Teig für das Weizen-Kürbis-Vollkornbrot für den nächsten Tag an. „Wo ist der Teig für das italienische Weißbrot?“ Schlechte Stimmung? Chaos? Mitnichten! Sieht nur für Laien wie mich so aus. Jeder weiß hier, was zu tun ist. Ein sechsseitiger Produktionsplan gibt den Takt vor, zeigt, was nach der Nacht in welcher Stückzahl in der Theke und in den Tüten landen soll. „What’s love got to do with it?“ schmettert Tina Turner aus dem zugestaubten Lautsprecher in das leidenschaftliche Gelingen.

1.800 Laugenbrezeln täglich

6:12 Uhr. Wo ist der Meister? Steht mit zwei Kollegen an einer hölzernen Arbeitsfläche. Zwei weitere Mitarbeiter reichen ihnen aus einer Formmaschine längliche Teigrollen. Zwei strahlende, stolze Augen zeigen mir: Inklusion wird hier gelebt. Die Teigstücke werden links und rechts gerollt. Fix sind die original schwäbischen Laugenbrezeln gezwirbelt und geschnürt. 1.800 Stück landen hier täglich handgefertigt (!) auf dem Blech, flitzen durch die Laugendusche und werden mit Salz bestreut. „Samstags werden es auch mal 2.200, dann aber in der halben Zeit, da wir nur sechs Stunden geöffnet haben“, ruft mir Ingmar zu. „Vorsicht!“ Auf der Flucht vor den vollgepackten Blechen trete ich durchs Fliegengitter in den Hof nach draußen.

Die ersten Kunden stehen in der Morgensonne Schlange. 13 Minuten später orgelt der Backofen im Fertig-Alarm-Modus, spuckt braungebrannte Brezeln aus. Im Gang zwischen Backstube und Laden ist eine Frau dabei, die Laugenbrezeln an einer Art Kasten mit Gabel aufzuspießen. Der Meister sieht mein Fragezeichen. Lächelnd erklärt er mir: „Wir Schwaben mögen doch Butterbrezeln. Dieses Gerät hat uns ein Maschinenbauer ausgetüftelt. Per Knopfdruck landet der Aufstrich durch die dünnen Spitzen mit den Düsen im Gebäck.“ Jetzt grinse ich: Aufschneiden gespart mittels schwäbischem Tüftlergeist.

Was macht ein gutes Brötchen aus?

7:20 Uhr. Zeit für ein Süßstückchen und ein belegtes Baguettebrötchen. Ingmar sitzt mir im Büro gegenüber. „Kannst du Brötchen eigentlich noch sehen?“, frage ich. „Na klar! Das Backen ist für mich ein Abenteuerspielplatz. Die Selbstständigkeit gibt mir unglaublich viel.“ Den Spaß spürt man ihm beim Arbeiten und im Umgang mit seinen Mitarbeitern ab. Wir reden über Qualität. Das ist sein Leib- und Magenthema.

„Was macht ein gutes Brot, ein gutes Brötchen zu einem Qualitätsprodukt?“ Der 33-Jährige kommt ins Plaudern. „Es ist die Summe vieler Kleinigkeiten. Ein Teig braucht vor allem Zeit. Die Ruhezeit ist ein Gut, das sich kein Discounter leistet.“ Ein durchschnittliches Brötchen braucht in Krimmers Backstube drei Tage, um auf dem Frühstücksteller zu landen. Der angemachte Vorteig wird einen Tag später zum Hauptteig verarbeitet. „In den 24 Stunden Fermentierung werden die Giftstoffe abgebaut. Heraus kommt ein gereiftes, bekömmliches Produkt.“ Immer wieder geben Ernährungsberater Menschen mit der „Unverträglichkeits-Diagnose“ den Tipp: „Geh doch mal zu Krimmers!“

Backen braucht Zeit, Zeit, Zeit

8:27 Uhr. Ingmar prüft den Teig für den Nachschub an Vollkornbrötchen. „Nein, der Teig ist noch zu jung.“ Die Maschinen des Vorgängers wurden aussortiert, weil „ich mit der Hand das Grundprodukt, die Reife spüren will“. Seit einigen Jahren ist die Bäckerei als Biobetrieb zertifiziert. Backmischungen haben hier Hausverbot. Der leidenschaftliche Bäcker und sein Team setzen auf Transparenz und Regionalität bei Mehl und Eiern. Preise wie der „Top-Gründerpreis im Handwerk“ oder der „KfW-Gründerpreis“ ermutigen ihn auf dem eingeschlagenen Weg: „Menschen suchen gute Lebensmittel.“ Der Handwerksbetrieb mit seinem Jahresumsatz von 1,8 Millionen platzt aus allen Nähten. Der im Pfarrhaus eingeübte Glauben hilft ihm, mit dem Druck, den vielen Erwartungen und Wünschen klarzukommen, bei der Wahrheit zu bleiben. „Mein christlicher Glaube ist meine Basis. Er hilft mir, alles hier immer wieder ins richtige Verhältnis zu setzen, mich nicht zu wichtig zu nehmen. Wir lehnen immer mal wieder Aufträge, eine Filialisierung ab, weil Wachstum nicht alles ist, obwohl das Unternehmerherz in mir hier und dort auch mal zusammenzuckt.“

„Vorsicht!“ Drei Kuchen fliegen an mir vorüber. Krimmer springt einem Kollegen bei, der Hasen bepinselt. Der Backofen nervt schon wieder. Eine Schüssel wird gespült. Der 33-Jährige nimmt einen Besen in die Hand. „Bäckerei gelingt nur im Team. Jeder hilft hier jedem.“

Ausufernde Bürokratie

9:13 Uhr. Feierabend. Fast. Übergabe an den Tagschichtleiter. Jetzt gibt’s gleich Frühstück mit der Familie. Danach geht’s für zwei Stunden ins Bett, um sich dann den Kindern (0, 4 und 8), dem Häuslebau, dem Laufen und dem Podcast zum Thema „Backen“ zu widmen. Vor den vollgepackten Ladenregalen hake ich nach: Was ist die größte Herausforderung? „Jedenfalls nicht das Backen!“ Wir lachen. „Die ausufernde Bürokratie. Der Familie gerecht zu werden, man selbst zu bleiben, ein gutes Verhältnis zu den Mitarbeitern zu haben. Leute mitzunehmen, ihnen zum Blühen zu verhelfen, delegieren zu lernen, nicht auf regelmäßiges Coaching zu verzichten.“

19:45 Uhr. Es dämmert. Ich räume den Abendbrottisch ab. Der leer gefutterte Brotkorb zaubert mir ein Grinsen ins Gesicht. Ich ahne: Der Volksmund „Pfarrers Kinder, Müllers Vieh geraten selten oder nie“ hat noch nie die Theke von Krimmers Backstube geplündert.

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. Nach dem Geschmackserlebnis bedauern seine Familie und die Nachbarn, dass Krimmers Backstube 415 km entfernt liegt.

Die Backstube ist im Netz unter krimmers-backstub.de zu finden.