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Michael Blume (Foto: SCM Bundes-Verlag / MOVO / Rüdiger Jope)

„Jedes Leben zählt!“: Der Mann, der 1.000 Menschen rettete

Michael Blume hat 1.000 jesidischen Frauen und Kindern geholfen, aus dem Nordirak zu fliehen. Wie kam es dazu?

Herr Blume, am 23. Dezember 2014 bekamen Sie aus dem Auswärtigen Amt und dem Innenministerium in Berlin „gelbes Licht“ für welche Aktion?

Michael Blume: Das Land Baden-Württemberg dürfe 1.000 jesidische Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufnehmen, die sich auf der Flucht vor dem IS befanden. Allerdings war es nur „gelbes Licht“, weil die sagten: „Wir spielen doch nicht den Buhmann und verbieten eine humanitäre Aktion. Macht es, aber bitte auf eigene Verantwortung und auf eigenes Risiko!“

Welche Frage stellte Ihnen Ministerpräsident Winfried Kretschmann daraufhin?

Blume: Er fragte mich: „Würden Sie es denn machen, Herr Blume?“

Sie kamen sich vor wie im Film „Schindlers Liste“. Sie besprachen diesen wahnsinnigen Auftrag mit Ihrer Frau. Sie schaut Ihnen in die Augen und sagt?

Blume: Meine Frau ist Muslimin. Sie schämte sich sehr, was der IS im Namen ihres Glaubens da im Irak anrichtet. Sie brach in Tränen aus, sagte dann aber: „Wir glauben beide, dass Gott uns einmal fragen wird, was wir mit den Elenden vor unserer Tür gemacht haben. Michael, mach es! Jedes Leben zählt!“ Wir hatten drei kleine Kinder. Sie hat die 14 Dienstreisen über 13 Monate in den gefährlichen Irak mitgetragen.

Waren Sie schon immer so ein tapferer und cooler Mann?

Blume: (schmunzelt) Nein! (lacht) Ich war für Mädels nicht cool, nicht chic, nicht so richtig vorzeigbar. Meine Familie stammt aus der ehemaligen DDR. Mein Vater hat Stasihaft und Folter erlitten. Ich bin daher mit einer tiefen Dankbarkeit gegenüber unserem Rechtsstaat und den Menschenrechten aufgewachsen. Dazu kam, dass ich als Jugendlicher einen Sinn im christlichen Glauben gefunden habe. Die glückliche Beziehung mit meiner Frau hat mich zum Mann reifen lassen.

„Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können“

Was hat Ihnen geholfen, Ihr Potenzial zu entfalten?

Blume: (spontan) Unbedingt geliebt, ein Kind Gottes zu sein, aber eben auch das Wissen und die Erfahrung: Ich bin nicht unfehlbar, ich darf auch scheitern. Der Rückhalt meiner Frau, die mir in dieser schwierigen Entscheidung vermittelt hat: Es lohnt sich, sein Bestes zu geben. Sie hatte verstanden: Hätte ich im Blick auf die Not dieser Frauen und Kinder Nein gesagt, hätte ich mich nie wieder im Spiegel anschauen können.

Sie retteten mit einem kleinen Team über 1.000 Jesidinnen das Leben. Sie setzen sich ein für Geschundene, Geflüchtete … Ist dies in Ihrer DNA angelegt, weil Ihr Vater in der DDR im Knast saß, Ihre Eltern aus der DDR flüchten mussten?

Blume: Unbedingt. Als Jugendlicher habe ich eine große Politikverdrossenheit um mich herum erlebt. Dies hat mich unglaublich geärgert. Wir Menschen, die wir im Wohlstand und in Freiheit aufwachsen, tendieren leicht dazu, dies zu verachten, nicht mehr wertzuschätzen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir in einer Demokratie leben, dass wir Menschenrechte haben, dass Mädchen die Schule besuchen dürfen und Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Dafür sollten wir kämpfen! Mein Vater hat Folter ertragen, weil er wollte, dass seine Kinder einmal in Freiheit aufwachsen. Wer bin ich, der ich dieses Geschenk der Freiheit wegwerfen würde oder anderen vorenthalte?

Nadia Murad, eine der Jesidinnen, die Sie gerettet haben, erhielt im Dezember 2018 den Friedensnobelpreis. Welches Gefühl löste dies in Ihnen aus?

Blume: Ich war mit Ministerpräsident Kretschmann bei der Verleihung in Oslo dabei. Das war sehr bewegend. Nadia selber war zuerst gar nicht so glücklich darüber, weil ihr damit klar war: Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückziehen, jetzt muss ich ein Leben lang eine öffentliche Rolle einnehmen. Sie, diese tapfere Frau, hat dieses Geschenk, aber eben auch diese Herausforderung dann angenommen und der freien Welt signalisiert: Frauenrechte sind nicht selbstverständlich und gerade wir Männer sollten dafür einstehen.

Beinahe-Antisemitismus-Skandal: „Das wird eine heftige Geschichte“

Sie brechen als junger Mann ein Volkswirtschaftsstudium ab, um Religionswissenschaften zu studieren. Mit einem Aufsatz über Ihre Biografie als „Wossi“ gewinnen Sie einen Preis. Die Stuttgarter Zeitung veröffentlicht einen Artikel über Sie. Diesen Beitrag liest …?

Blume: (lacht) … Staatsminister Christoph Palmer. Ich hatte damals einen Beitrag zum Thema „Heimat und Identität“ eingereicht. Damit gewann ich einen Preis als einziger Deutscher ohne Migrationshintergrund, wenn wir die DDR nicht mitzählen. Palmer hat mich dann von der Universität direkt ins Staatsministerium geholt.

Am 11. April 2007 sagte der damalige württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger in Freiburg auf der Beerdigung von Hans Filbinger, einem seiner Vorgänger, den Satz: „Filbinger war kein Nationalsozialist. Es gibt kein Urteil von ihm [Anm.d.Red.: Er war NS-Marinerichter], durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte.“ Warum wurde Ihnen da mulmig?

Blume: An der Rede war ich nicht beteiligt. Als ich sie hinterher hörte – heute würde sie ja sofort im Internet stehen –, war klar: Das wird eine heftige Geschichte. Diese Aussage könnte ihn sein Amt kosten. Man soll ja über Verstorbene nichts Böses sagen, aber hier war eine Grenze überschritten worden, eine Umdeutung passiert. Unbestrittene Tatsache ist: Filbinger hat noch in den letzten Kriegstagen Menschen zum Tode verurteilt.

Wie haben Sie die politische Kuh vom sprichwörtlichen Eis bekommen?

Blume: Ich habe Günther Oettinger geraten, den Vorwärtsgang einzulegen, nicht darauf zu warten, dass die medialen Rücktrittsforderungen abebben. Wir sind zur jüdischen Gemeinde Stuttgart gefahren, haben mit dem Zentralrat der Juden direkt gesprochen. Die jüdischen Gemeinden wussten, dass Oettinger ein feiner Kerl und kein Antisemit ist, aber die mediale Dynamik hätte alle zermalmen können. Der Ministerpräsident bedauerte den Fehler, die jüdische Gemeinde zog die Rücktrittsforderung zurück.

Und Sie bekamen ein Dankeschön der Kanzlerin?

Blume: (lacht) Sie haben sich aber gut informiert! Ja. Angela Merkel rief Günther Oettinger über mein Handy an. Ich konnte meinen Teil tun.

Sie sind Mitglied der CDU. Was bedeutet Ihnen das C? Und wie kam es dazu, dass Sie für eine Landesregierung arbeiten, in der die Grünen am Ruder sind?

Blume: Das Christliche ist mir zentral wichtig. Auch als Entlastung von Politik, weil sie nicht versuchen sollte, ein Paradies auf Erden zu schaffen. Ministerpräsident Kretschmann hat ein Faible für das C. Das verbindet uns. Als er gewählt und sein Vorgänger Stefan Mappus abgewählt war, fragte er mich, ob ich trotzdem bleiben würde. Ich sagte ihm zu, wenn er die zwei Mitarbeiterinnen mit übernehmen würde, die für mich bis dahin gearbeitet haben. Er hat seinen Teil eingehalten und ich den meinen. Wir arbeiten bis heute sehr vertrauensvoll zusammen. Ich stelle immer wieder fest: Viele Grüne schätzen es, wenn sie mit einem Christdemokraten zu tun haben, der sein Parteibuch nicht taktisch versteckt, wenn es der Karriere schädlich sein könnte, sondern zu seinen Werten steht.

„Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer“

Sie sind heute Antisemitismusbeauftragter. Wie würden Sie einem Kind diesen Beruf erklären?

Blume: Das Judentum war die erste Religion, die mit dem Alphabet geschrieben hat. Deshalb denken viele Menschen, dass die Juden besonders schlau seien und die Welt kontrollieren. Ich würde dem Kind dann sagen: Niemand kontrolliert die Welt außer Gott. Ich gewinne Menschen dafür, sich zu bilden und zu lernen und keinen Hass auf eine Gruppe oder Religion zu haben.

Was ist Antisemitismus?

Blume: Antisemitismus ist eine Form von Menschenfeindlichkeit, die immer mit Verschwörungsmythen verbunden ist. Im Antisemitismus wird behauptet, Juden seien besonders schlau, reich und mächtig. Antisemiten glauben immer, sie seien Opfer. Sie sind deshalb auch zur Radikalisierung und Gewalt bereit.

Warum trifft es durch die Jahrhunderte und viele Kulturen hindurch immer wieder die Juden?

Blume: Weil sie die erste Religion der Schrift waren. Im ersten Buch Mose heißt es: Der Mensch sei im Bilde Gottes geschaffen. Daraus entsteht der Begriff der Bildung, der unsere europäische Kultur entscheidend geprägt hat. Die Idee, dass wir einmal in einer Welt leben, in der jedes Mädchen, jeder Junge lesen und schreiben kann, entstammt dem Judentum. Deshalb konnte der zwölfjährige Handwerkersohn Jesus drei Tage im Tempel mit den Schriftgelehrten diskutieren.

„Bekämpft Antisemitismus für eure eigene Zukunft!“

Ist Antisemitismus mehr als Hass auf Juden?

Blume: Rabbiner Lord Jonathan Sacks formulierte es so: „Dieser Hass beginnt immer bei den Juden, endet aber nie bei ihnen.“ Er setzte sich im Dritten Reich bei den Sinti und Roma oder den Homosexuellen fort. Im Islamischen Staat setzte sich dieser Hass gegen Jesiden, Wissenschaftler und Journalisten fort. Ich sage daher: Bitte bekämpft den Antisemitismus nicht nur den jüdischen Menschen zuliebe, sondern für eure eigene Zukunft! Wer glaubt, dass die Gesellschaft von der Verschwörung gesteuert wird, ist zur Demokratie nicht mehr in der Lage.

Es heißt, der Antisemitismus in Deutschland nehme wieder zu. Ist dies auch Ihre Feststellung?

Blume: Jein. Nach allen Daten, die uns vorliegen, nimmt die Zahl der Antisemiten weiter ab. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Die Menschen, die antisemitisch agieren, haben aber das Internet, und damit nimmt ihre Radikalisierung und Gewaltbereitschaft zu.

Was können wir gegen Antisemitismus tun?

Blume: Wir sind gefragt, zuzugeben, dass wir nicht alles wissen. Verschwörungsmythen geben eine scheinbar einfache Erklärung. Wenn ich sage, diese Verschwörer sind schuld, habe ich eine vermeintliche Erklärung für COVID-19, die Klimakrise, den Krieg in der Ukraine. Stattdessen zu sagen: Ich weiß, dass wir Männer die Wahrheit nicht mehr besitzen, sondern Unsicherheiten aushalten müssen – diese Stärke wünsche ich mir von uns Männern. Lebenslange Bildung macht uns stark gegen Antisemitismus.

Wann haben Sie als Beauftragter einen guten Job gemacht?

Blume: Wenn ich eingeladen werde, Menschen an diesem Thema Interesse zeigen, ich dafür sorgen kann, dass Menschen gar nicht erst zu Antisemiten werden. Jede Seele zählt.

„Die vernünftige Mitte bricht zusammen“

Sie differenzieren zwischen Verschwörungsmythen und Verschwörungstheorien. Warum?

Blume: Theorie ist ein Begriff aus der Wissenschaft. Verschwörungsmythen wollen nur Schuldige benennen. Das waren im Mittelalter die Hexen, heute werden die Zugewanderten als Invasoren betrachtet oder man wirft Frauen vor, dass sie für niedrige Geburtenraten sorgen. Wir müssen ertragen, dass sich die Welt nicht in gute und böse Gruppen spalten lässt, dass wir herausgefordert sind, das Böse in uns zu bekämpfen.

Warum haben Verschwörungsmythen und Fake News derzeit so Hochkonjunktur?

Blume: Immer dann, wenn neue Medien auftreten, haben wir eine Explosion von Verschwörungsmythen. Der Hexenwahn war nicht im vermeintlich finsteren Mittelalter, sondern fand vom 15. bis zum 18. Jahrhundert statt. Heute werden in 44 Ländern der Erde Frauen als Hexen verfolgt. Immer dann, wenn neue Medien wie Buchdruck oder elektronische Medien an Bedeutung gewinnen, ergeben sich unendliche neue Chancen für Bildung, aber es tauchen eben auch wieder alte Vorwürfe auf. Das erleben wir gerade mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit.

Sehen Sie einen Zusammenhang von zurückgehenden Kirchenmitgliedszahlen, einem schwindenden Glauben in der Gesellschaft und einer Zunahme von Mythen?

Blume: Ja. Unbedingt. Wir erleben leider in allen Religionen das Phänomen, dass die vernünftige Mitte zusammenbricht. Es wird die Religionslosigkeit propagiert. Es gibt immer mehr säkulare Menschen. Diese stehen den religiösen Dualisten gegenüber, die sich gegen den sogenannten Mainstream mit Verschwörungsmythen abgrenzen. Die vernünftige Mitte zerbröselt. Das ist der Teil, der mir am meisten Sorgen macht.

Blume geht gerichtlich gegen Hassnachrichten vor

Sind Männer anfälliger für Verschwörungsmythen als Frauen?

Blume: Ja! Bei Männern sehen wir öfter ein kämpferisches Weltbild. Da herrscht die Stimmung vor: Ich zerschlage jetzt die Verschwörer, wenn es sein muss auch mit Gewalt. Dies kickt vor allem jüngere Männer. Darin lassen sie sich dann gerne von älteren Männern bestätigen. Von daher sage ich, auch als ehemaliger Soldat: Liebe Mitmänner, die eigentlichen Helden stellen sich erst einmal ehrlich den Abgründen der eigenen Seele.

KI in Form von ChatGPT & Co. bringt nochmals eine ganz neue Herausforderung in puncto Fake News mit. Was wird in Zukunft wichtig(er) werden? Wie können wir Mythen oder Fake News entzaubern?

Blume: ChatGPT ist ein Werkzeug, welches unsere gesamte Welt verändern wird. Wir werden zukünftig mehrere KIs nutzen. Ob wir es wollen oder nicht, KI wird ein Teil unserer Mitwelt. Sie wird uns selbst verändern, wie uns auch das Smartphone verändert hat. Mein Ratschlag lautet: Mitmachen, aber auch nachdenken, was wir da eigentlich tun!

Hassnachrichten gehören zu Ihrem Tagesgeschäft. Wie gehen Sie damit um?

Blume: Am Anfang habe ich sie einfach ignoriert. Doch dann richteten sie sich gegen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und vor allem gegen meine Familie. Seitdem wehre ich mich auch gerichtlich.

Sie klagen gegen Twitter. Warum?

Blume: Viele Bürger haben gar nicht die Möglichkeit, gegen diesen Giganten vorzugehen. Das ist unglaublich teuer. Stellvertretend für die Menschen streite ich daher gemeinsam mit HateAid. Ich will nicht den Hass im Internet bejammern, sondern mich auch hinstellen und den Hetzern und Trollen die Stirn bieten! Es hat mich Überwindung gekostet, im Regierungskabinett solch eine an mich adressierte Hassnachricht vorzulesen.

Was ist der aktuelle Stand der Klage?

Blume: Twitter vertritt die Auffassung, dass die gesendete Hassnachricht gelöscht werden kann, doch die Kläger sollen jede einzelne Hassnachricht neu melden. Wir halten dagegen und haben vom Landgericht Frankfurt/Main Recht gesprochen bekommen, dass Twitter kerngleiche Inhalte selbst löschen muss. Wenn also gegen eine Person eine Kampagne läuft, ist Twitter gefordert, löschend einzuschreiten. Twitter kann sich nicht zurücklehnen nach dem Motto: Meldet es und wir schauen dann mal. Twitter wehrt sich sehr dagegen …

„Jede Religion kann man liebevoll oder auch feindselig leben“

Was ängstigt Sie? Was macht Ihnen Hoffnung?

Blume: Mich treibt die Sorge um, dass die Klimakrise zur Wasserkrise wird. Ich habe im Irak gesehen, wie ein Staat zerfällt, wenn es nicht mehr genügend Wasser für alle gibt. Wasser ist ein mächtigeres Element als Öl. Es ist übrigens auch das erste Element, welches in der Bibel genannt wird, noch vor dem Licht! Es werden immer weniger Teile der Erde bewohnbar sein. Ich bin überzeugt: Wir werden die Krise meistern, aber die vor uns liegenden Jahre werden hart. Es geht ums Überleben in unserer Mitwelt. Dafür braucht es Frauen und Männer, die über sich hinauswachsen.

Sie sind atheistisch aufgewachsen, haben dann zum christlichen Glauben gefunden. Was hat Sie überzeugt?

Blume: Ich war politisch sehr aktiv. Im Angesicht der Hungerkatastrophe in Somalia stellte ich als junger Mensch fest: Es gelingt uns trotz allem Engagement nicht, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Das brachte mich in eine Sinnkrise. Und in dieser frustrierenden Situation hat Gott mich aufgefangen und angesprochen in dem Sinne: Michael, wenn du tust, was du kannst, ist das genug. Du bist unendlich geliebt! Das hat mich unglaublich entlastet und bewahrt mich davor, mich selbst zu überfordern.

Sie und Ihre Frau entstammen einer Arbeiterfamilie. Sie sind ein glückliches Paar. Was sagen Sie Menschen, die Christen vor allem als Kreuzritter und Kolonisatoren und Muslime als Machos und Terroristen sehen?

Blume: Jede Religion kann man liebevoll oder auch dualistisch, feindselig, extremistisch leben. Das gilt fürs Christentum, den Islam und jede andere Glaubensrichtung. Zehra und ich haben jetzt unsere silberne Hochzeit gefeiert. Wir sind sehr glücklich miteinander. Wir haben drei gemeinsame Kinder, die sich in der evangelischen Kirche engagieren. Meiner Auffassung nach sollte sich Religion niemals gegen die Liebe stellen, sondern sie immer unterstützen.

Infolge der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie, des Krieges in der Ukraine erleben wir eine starke Polarisierung der Gesellschaft. Wie geht es weiter? Was ist Ihre Prognose?

Blume: Wir alle stehen vor der Charakterfrage. Gerade auch wir Männer. Große Teile der Welt werden unbewohnbar werden. Es wird sogenannte Archeregionen geben, in denen Menschen überleben können. Wir alle stehen da vor der Herausforderung, die Menschen zu beschützen, die uns anvertraut sind, aber eben auch ein großes Herz gegenüber denen an den Tag zu legen, die bei uns Schutz suchen. Dies wird die Herausforderung des 21. Jahrhunderts werden. Sind wir Männer fähig, echte Partner zu sein, zu lieben statt zu hassen? Das wird die Aufgabe von uns Männern sein!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Heißer Lesetipp für den Sommer:

„Eine Blume für Zehra – Liebe bis zu den Pforten der Hölle“ (bene!) Andreas Malessa erzählt eindrücklich die Liebes- und Familiengeschichte von Blumes. Ein packendes Stück deutscher Geschichte im Kleinformat.

Symbolbild: andresr / E+ / Getty Images

Für ungehemmten Sex: Warum sich Sterilisation beim Mann lohnt

Heiko Kienbaum und seine Frau haben genug vom „Nachwuchsroulette“ und wollen wieder sorglos den Sex genießen. Die Lösung: Heiko lässt sich sterilisieren.

„Zum Goldenen Horn” – allein der Straßenname löst in mir noch heute einen Schmunzler aus. Das Wissen, dass dies die Adresse eines Urologen mit Spezialisierung auf „Vasektomie“, also Sterilisation des Mannes, ist, gibt dem Straßennamen nochmal eine süffisante Note, wie ich finde. In wenigen Minuten betrete ich die urologische Praxis im Süden von Berlin. Überall an den Wänden hängen humoristische Illustrationen zu den Themen „Mannsein” und gelebte Männlichkeit. Bei den Zeitungen finden sich „Men’s Health-Gesundheitsmagazine”, Barbecue-Grill-Magazine mit wirklich fleischigen Gourmettipps, Outdoor- und Karrierehefte komplettieren das Literaturangebot. Hier weiß wohl jemand, was wahre Männer lesen.

Bin ich jetzt noch ganz Mann?

Normalerweise ist das alles nicht ungewöhnlich, aber für mich in diesem Moment schon. Es fühlt sich für mich an, als würde mir nochmal so kurz, bevor es losgeht, das „echte” Mannsein präsentiert, bevor dann „Dr. Schnipp Schnapp” sein Skalpell an meinen Sack anlegt und das alte Leben abschneidet bzw. durchtrennt. Mir wird mulmig zumute. So ein Quatsch, antwortet mein „Verstand” in Richtung meines „Gefühls” und konstatiert übertrieben selbstbewusst: „Das Durchschneiden zweier Samenleiter ändert nichts, aber rein gar nichts an meiner Männlichkeit.” Das Gefühl flüstert und fragt zurück: „Und was, wenn doch? Dann ist’s zu spät, einmal schnipp und die Nummer ist durch. Danach isst du nur noch vegan und trinkst den ganzen Tag Decaf Latte Macchiato mit Hafermilch. Das, was dich als Mann ausmacht, deine ‚Identität‘, deine ‚Fruchtbarkeit‘ ist erledigt. Willst du das wirklich?”

Während ich noch in dem Gedanken verharre, springt die Tür vom Wartezimmer auf und ein dynamischer End-50er-Herr im weißen Kittel kommt mir entgegen. „Herr Kienbaum”, tönt er, „schön, dass Sie da sind. Na dann wollen wir mal, bevor man sich dit anders überlegt, wa?” Äh, stimmt. „Ich komme”, antworte ich etwas zurückhaltender.

Die Überlegungen zur Vasektomie gab es wirklich nicht erst seit gestern. Immer wieder gab es zwischen mir und meiner Frau die Frage, wie das Thema Familienplanung nach der Geburt unserer drei Kids so ganz praktisch für uns in Zukunft aussehen sollte. Ich erinnere mich noch gut, wie oft dieses Thema für uns und unsere Freunde eine Art „Running Gag” war, wenn wir uns trafen und wieder mal miteinander folgenden Satz teilten: „Hui, diesmal, also, könnte es aber wieder knapp gewesen sein …“ „Ah echt, bei euch auch?“ „Schließt doch mal ein Schwangerschaftstest-Abo ab.“ Danke für den Tipp, Freunde.

Sex ohne Hormone und Kondome

Irgendwann nervte das Thema „Was ist, wenn nochmal (ungeplanter) Nachwuchs kommt?” so sehr, dass eine Entscheidung hermusste. Die Fragen, die uns beschäftigten, waren vielschichtig: War unsere Nachwuchsplanung abgeschlossen oder wollten wir nicht doch nochmal den Zauber eines neugeborenen Kindes erleben? Unsere Tochter wünschte sich doch auch noch eine jüngere Schwester … Und was ist eigentlich mit der Glaubensebene? Etwas evangelikal geprägt war das durchaus eine Frage, ob man(n) sozusagen so drastisch in das Thema „Fruchtbarkeit“ eingreifen darf?! Stück für Stück merkten wir, dass wir als Familie und als Paar mit unseren Lebensplänen nicht mehr in Richtung Familienvergrößerung dachten, und so entschieden wir dankbar, dass wir unseren Lebensfokus auf andere Dinge als eine nochmalige Kleinkindphase legen wollten. Und ja, natürlich war auch Sex ein Thema. Wir spürten auch, wie uns die Unklarheit in dieser Entscheidung in diesem Bereich hemmte. Noch ein Grund zu handeln. Denn die hormonelle Behandlung bei der Frau schied aus. Kondom? Diese Entscheidung haben wir dann schon beim nächsten Mal bereut.

Die innerliche und dann auch physische Checkliste für mich und für uns wurde immer klarer:

Auf Sex ab Ende 30 verzichten: Nein.

Warten mit dem Sex, bis meine Frau in der Menopause ist (puh, könnte lang werden, sie war damals 36): Nein.

Frau soll Hormone schlucken, sich diese unter die Haut ballern oder Gerätschaften in die Gebärmutter einsetzen lassen (irgendwie wollte ich das auch nicht – und sie auch nicht, also): Nein.

Frau sterilisieren lassen – denkbar, aber nicht unaufwendig: Nein.

Mann sterilisieren lassen – viel einfacher, warum nicht?: Ja!

Gamechanger im Freundeskreis

Echt jetzt, als Mann sterilisieren lassen? Wer macht denn sowas? Ich weitete meinen Blick. Kenne ich jemanden, der das gemacht hat? Kenne ich jemanden, den das auch betreffen könnte? Der Gedanke war für mich ein Gamechanger in dem Spiel „Nachwuchsroulette”. Ich fragte rum in unserem Freundeskreis und siehe da, die Mehrheit in unserem Umfeld in der Lebensphase zwischen Mitte 30 bis Anfang 40 inklusive ein bis vier Kinder beschäftigen sich genau mit diesem Thema! Es war auf einmal gar kein Tabuthema mehr. Von daher: Redet mit euren Freunden über dieses Thema. Unsere Gespräche waren so unfassbar erfrischend. Was haben wir über die gleichen „Herausforderungen” miteinander gelacht!

„Ich kann’s auch mit verbundenen Augen, soll ich? Herr Kienbaum?” „Dr. Pullermann” steht vor mir mit einer kleinen Betäubungskanone, wenige Zentimeter von meinem Gemächt entfernt. „Machen Sie sich keine Sorgen”, so der Dr. weiter, „ich habe das über 10.000 mal durchgeführt, ich kann so einen Samenleiter zwei Meter entfernt, mit verbundenen Augen und leicht angetütert sauber durchtrennen.” Ich wollte immer wissen, wo meine persönliche Humorgrenze angesetzt ist – hier war sie erreicht und ich antwortete recht zurückhaltend, dass es mir lieber wäre, er würde auf Nummer sicher gehen. Keine 30 Minuten später war der Spuk vorbei und ich stand mit hochgezogener und geschlossener Hose, etwas wackelig und breitbeinig wieder auf der Straße und machte mich auf den Weg zu meinem Auto. Als Abschiedsgruß des Dr. hatte ich noch im Ohr: „Herr Kienbaum, uffm Rückweg holen sich zwee schöne kalte Flaschen Pils, eine für in den Körper und eine für an den Körper, und schonen Sie sich ein paar Tage. Und vergessen Sie nicht nach 30 Ejakulationen zur Nachkontrolle ’ne Probe abzugeben. Erst dann kriegen Sie ’ne Freigabe von mir. Melden Sie sich, wenn was ist, hier ist meine Nummer.”

Den restlichen Tag verbrachte ich mit Kühlpacks auf der Hängematte am Balkon mit Blick auf die Spitze des Berliner Fernsehturms. Apropos Spitze, richtig spitze und so richtig männlich war das Gefühl danach: Nämlich das Thema „Familienplanung” in Abstimmung mit meiner Frau total konstruktiv und in Eigenverantwortung übernommen und einen Weg gewählt zu haben, der für alle Beteiligten passt und sinnvoll erscheint. Danke an dieser Stelle an meinen Special Doc aus Berlin. Er ist ein Meister seines Fachs und der etwas derbe Berliner Humor hat mir sehr gutgetan. Ich gehöre zur Gattung Mann, die schon bei kleinsten Schmerzen heult und jammert (siehe Männergrippe und Zahnarzt), aber das Kopfkino vor dem Eingriff war um ein Vielfaches schlimmer als in der Realität.

Nicht schlimmer als die Männergrippe

Da wir jetzt schon (fast) Fachleute von „Samenleiterdurchtrennungen” sind: Meine gewählte Methode war die sogenannte „Non Skalpell Methode”. Vergnügungssteuerpflichtig ist die ganze Sache natürlich nicht. Mit ein paar Tagen ziehendem Schmerz in der Leistengegend und Druckempfindlichkeit der Hoden müsst ihr rechnen. Aber wer schon mal ’ne Männergrippe überstanden hat, wird hieran nicht verzweifeln. Versprochen! Mein Tipp an jeden Mann: Zieht diese Form der Verhütung ernsthaft in Betracht, lasst euch darauf ein, einmal komplett vorbehaltlos von Gesellschafts-, Gender- oder religiösen Rollenbildern darüber nachzudenken, und – ganz wichtig! – sucht euch einen Arzt und eine Durchführungsmethode, die zu euch passen. Und wenn Kopf und Herz dann zusammen unterwegs sind, dann zieht es durch, am besten gemeinsam im Freundeskreis, und danach: Feiert das Leben und genießt diese neue Art der Sexualität. Es lohnt sich! Und es hat meiner männlichen Identität keinen Abbruch getan.

Heiko Kienbaum ist Autor von „Was Paare glücklich macht”. Zusammen leiten er und seine Frau das C-STAB Werte-Netzwerk für christliche Therapeut:innen, Berater:innen und Seelsorger:innen und Coaches. c-stab.net

Weiterführende Quellen:

  • quarks.de/gesundheit/medizin/das-solltest-ueber-eine-vasektomie-wissen/
  • vasektomie-experten.de
  • vasektomie-experten.ch
Symbolbild: Deagreez / iStock / Getty Images Plus

Kein Arschloch mehr: So bekam ich meinen Narzissmus in den Griff

Coach Michael Stief ist Narzisst. Die Konfrontation mit einem anderen Narzissten lässt ihn Hilfe suchen. Sein Kniff: Mit Sprache das Ego verkleinern.

„I am Iron Man!“ Diese Worte aus dem Mund von Robert Downey Jr. bilden den Rahmen für die Heldenreise seine Filmfigur, dem selbstverliebten Industriellen und Playboy Tony Stark. Am Ende opfert er sogar sein Leben, um das Universum vor dem Titanen Thanos zu retten, und beweist so, dass er nicht nur ein Riesen-Ego hat, sondern auch ein Herz. Genau genommen ist dies aber nur eine halbe Läuterung, denn grandioser könnte kaum ein Abgang sein. Der Held mit dem aufgeblasenen Ego ist damit das perfekte Beispiel für einen Narzissten.

Die Narzissmus-Falle

Die Story von Iron Man Tony Stark zeigt, wie der Weg aus der Narzissmus-Falle aussehen kann. Denn eine Falle ist es, für die Menschen in seinem Umfeld (die Mehrzeit der Narzissten ist tatsächlich männlich) und den Narzissten selbst. Das habe ich erfahren, da ich selbst an dieser Störung leide. Was unterscheidet nervige Alltags-Egoisten von krankhaft bösartigen Narzissten? Das amerikanische Diagnose-Handbuch DSM-5 listet neun Kriterien für eine solide Diagnose.

Narzissten sind arrogant, empathielos und neidisch. Sie sind eingenommen von Ihrer eigenen Einzigartigkeit und Wichtigkeit sowie von Ideen von Macht, Erfolg und Grandiosität. Sie glauben einen Anspruch auf Bewunderung und Privilegien zu besitzen und verhalten sich dank ihres Charmes und einem hohen, aber zu nichts verpflichtendem Einfühlungsvermögen ausbeuterisch in privaten und beruflichen Beziehungen.

Narzissten verstecken alles Schwache

Das verweist auf einen weiteren Aspekt, ein eigentlich schwaches Selbst, das anfällig ist für eine „narzisstische Kränkung“, wenn ihm Bewunderung und Privilegien verweigert werden. Wie Iron Man bauen sich Narzissten im Laufe ihres Lebens einen Panzer aus den bunten und glänzenden Teilen eines Wunsch-Egos zusammen. So verstecken sie alles Schwache und Verletzliche in einem Panzer. Die rot-goldene Eisenrüstung von Tony Stark ist dafür ein einprägsames Bild.

Auch den Grund für die Spaltung in verletztes Selbst und glänzenden Panzer zeichnet die Geschichte der Filmfigur nach: Dessen Bedürfnis nach Liebe und Annahme, Gehört- und Gesehen werden bleibt ihm verwehrt. Dass sein Vater ihn liebt, erfährt er erst aus einem Super-8-Film statt aus dem Mund seines Vaters.

Wie die Macke beseitigen?

Normalerweise leidet statt des Narzissten dessen Umfeld. Ohne eigenen Leidensdruck ist der Weg zu Diagnose, Therapie oder gar Läuterung verstellt. Wenn aber das Leben den Panzer des Narzissten anschießt oder er am Mangel, der ihm eigentlich „zustehenden“ Bewunderung und Privilegien leidet, dann gibt es eine Chance auf Veränderung.

Meine Erkenntnis kam dann durch eine berufliche Konfrontation mit einem Narzissten. Alle Leiden, die ich bislang meist gefühlsblind meiner Umgebung zugefügt hatte, erfuhr ich nun am eigenen Leib. In diesem Konflikt bekam mein Ego schnell Löcher und die Verletzungen des schwachen Selbst ließen mich dann therapeutische Hilfe suchen. Damit begann ein Weg, diese Störung, zu verstehen und in kleinen Schritten zu bewältigen.

Wenn der Panzer einmal einen Riss bekommen hat, und das Licht der Erkenntnis in ihn hineindringt, stellt sich für uns Narzissten die Frage, wie wir diese Macke beseitigen. Da kann es dann zum Beispiel helfen, sich als Narzisst zu outen. Dabei entlastet die rheinländische Erkenntnis „Jeder Jeck ist anders, jeder ist anders Jeck und Jeck sind wir alle“. Wenn das Ego sich schon nicht zu luftigen Höhen der Einzigartigkeit aufschwingen kann, dann doch wenigstens nicht schlechter als der Rest sein. Ein kleiner Schritt, aber in die richtige Richtung.

„Gestatten ich bin ein (nettes) Arschloch“

Eine andere Möglichkeit wäre die titelgebende kokette Selbstoffenbarung aus dem Buch des Psychiaters und Bestseller-Autors Dr. Pablo Hagemeyer: „Gestatten ich bin ein (nettes) Arschloch“. Ich habe mir für diesen Zweck eine Plüschfigur zugelegt, einen Raben namens EGO, der nun künftig als Galionsfigur zum immer neuen Outings Anstoß gibt und hilft die Umgebung vorzuwarnen: „Ich habe einen Vogel und der heißt EGO und der macht manchmal einen Riesen-Scheiß“. Doch auch ohne den Vogel EGO kann der Narzisst sich outen, ohne sich zu identifizieren.

Mit Worten wie „Ich habe narzisstische Tendenzen“, „lebe mit einer narzisstischen Störung“, „habe eine narzisstische Diagnose“ oder gar „verhalte mich manchmal narzisstisch“ sind die anderen vorgewarnt, ohne die Störung als Schicksal anzunehmen. Die Wirksamkeit solcher abgrenzender, „dissoziativer“ Sprachmuster ist in der humanistischen Psychologie und dem daraus entstandenen neuro-linguistischen Programmieren seit langem bekannt.

Futter für das hungrige Selbst

Was aber hilft gegen das Leistungsprinzip „Schneller, höher, weiter“? Dieses Prinzip treibt den Narzissten innerlich zur permanenten Selbstoptimierung an, weil das eigentliche Selbst nicht gut genug, nie einfach liebenswert, nicht ohne Leistung existenzberechtigt ist.

Hier können Übungen aus der Positiven Psychologie helfen:

  • Dankbarkeit ist die Alternative zum beständigen neidvollen Vergleich und dem Drang besser zu werden oder der Beste zu sein. Sie hilft, das eigene Selbst und das Leben anzunehmen, wie es ist.
  • In einem „Selbst-Empathie-Brief“ die eigentlichen Gefühle in Worte zu fassen, nämlich Angst und Trauer oder Ablehnung, statt aus narzisstischer Kränkung, Scham und Wut zu explodieren.
  • Positive Zukunftsbilder, die im Hier und Jetzt und in konkreten Chancen verankert sind, helfen gegen grandiose Größenfantasien, hinter denen die Realität immer zurückbleibt.

Kurs aufs Du und auf Wir

„Ich, mich, meiner, mir – Gott segne uns vier“ heißt ein Spruch, der die Denkwelt des Narzissten auf den Punkt bringt. Sowohl im inneren Dialog als auch im Zwiegespräch mit anderen, dreht sich die Sprache des Narzissten um sein Ego.

Nun sind sich aber die moderne Sprachwissenschaft und die alten Traditionen einig, dass unsere Sprache unser Denken formt. Unsere Muttersprache und noch mehr unsere Eigensprache, in der wir Erfahrungen verarbeiten und denken.

Sprache prägt Denken

Schon im babylonischen Talmud, einem Kommentar zur jüdischen Bibel, findet sich der Satz „Achte auf Deine Gedanken, … denn sie werden Dein Charakter“. Dies bestätigt die amerikanisch-belarussische Sprachwissenschaftlerin Lera Boroditsky in ihrem TED-Vortrag „How Language Shapes the Way We Think“. Unsere Sprache prägt unser Denken. Mehr noch: Wie auf Bahngleisen lenkt sie in immer gleiche Richtungen.

So haben etwa die Thaayorre, eine Gemeinschaft von australischen Ureinwohnern, keine Worte für „links“ und „rechts“. Sie nutzen stattdessen die absoluten Himmelsrichtungen Norden, Süden, Osten und Westen. In der Konsequenz lernen die Thaayorre schon als Kinder, sich mit der Präzision eines Magnetkompasses verlässlich zu orientieren.

Wie hilft das dem Narzissten?

Nicht nur unser Verhalten, auch unsere Sprache ist ein Spiegel der Persönlichkeit und das gilt auch für die „einzigartigen“ Narzissten. Und zwar so ein so exakter Spiegel, dass mittlerweile sogar KI-Systeme Persönlichkeitsmerkmale an der Sprache erkennen können.

Neben klassischer Analyse und einschlägigen Büchern war es auch die schöpferische Macht der Sprache, die mir half, das mühsam konstruierte Ego immer öfter hintenanzustellen oder manchmal sogar zurückzulassen.

Mit der Sprache tricksen

Folgende sprachliche Tricks habe ich gefunden, um einen Keil in die Rüstung des Egos zu treiben und dessen Sprachspiel hin zum Du zu verändern. Über Monate habe ich alle Mails, die leider unterschiedslos zunächst mit „ich“ begannen, konsequent umgeschrieben: Hier ein „Du“ oder ein „Wir“ eingefügt, das „ich“ hintenangestellt, zu einem „mir“ abgemildert oder ganz gestrichen. Eine scheinbar kleine Übung in mitmenschlicher Fitness. Aber wie die Thaayorre uns lehren, auf die Dauer ändert sich die eigene Orientierung und das Erleben der Umgebung.

Auch der Verzicht auf jegliche Vergleiche und Superlative kann dem Narzissten helfen, Eifersucht und Geltungssucht in Schach zu halten. Dann sind Dinge oder Ereignisse eben nicht mehr „besser als“, „am besten“ oder auch nicht „perfekt“ oder „großartig“, sondern einfach gut. Und gut ist gut genug. Für den Narzissten eine bittere, aber heilsame Pille.

Auch die Suche nach sprachlichen Alternativen zu den narzisstischen Leitwerten kann helfen, das eigene Mindset zu ändern:

  • statt Einzigartigkeit – Menschlichkeit
  • statt Grandiosität – Realismus,
  • statt Geltungssucht – Selbstannahme,
  • statt Anspruchsdenken – geben und nehmen
  • statt Neid – Respekt
  • statt Arroganz – Neugier

So kann der Narzisst vor die üblichen egozentrischen Sprach- und Denkmuster ein Umleitungsschild aufstellen zu mehr menschlichem Maß. Dann gelingt vielleicht immer mehr die große Kehrtwende zu dem, was der kindliche Kern des Narzissten sich schon immer gewünscht hat, nämlich statt Anerkennung Annahme und Liebe zu bekommen.

Die Wunderfrage

Ein letztes sprachliches Mittel, den narzisstischen Größenwahn zu überwinden, haben mir meine Eltern mit meinem Namen in die Wiege gelegt. Wie jedes Namenslexikon zu berichten weiß, stammt der Name „Michael“ aus dem Hebräischen und bedeutet dort „Wer ist wie Gott?“. Unabhängig von der eigenen religiösen Musikalität, können wir Narzissten uns die Frage stellen, ob wir denn Gott sind?

Schon eine kurze Bestandsaufnahme bringt dann ans Licht, dass wir eben nicht allgegenwärtig, allmächtig oder allgütig sind. So steht immer wieder die niedrige Tür der Demut offen, die beiden, Narzissten und Nicht-Narzissten, das heilende menschliche Maß lehrt.

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Sven Hannawald springt Ski vor der Kulisse der Zugspitze. (Foto: Christof Stache)

Sven Hannawald: Skisprungheld stürzt vom Siegerpodest in die Depression

Nach seinem Triumph bei der Vierschanzentournee 2002 holt ein Burnout samt Depression den Skispringer Sven Hannawald ein. Wenn er nicht rechtzeitig in eine Klinik gegangen wäre, würde er heute nicht mehr leben, ist Hannawald überzeugt.

Hallo Sven, nach dem Absprung fliegt ein Skispringer etwa drei Sekunden durch die Luft. Beim Skifliegen sind es sogar acht Sekunden. Wie fühlt sich das an?

Beim Fliegen ist das Schwerelose so besonders. Als Skispringer lebt man den Traum des Menschen, fliegen zu können – ohne Motor. Wir spielen mit den Lüften, das ist unheimlich toll und speziell. Ich wollte immer so weit fliegen wie möglich.

Warst du glücklich, nachdem dein Kindheitstraum in Erfüllung ging und du alle vier Springen der Vierschanzentournee 2002 gewonnen hattest? Vor dir war das noch keinem anderen Skispringer gelungen.

Ich habe jahrelang auf das Ziel, die Tournee zu gewinnen, hingearbeitet. Es war erlösend und befreiend, es geschafft zu haben. Als Erster einen Vierfachsieg zu holen, war unglaublich. Schon als kleiner Junge hatte ich den Traum, die Tournee zu gewinnen. Im Nachhinein habe ich aber auch gemerkt, was ich dafür meinem Körper antun musste. Nachträglich würde ich trotzdem nichts ändern. Der Gewinn war mir wichtiger als eventuelle körperliche Probleme.

„Nach dem großen Erfolg war mir alles zu viel“

Zwei Jahre nach dem Gewinn der Vierschanzentournee und einer Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City 2002 hast du die Diagnose Burnout mit mittelschwerer Depression bekommen. Nach einer Behandlung in einer Spezialklinik hast du 2005 deine Karriere als Skispringer beendet. Wie kam es zu deinem Burnout und der Depression?

Ich bin sehr perfektionistisch und ehrgeizig. Nach einem Springen oder dem Krafttraining habe ich meinem Körper zwar physische Pausen gegeben, aber keine psychischen. Ich habe immer ans nächste Springen gedacht. Das war wichtig, um zu gewinnen, aber es gab keine Balance in meinem Leben. Nach dem großen Erfolg war mir alles zu viel und ich habe mich unheimlich schwergetan, weiter dranzubleiben. Mein Körper hatte dem Erfolg zu viel Tribut gezollt.

Mit welchen Symptomen haben sich der Burnout und die Depression geäußert?

Es hat mit Müdigkeit angefangen. Normalerweise schläft man und geht in den Urlaub, um sich zu erholen. Ich habe mich nach zwei Wochen Urlaub aber immer noch so gefühlt, wie zu dem Zeitpunkt, als ich in den Flieger gestiegen und hingeflogen bin.

Früher hatte ich schon zwei Tage nach Saisonende wieder ein inneres Feuer, mit dem Training anzufangen – um mir einen Vorsprung zu erarbeiten. Von Saison zu Saison wurde der Zeitraum immer größer, bis ich wieder das innere grüne Licht bekommen habe. Da war ich dann in einer mir selbst auferlegten Bringschuld: Eigentlich müsste ich mit dem Training anfangen, aber ich hatte noch gar keine Lust.

Mein „Ich muss jetzt trotzdem trainieren“-Anspruch hat eine Unruhe in mich reingebracht. Ich war komplett überfordert, weil die Unruhe und Abgeschlagenheit sich nicht zurückzogen. Wenn ich nach oder vor einem Wettbewerb in meinem gewünschten Einzelzimmer war und eigentlich meine Ruhe hatte, kam ich mit der inneren Unruhe nicht klar.

„Ich habe anderthalb Jahre lang alle möglichen Ärzte aufgesucht“

Wie bist du mit dieser Unruhe umgegangen?

Ich wurde kirre im Kopf, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, damit es mir endlich besser ging. Egal, was ich gemacht habe, es wurde nicht besser. Ich hatte gar nicht die Ruhe, mich auszuruhen. Stattdessen bin ich der Unruhe gefolgt und habe eher wieder mehr gemacht, um das Gefühl der Unruhe zu übergehen.

Dann habe ich mich einen Moment gut gefühlt, weil ich was gemacht habe. Der Frust war für kurze Zeit weg, aber ich war dann noch müder. Das war ein Kreislauf, der stetig nach unten ging. Ich habe dann anderthalb Jahre lang alle möglichen Ärzte aufgesucht und keiner hat was gefunden.

Nach dem Ärztemarathon bist du in einer Klinik gelandet. Den Komiker Torsten Sträter hat es viel Überwindung gekostet, sich in Therapie zu begeben. Bei dir scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Warum?

Das lag daran, dass ich aus dem Einzelsport komme. Ich wusste dementsprechend, dass ich zu 140 Prozent fit sein muss oder keine Chance auf einen Sieg habe. Meine damalige Verfassung hat nicht mal für den Continental Cup, also die zweite Liga, gereicht. Ich war 30 und mir war klar, dass ich noch maximal bis 33 Skispringen kann und mir somit die Zeit davonläuft. Deshalb wollte ich keine Zeit verschwenden und das Problem direkt lösen.

„Es war tränenreich“

Wie war es in der Klinik?

Viele sagen: „Oh, bloß keine Klinik! Ich hab ja keinen an der Klatsche!“ Aber ich habe das gleich so gesehen, dass die Klinik wirklich eine neutrale Oase ist, wo ich wieder den Boden unter die Füße bekommen kann. Ich hatte dort viele gute Gespräche, wo auch meine Gefühlsebene zur Sprache kam, die ich in meiner Skisprungkarriere lange wegdrücken musste.

In der Klinik konnte ich meinem Körper und meiner Seele das geben, was sie gebraucht haben – ohne Leistungsdenken. Es war tränenreich, aber hat sich unglaublich gut angefühlt. Nach fünf Wochen war ich wieder bereit für die große weite Welt. Ich habe mich wieder gespürt und Lust gehabt, etwas zu unternehmen. Es war neues, frisches Leben in mir.

Welchen Wert misst du Freundschaften im Kampf gegen Depressionen bei?

Es ist unheimlich wichtig, Vertrauenspersonen wie Freunde und Familie zu haben, denen man sich öffnen kann. Man hat oft das Gefühl, ein Verlierer des Lebens zu sein, was aber überhaupt nicht so ist. Dementsprechend sind enge Vertraute wichtig, die einem Rückhalt geben. Meistens ist das Umfeld aber überfordert damit, alles aufzufangen und in die richtige Richtung zu arbeiten. Da gilt es dann, professionelle Hilfe zu suchen.

„Das kann nur jemand nachvollziehen, der eine Depression erlebt hat“

Der Fußball-Torwart Robert Enke nahm sich 2009 das Leben. Er hatte seit 2002 immer wieder Depressionen – hervorgerufen durch Versagensängste und Selbstzweifel. Hätte es bei dir ebenfalls so enden können?

Ja. Definitiv. Wenn ich 2004 noch mal sechs Jahre mit Skispringen weitergemacht hätte, dann wäre ich mit Sicherheit an diesen Punkt gekommen. Das kann nur jemand nachvollziehen, der eine Depression erlebt hat. Man will das ganze Psychische, was in einem rumfliegt, einfach nur loswerden. Bei mir war es nur eine kurze Zeit, wo ich das so extrem gemerkt habe. Ich bin dann zum Glück dem Rat meiner Ärzte gefolgt und in eine Klinik gegangen.

Nachdem du aus der Klinik raus warst, bist du noch einige Jahre in Therapie gegangen. Wann hast du dich wieder gesund gefühlt?

Mir hat es geholfen, mit dem Rennsport wieder eine Aufgabe zu finden. Skispringen konnte ich nicht mehr, weil mein Körper jedes Mal in der Nähe einer Schanze Stresssignale ausgesandt hat. Der Rennsport war das letzte Puzzleteil, um mich wieder glücklich zu fühlen.

Ich habe eine Aufgabe gebraucht. Davor hatte ich nichts, wo ich gemerkt habe, dass ich für etwas geschaffen bin. Ich bin morgens aufgestanden, habe den Tag genossen, gegessen und bin wieder ins Bett. Ohne Aufgabe ist es für einen Menschen einfach schwierig zu leben.

„Zeit mit meiner Familie hat Priorität“

In deinem Buch „Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“ schreibst du, dass du jetzt auf einem soliden Fundament stehst. Was ist dein Fundament?

Meine Familie. Meine Frau und meine beiden Kinder, die ich als meine Oase ansehe. Darauf baue ich jetzt alles auf. Zeit mit meiner Familie hat Priorität. Wenn Termine mit Familienzeit oder Urlaub kollidieren, sage ich sie ab oder verschiebe sie.

In einem Welt-Interview hast du gesagt, dass du gläubig bist. Welche Rolle hat der Glaube in deinem Heilungsprozess gespielt?

Und wie wichtig ist er für dich heute? Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, da war Kirche kein großes Thema. Trotzdem glaube ich, dass jemand auf mich aufpasst, mir so ein bisschen auf der Schulter sitzt und gewisse Dinge zulässt oder auch nicht. Das gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein, sondern meinen Weg gemeinsam mit jemand anderem zu gehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte MOVO-Volontär Pascal Alius.

 

Anlaufstellen bei Depressionen:

Grundsätzlich ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner für die Diagnostik und Behandlung von Depressionen. Bei Bedarf überweist er an einen Facharzt bzw. psychologischen Psychotherapeuten. In Notfällen, z. B. bei drängenden und konkreten Suizidgedanken, bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter der Telefonnummer 112 wenden. Der Sozialpsychiatrische Dienst bietet Beratung und Hilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörige an.

www.deutsche-depressionshilfe.de
www.143.ch
www.depression.at

Foto: Motortion / iStock / Getty Images Plus

Bordell Deutschland: 90 Prozent aller Prostituierten verkaufen sich unter Zwang

Deutschland hat sich zur Drehscheibe des Menschenhandels entwickelt. Das Nordische Modell, ein Sexkaufverbot, soll dem Einhalt gebieten.

Von Uwe Heimowski

Seit 2001 ist Prostitution in Deutschland eine legale Dienstleistung. Davor galt sie als sittenwidrig und war eine Straftat. Bestraft wurden die (meist weiblichen) Prostituierten – ihre Kunden, die „Sexkäufer“, blieben unbehelligt. Um die Frauen aus der Kriminalisierung zu holen und ihnen die Chance zu geben, sich bei den Sozialversicherungen anzumelden, beschloss der Bundestag – damals mit rot-grüner Mehrheit – das Prostitutionsgesetz („Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“).

Die entwürdigende Situation vieler Frauen, die in der Prostitution arbeiten, habe ich einige Jahre hautnah miterlebt. Von 1990 bis 1995 arbeitete ich bei der Heilsarmee in Hamburg, drei Jahre davon leitete ich eine AIDS-Beratungsstelle. Viele infizierte Frauen waren Prostituierte – ohne Krankenversicherung, ohne funktionierendes soziales Umfeld. Die Verelendung dieser Frauen kann man sich kaum vorstellen. Um dieser Frauen willen war ich ein leidenschaftlicher Befürworter des Prostitutionsgesetzes.

Deutschland wird zum „Bordell“

Doch schon bald zeigte sich: Das Gesetz half den Frauen nicht. Nur eine Handvoll meldete ein Gewerbe an. Und was weder der Gesetzgeber noch die Befürworter des Gesetzes geahnt hatten: Deutschland entwickelte sich unter dem Deckmantel der Legalität zur Drehscheibe des Menschenhandels.

Das Magazin „Der Spiegel“ titelte schon 2013: „Bordell Deutschland. Wie der Staat Frauenhandel und Prostitution fördert.“ Schonungslos wurden die Missstände in unserem Land aufgedeckt. Experten gehen davon aus, dass zwischen 80 und 90 Prozent der geschätzt 400.000 Prostituierten in Deutschland Opfer von Menschenhandel oder Zwang sind. Seither befinden wir uns in einem Dilemma: Frauen sollen geschützt werden, doch erreicht die liberale Gesetzgebung genau das Gegenteil.

Sexkaufverbot hilft

Wie kann man dieses Dilemma auflösen? In Schweden erlebte die Debatte bereits 1999 einen Paradigmenwechsel. Das schwedische Parlament – damals als erstes Parlament der Geschichte mehrheitlich mit Frauen besetzt – beschloss ein Sexkaufverbot, bei dem nicht mehr die Frau, sondern der Sexkäufer bestraft wurde.

Die Opfer wurden also anders als beim herkömmlichen Prostitutionsverbot nicht länger zusätzlich kriminalisiert und machten, weil sie keine strafrechtlichen Konsequenzen zu befürchten hatten, entsprechend auch stärkeren Gebrauch von Hilfsangeboten. Dazu zählten Ausstiegsprogramme zur beruflichen wie seelischen Rehabilitation. Medizinisches Personal, die Behörden und insbesondere die Polizei wurden zahlenmäßig aufgestockt und regelmäßig geschult, besonders im Umgang mit traumatisierten Frauen. Zuhälterei und organisierte Kriminalität im Zusammenhang mit Menschenhandel wurden stärker verfolgt und härter bestraft.

EU empfiehlt „Nordisches Modell“

Das als „Schwedisches Modell“ bekannt gewordene und später – nach Einführung des Gesetzes in Norwegen (2008) und Island (2009) – als „Nordisches Modell“ oder auch „Equality Model“ (Gleichstellungs-Modell) bezeichnete Gesetz entfachte innerhalb der Europäischen Union eine breite, sehr leidenschaftlich geführte Debatte. 2014 verabschiedete das Europäische Parlament mit dem „Honeyball Report“ eine Entschließung, in der es den Mitgliedsstaaten die Einführung des „Nordischen Modells“ empfahl.

Die Entschließung erkennt Prostitution, Zwangsprostitution und sexuelle Ausbeutung als stark geschlechtsspezifisch und als Verstöße gegen die Menschenwürde an und erkennt einen Widerspruch gegen Menschenrechtsprinzipien wie beispielsweise die Gleichstellung der Geschlechter. Sie sei daher mit den Grundsätzen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unvereinbar. Nach dem Nicht-EU-Land Kanada (2014) führten auch Nordirland (2015), Frankreich (2016) und Irland (2017) ein den Sexkauf bestrafendes Gesetz ein. Israel wurde 2020 zum achten Land weltweit.

„Nordisches Modell“ bietet doppeltes Plus

Gegner des „Nordischen Modells“ kritisieren die Einschränkung der Berufsfreiheit und somit der Selbstbestimmung der freiwilligen „Sexarbeiterinnen“. Sie befürchten eine Verschiebung der Prostitution in den Untergrund und einen Anstieg der Gewalt. Evaluationen in Schweden konnten das nicht bestätigen, im Gegenteil: Die Zahl der Gewalttaten ist gesunken.

Befürworter sehen im „Nordischen Modell“ jedoch ein doppeltes Plus: Es setzt unmittelbar an der Situation der Frauen an und hilft ihnen beim Ausstieg, ohne sie zu kriminalisieren. Und außerdem: Das „Nordische Modell“ verändert mittel- und langfristig die gesellschaftliche Einstellung zur Prostitution und zum Umgang mit Frauen.

In Deutschland halte ich das „Nordische Modell“ für überfällig. 2016 wurde – auf Druck der EU – ein Prostituiertenschutzgesetz beschlossen, doch die Maßnahmen (Gesundheitscheck, Verbot, am Arbeitsplatz zu wohnen, Präservativpflicht u.a.m.) sind viel zu kleinteilig oder nicht überprüfbar. Den Frauen helfen sie nicht.

Uwe Heimowski (57) vertritt die Deutsche Evangelische Allianz als deren Beauftragter beim Deutschen Bundestag in Berlin. Er ist verheiratet mit Christine und Vater von fünf Kindern. Von ihm erhältlich: „Der politische Jesus“ (VTR) und „Das Nordische Modell: Eine Möglichkeit für Deutschland?“ (Edition Wortschatz).

Die Gründer von Feuerwear, Martin und Robert Klüsener. (Foto: Feuerwear)

Upcyling von Feuerwehrschläuchen: „Es geht um das Überleben der Menschheit“

Die Brüder Martin und Robert Klüsener vom Kölner Modelabel Feuerwear hauchen gebrauchten Feuerwehrschläuchen neues Leben ein. Für die beiden geht es bei Nachhaltigkeit um Leben und Tod.

Feuer! Blaulicht. Sirenen heulen. Die Rauchwolke ist weithin sichtbar. Feuerwehrleute springen aus dem Löschgruppenfahrzeug. Beißender Rauchgeruch liegt in der Luft. Das Feuer knistert schon lange nicht mehr – es brüllt. Jetzt heißt es: Überblick verschaffen und Wasserversorgung sicherstellen.

Die Feuerwehrleute rollen Feuerwehrschläuche über den Asphalt und setzen ein Standrohr am nächstgelegenen Hydranten. Kein Wasser! Beim nächsten Hydranten: gleiches Problem. Das Wasser aus dem Tanklöschfahrzeug ist schon längst leer. Das Feuer breitet sich weiter aus. Geschafft: Beim dritten Hydranten kommt endlich Wasser. Der Feuerwehrschlauch dehnt sich aus und die Löscharbeiten können beginnen. So erging es der Feuerwache 2 in Bochum beim Dachbrand einer Turnhalle – zum Glück waren Ferien.

Alte Feuerwehrschläuche werden verbrannt

Damit das Wasser sicher vom Hydranten zum Feuer kommt, werden die Schläuche nach jedem Einsatz kontrolliert. Bei undichten Stellen oder wenn die vorgeschriebene Gebrauchszeit überschritten ist, werden sie aussortiert – meist nach acht bis zwölf Jahren. Die Reparatur ist teurer als die Entsorgung, weshalb die Schläuche normalerweise verbrannt werden. Manche haben das Glück, dieser Ironie des Schicksals zu entgehen.

Diese Feuerwehrschläuche landen im Kölner Nordosten beim Modelabel Feuerwear. In einem kleinen, gelben, unscheinbaren Gebäude schenken die Brüder Martin und Robert Klüsener diesen ausgemusterten Feuerwehrschläuchen ein zweites Leben. Aus ihnen entstehen seit 2005 Rucksäcke, Geldbeutel und (Fahrrad-)Taschen. Pro Jahr verarbeitet Feuerwear 15 Tonnen und 30 Kilometer an Schlauch – aneinandergereiht reicht das für die Strecke von Köln bis nach Bonn.

Es ist auf den ersten Blick erkennbar, dass Martin und Robert Brüder sind. Beide haben rötliches Haar sowie einen rötlichen Bart, tragen eine Brille und legere Kleidung. Seit 2008 arbeiten die beiden zusammen und genießen es: „Es ist halt dein Bruder. Der verzeiht dir auch mal, wenn du ‘nen schlechten Tag hast. Der weiß, wie er das einzuordnen hat, weil er dich schon länger kennt“, meint Robert. Er ist fürs Marketing zuständig und Martin für die Produktentwicklung.

„Mir hat Martin immer die Hosen gekürzt“

Martin experimentierte schon als Schüler mit der Nähmaschine seiner Eltern. „Mir hat Martin immer die Hosen gekürzt. Macht er heute nicht mehr!“, sagt sein Bruder Robert lachend. „Heute kostet es zehn Euro beim Änderungsschneider.“ Er sei schon immer mehr Praktiker als Theoretiker gewesen.

In seiner Diplomarbeit beschäftigte Martin sich mit dem Thema Upcycling und Mode. Anfangs dienten alte Windsurfsegel als Material – die waren jedoch schwer zu beschaffen und kamen oft aus aller Welt, was dem CO2-Fußabdruck wenig dienlich war. Schnell wechselte Martin auf ausrangierte Feuerwehrschläuche und fand darin das perfekte Ausgangsmaterial: robust, nachhaltig und einzigartig. Seine Mission: Zeigen, dass umweltbewusste Mode auch stylisch sein kann.

Material von Feuerwehrschläuchen untrennbar miteinander verbunden

Martin und Robert bekommen die alten Feuerwehrschläuche in großen Gitterboxen angeliefert – direkt aus einer der 98 Feuerwachen, mit denen sie zusammenarbeiten. Ein Feuerwehrschlauch besteht aus einem inneren Gummischlauch, Festkleber und einem gewobenen Mantel aus Polyesterfasern. Die Materialien werden untrennbar miteinander verbunden. Der Mantel verhindert, dass der innere Schlauch platzt.

Je nach Größe müssen die Schläuche einen Prüfdruck von 25 bar aushalten. Die meisten schaffen auch einen Wasserdruck von 50 bar, ohne zu platzen – 50 bar Druck herrschen in einer Wassertiefe von 500 Metern. Außerdem ist ein Feuerwehrschlauch 15-mal reißfester als ein Gartenschlauch: Mit ihm kann ein 15 Tonnen schwerer Feuerwehreinsatzwagen abgeschleppt werden.

Probieren geht über Studieren

Ein Jahr vergeht, bis Feuerwear ein neues Produkt ins Sortiment aufnimmt. In dieser Zeit wird „poliert, poliert, poliert“, wie Martin es nennt. Neben ihm ist vor allem Philomena dafür zuständig, Prototypen zu entwickeln. Direkt nach Abschluss ihres Studiums 2017 fing sie an, bei Feuerwear zu arbeiten. Während Philomena erzählt, steht sie an einem großen Holztisch. Darauf verteilt liegen verschieden große Stücke Feuerwehrschlauch sowie eine Fahrradtasche, an der sie gerade arbeitet. Rechts von ihr stehen zwei Nähmaschinen.

Philomena zeichnet kaum Entwürfe am Computer. Sie näht einfach drauflos und probiert aus. Bei einem so besonderen Material wie Feuerwehrschläuchen gehe das nicht anders, meint sie: „Man wird immer wieder überrascht. Sachen klappen nicht, wo man denkt, das sollte funktionieren. Es gibt immer wieder neue Herausforderungen. Langweilig wird es nie.”

„Ich hatte ein bisschen Angst, dass er piept“

Vor Kurzem sollte Philomena eine Meldertasche entwickeln und musste erst mal recherchieren, welche Melder genutzt werden. Melder sind kleine Geräte, die Feuerwehrleute von der Freiwilligen Feuerwehr am Gürtel tragen und über die sie im Brandfall alarmiert werden.

Ein Feuerwehrmann aus der Geräteprüfung der Feuerwache 4 in Köln erklärte ihr die gängigsten Melder: von Tetra Pager über Quattro S. Außerdem lieh er ihr einen Melder für zwei Stunden aus. „Ich hatte ein bisschen Angst, dass er piept. Ist aber nix passiert“, meint Philomena lachend. Anhand des Melders formte sie ein Modell der Meldetasche.

Gewichte scheuern mehrere tausend Mal über Produkte

Steht der Prototyp, kommt er ins Labor. Dort scheuern Gewichte mehrere tausend Male über ihn. „100.000 Scheuertouren nach Martindale halten unsere Produkte aus“, sagt Philomena. Sie nutzt die Produkte von Feuerwear auch selbst im Alltag. „Der Vorteil der Produktentwicklung ist natürlich, dass man die Produkte als Erstes testen muss“, meint sie lachend.

Ihr Lieblingsprodukt ist die Bauchtasche „Ollie“. Die bestehe im Vergleich zu anderen Produkten aus mehr Gewebe und weniger Schlauch. Oder in Martins Worten: Sie ist nicht so komplett „schlauchig“.

Über 500 Gitterboxen mit etwa 15.000 aussortierten Schläuchen

Hat der Prototyp die Testphase erfolgreich bestanden, beginnt die Produktion. Damit aus einem Feuerwehrschlauch ein Rucksack wird, muss er erst einmal in Stücke geschnitten werden. Dafür kommt der Schlauch in die Werkstatt für beeinträchtigte Menschen der Sozial-Betriebe-Köln (SBK). Dort stehen aktuell über 500 Gitterboxen mit etwa 15.000 aussortierten Schläuchen.

Ein Feuerwehrschlauch wird im Laufe seines Lebens durch jede Menge Dreck gezogen, deshalb reinigt die SBK die Schlauchstücke mit umweltverträglichen Waschmitteln aus nachwachsenden Rohstoffen. Die Industriewaschmaschinen sitzen in einem speziellen Betonsockel, der in den Hallenboden eingelassen ist, um die Wucht des Schleuderwaschgangs abfangen zu können.

Ist Upcycling nachhaltig?

In den Anfangszeiten von Feuerwear war noch nicht bekannt, wie nachhaltig Upcycling von Feuerwehrschläuchen wirklich ist. Es gab keinerlei Studien. Deshalb erstellte der TÜV Rheinland 2012 eine Ökobilanz für Feuerwear. „Wir waren ganz erleichtert, als wir gesehen haben, dass die Theorie stimmt und wir sogar ‘ne ganze Menge an CO2 einsparen. Das war gar nicht so klar am Anfang“, sagt Robert. Trotzdem versuchen sie, noch nachhaltiger zu werden.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Der größte Hebel sei die Bausubstanz eines Hauses und die Energie, meint Robert. Demnächst wird die Feuerwear-Zentrale umgebaut, dann besteht dort die Chance auf nachhaltige Veränderung. Strom und Gas bezieht die Firma von Green Energy, einem Greenpeace-Tochterunternehmen.

Produkte sollen noch nachhaltiger werden

Ein weiterer Hebel, um die Ökobilanz von Feuerwear zu verbessern, sind die Zusatzmaterialien des Rucksacks: PVC-Planen, Gurtbänder, Schnallen. „Unser Ziel ist es, möglichst viele Bestandteile unserer Produkte aus nachhaltig gefertigten und recycelten Rohmaterialien herzustellen – angefangen bei den Materialien mit dem größten Einfluss auf die Ökobilanz“, sagt Robert.

Es sei wichtiger, erst mal recycelte PVC-Plane für die Rückseite des Rucksacks zu finden, als nach nachhaltigem Nähgarn Ausschau zu halten. Die PVC-Plane und die Gurtbänder kommen aus der Autoindustrie.

Zu faul zum Autofahren

Die Zusatzmaterialien werden zusammen mit den Schlauchstücken zu den Nähereien nach Serbien geliefert. In Deutschland gibt es keine Nähereien mehr, die mit handgeführten Nähmaschinen arbeiten. Da Feuerwehrschläuche besonders robust sind, ist das aber nötig. CO2-Emissionen, die durch Transport und Versand entstehen, gleicht Feuerwear über Klimaprojekte aus.

Privat setzen Martin und Robert beim Transport ebenfalls voll auf Nachhaltigkeit: Beide fahren mit dem Fahrrad zur Arbeit. „Ganz ehrlich, ich bin eigentlich nur zu faul, in der Stadt mit dem Auto zu fahren“, erzählt Robert. Den Dienstwagen seines vorherigen Arbeitgebers hat er damals freiwillig zurückgegeben. Auf der Suche nach einem Parkplatz ist Robert zwei Wochen lang jeden Abend eine halbe Stunde um den Block gefahren – und nachher trotzdem im Halteverbot gelandet. Das wurde ihm zu teuer.

Klimaschutz: „An den süßen Robbenbabys, da sind wir schon lang dran vorbeigeschrammt“

Aus den Nähereien in Serbien kommen die fertigen Rucksäcke ins Zentrallager und dann zum Kunden. Ein großer Teil der Käufer hat selbst häufig mit Feuerwehrschläuchen zu tun: Sie sind Mitglieder von Freiwilligen Feuerwehren. „Das ist ein Typ Mensch, der sich echt für andere reinhängt“, sagt Robert.

Reinhängen ist seiner Meinung nach auch beim Klimaschutz nötig. Für Robert ist es eine Frage von Gerechtigkeit, in welchem Zustand er die Welt seinen Kindern hinterlässt. „Das ist das Gleiche, wie wenn ich jemandem meinen Mist in den Vorgarten kippe“, sagt er. Die Politik muss reagieren, findet er. Nachhaltigkeit ist für ihn und seinen Bruder Martin eine Frage von Leben und Tod: „Ganz ehrlich: An den süßen Robbenbabys, da sind wir schon lang dran vorbeigeschrammt. Es geht um das Überleben der Menschheit.“

Roy Gerber mit seinen Hunden. (Foto: Reto Schlatter)

Roy schmeißt sein Millionärs-Dasein hin – und wird Therapiehundeführer

Roy Gerber besitzt einen BMW, eine Yacht und drei Firmen. Durch seine Golden Retriever-Hündin Ziba verliert er alles – und ist glücklicher als zuvor.

Als Inhaber von drei gutgehenden US-Firmen fährt er einen 7er-BMW, wohnt an der südkalifornischen Pazifikküste, lebt aber meist auf seiner Yacht in Huntington Beach. Er hat den Pilotenschein, besucht gern Pferderennen und lässt bei Frauen nichts anbrennen. Seine Chauffeur-Agentur „Private Driver“ ist in Hollywood beliebt und so feiert Roy Gerber bisweilen mit Sandra Bullock, Cameron Diaz oder den Spielerstars der Baseball- und Football-Szene. Bis er zufällig eines Samstagnachmittags einer alten Dame hilft, Heliumgas-Flaschen in ihren Kofferraum zu wuchten.

Im zweiten Anlauf schafft Gerber das Therapiehundeführer-Zertifikat

„Mit dem Helium blasen wir Luftballons auf. Unsere Gemeinde feiert eine Geburtstagsparty für sexuell missbrauchte Kinder. Kommen Sie doch mit“, sagt die Oma. Als Roy dort seine junge Golden Retriever-Hündin Ziba aus dem Auto springen lässt, ist sie bei den Kindern sofort der Star des Nachmittags.

Ein Hundetrainer fragt, ob er das Tier auf seine Eignung als Therapiehund testen dürfe. Roy ist einverstanden, nimmt an der Prüfung teil. Ergebnis: „Ziba könnten wir sofort gebrauchen. Sie nicht.“ Der ehrgeizige Unternehmer und gebürtige Schweizer nimmt das als Kampfansage. Im zweiten Anlauf macht er das Therapiehundeführer-Zertifikat.

Er lernt Leute der „Mariners Church“ kennen, im Gottesdienst singt ein Gospelchor, der Pastor predigt über Ehekrach und Vergebung. Roy Gerber hat eine geplatzte Verlobung hinter sich und wurde vor Kurzem von seiner neuen Freundin verlassen. „Meine Tränen flossen nur so und doch war ich dabei zutiefst glücklich. Der Gesang des Chores ließ eine geistliche Atmosphäre entstehen, die mich ins Herz traf und meine Sehnsucht nach Gott weckte.“

„Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“

Auf einer Sommerfreizeit für sexuell missbrauchte Kinder im Schulalter – organisiert vom Verein „Ministry Dogs“ der „Mariners Church“, die Mitarbeitenden sind Kinderärzte, Traumatherapeutinnen, ein ehemaliger Undercover-Ermittler des FBI und viele Ehrenamtliche – dürfen die Kinder und Teenies „Briefe an Ziba“ schreiben und die Umschläge offen lassen oder zukleben. In zugeklebten Umschlägen liest sie niemand, auch nach der Freizeit nicht.

Die Briefe in den offenen Kuverts darf Roy Ziba „vorlesen“. Was da an Elend und Schmerz, Demütigungen und sexuellem Sadismus angedeutet wird oder zu lesen ist, reißt ihn endgültig heraus „aus dem ganzen Unternehmer-Tralala und Karriere-Bling-Bling“. Am Abfahrtstag des Sommerlagers – keins der Kinder will nach Hause – steckt ein Mädchen eine rote Feder in Zibas Halsband und sagt zu Roy: „Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“ Es ist sein Berufungserlebnis. „I promise, I promise!“, ruft er heulend dem abfahrenden Bus hinterher.

Vom Millionär zum Tellerwäscher

Roy und sein Hund werden bei Überlebenden kalifornischer Waldbrände, in der Notfallseelsorge der Verkehrspolizei, in Altersheimen und Krankenhäusern therapeutisch eingesetzt. Was für ihn mehr Sinn macht, als Luftfilteranlagen und orthopädische Betten zu importieren oder Promis durch L.A. kutschieren zu lassen.

Mister Gerber verschenkt seine Betten-Importfirma und die „Private Driver“-Agentur an seine Mitarbeiter, weil er weiß: Der Verkauf der Luftfilter-Firma wird ihm Millionen bringen. Doch obwohl seine Anwälte und Banker wasserdichte Kaufverträge ausarbeiten, wird „Air Cleaning Solutions“ nach vier Jahren Rechtsstreit ein Raub mexikanischer Wirtschaftskrimineller.

„Ich hatte als 23-Jähriger in der Schweiz manchmal 35.000 Franken im Monat verdient. Jetzt, mit 39, waren die Millionen futsch und ich ganz unten angekommen.“ Er jobbt bei einer Cateringfirma, studiert Theologie, wird zum „Chaplain“ seiner Gemeinde ordiniert – „Krankenbesuche kannte ich ja, aber Trauungen und Beerdigungen musste ich erst lernen“ – und gründet das „Chili Mobile“ für Obdachlose und Drogenabhängige, eine fahrende Essensausgabe.

Zurück in die Heimat

„Gott bläst einem ja nicht mit dem Alphorn ins Ohr. Er bevorzugt leise Töne“, sagt Roy, als er während einer Gebetszeit dem Impuls folgt, für „Pennerpfarrer“ Ernst Sieber in Zürich zu beten. In den 90er-Jahren ist das „Sozialwerk Ernst Sieber“ ein medienpräsent angesehenes Hilfswerk für Obdachlose, Prostituierte und Drogensüchtige in der Schweiz. Roy ruft ihn an. Einfach so. Und Sieber sagt: „Wir suchen einen Stellvertreter für mich. Komm rüber!“

Es wird das Ende einer bewegten US-Karriere, der Anfang eines neuen Lebens im alten Herkunftsland. Vier Jahre arbeitet Roy Gerber in der „Sonnenstube“ Zürich, hat aber in Gesprächen mit Hilfsbedürftigen oft das Gefühl, nur den Symptomen und nicht den Ursachen abzuhelfen. Der eigeninitiative Gründer in ihm, der Start-up-Unternehmer, scharrt innerlich mit den Hufen.

„Jährlich 50.000 Minderjährige in der Schweiz sexuell missbraucht“

Ihn irritiert, warum in der Schweiz das Thema sexueller Missbrauch so oft mit Schweigen belegt wird. Auch und gerade in christlichen Kreisen. „Laut Medicus Mundi-Studie werden hier jährlich rund 50.000 Minderjährige sexuell missbraucht, ins öffentliche Bewusstsein ploppt das erst, wenn wieder mal ein Kinderporno-Ring entdeckt wird. 55 Prozent der bipolaren Störungen, 80 Prozent der Borderline-Störungen, Magersucht, dissoziative Störungen, Lern- und Konzentrationsschwächen sind oft auf Missbrauch zurückzuführen.

Der wird aber erst vermutet, wenn physische Gewalt nachweisbar ist? Dann sollten die Opfer eine geschützte Gelegenheit bekommen, zu reden. Was sie nicht tun, solange ihre Angst bedrohlicher ist als ein Messer. Aber auch die Angst der Mitarbeitenden muss aufhören, in Kitas, Schulen, Vereinen und Kirchen verdächtige Beobachtungen zu melden. Es geht nicht um Generalverdacht, sondern um qualifizierte Hilfe für verstummte Opfer.“

„Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler“

Roy Gerber, eine Kinderärztin, ein Staatsanwalt, drei Polizisten, zwei Sozialpädagoginnen, ein Treuhänder und etliche beratende Experten gründen 2012 den Verein „Be unlimited“ und dessen „Kummer-Nummer“, eine schweizweite Telefon-Hotline, anonym und kostenlos, täglich rund um die Uhr mit geschulten Zuhörenden besetzt. „Wir sehen keine Nummer auf unseren Displays, es wird nichts aufgezeichnet, wir geben keine Infos an die Polizei, weil das zunächst die Opfer gefährden könnte.

Wir sagen auch nie ’sexueller Missbrauch‘, sondern fragen nach ‚Kummer‘ und nach ‚Ermutigung‘. Wenn ein Kind oder Jugendlicher es wünscht, fahren wir auch hin. Immer zu zweit, immer mit Therapiehunden. Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler. Kommt es zu polizeilicher Strafverfolgung, können wir helfen, Kinder in sicheren Pflegefamilien unterzubringen.“

Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt

„Der 17. Dezember 2013 war einer der traurigsten Tage meines Lebens.“ Als Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt, ist Roy Gerber todunglücklich. „Sie lag im Helikopter neben mir, wenn wir zu Waldbränden flogen. Sie begleitete mich zu Gefängnisbesuchen und Ferienlagern. Sie tröstete unzählige Kinder in Krankenhäusern und Heimen. Durch Ziba hatte ich meine Berufung gefunden. Jetzt musste ich sie gehen lassen.“ Das Mädchen vom Sommerlager in Kalifornien hat er nie wiedergesehen. Ihre rote Feder aus Zibas Halsband aber, die hat er immer noch.

Andreas Malessa ist Journalist. Aktuell von ihm erhältlich sind die Titel: „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Am Anfang war die Floskel“ (bene!).

Kummer-Nummer: Hast Du Kummer … und bist dir nicht sicher, wohin damit? Und schämst dich, darüber zu sprechen? Weil du unsicher bist, ob etwas, das du erlebt hast, normal ist? Wir können dir weiterhelfen: Tel: 0800 66 99 11; E-Mail: Help@kummernummer.org Anonym, diskret, kompetent, gratis, rund um die Uhr. www.kummernummer.org

Mehr zu Roy Gerber: „Mein Versprechen“ (Fontis)

Symbolbild: AzmanL / E+ / Getty Images

Eltern müssen Vorbild sein: So motivieren Sie Ihre Kinder zu mehr Sport

Kinder, die sich bewegen, sind: gesünder, intelligenter und stressresistenter. Doch Sport ist nicht nur Sache der Kinder, sagt Sportwissenschaftler Jonathan Häußer.

Die Vorteile regelmäßiger Bewegung sind meistens recht individuell. Sport macht fitter, es wird weniger wahrscheinlich, an Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Übergewicht zu leiden und verlängert das Leben. Welche Auswirkungen hat Sport aber eigentlich auf das eigene Umfeld – konkret: auf die Kinder?

Gehirn profitiert von regelmäßiger Bewegung

Auch für Kinder ist regelmäßige Bewegung wichtig – eigentlich noch wichtiger als für uns. Das schlägt sich auch in den Empfehlungen der WHO (Weltgesundheitsorganisation) nieder: Kinder sollen sich mindestens eine Stunde am Tag bewegen – doppelt so viel wie Erwachsene. Zu wenig Bewegung kann die Entwicklung von Übergewicht und anderen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen. Früh werden also die Weichen für die Gesundheit im späteren Leben gestellt.

Auch das Gehirn profitiert sehr von regelmäßiger Bewegung. Das fängt schon bei dessen Entwicklung an. Kinder, die sich regelmäßig bewegen, können von besseren kognitiven Funktionen und einer erhöhten Widerstandsfähigkeit gegen Stress profitieren. „Kognitive Funktionen“ meint dabei alles, was mit der Verarbeitung von Informationen zu tun hat. Beispiele hierfür sind die Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, das Lernen und das Erinnerungsvermögen.

Sport macht psychisch gesund

Sport verbessert darüber hinaus die Lebensqualität von Kindern. Und auch im späteren Leben zahlt sich eine aktive Jugend aus. Wer in seiner Kindheit Sport treibt, kann sich über eine bessere psychische Gesundheit 20 Jahre später freuen, was wahrscheinlich auf die bessere Stressresistenz zurückzuführen ist.

Was hat die Aktivität von Kindern jetzt mit den Eltern zu tun und wie können Eltern ihre Kinder zu mehr Bewegung animieren? Hier gibt es einen interessanten Zusammenhang: Untersuchungen haben gezeigt, dass es eine Beziehung zwischen der Aktivität der Eltern und der Aktivität der Kinder gibt. Je mehr sich die Eltern bewegen, desto mehr tun das auch die Kinder. So hat eine Studie herausgefunden, dass sich Kinder fünf bis zehn Minuten mehr bewegen, wenn sich die Eltern 20 Minuten mehr bewegen. Und auch Geschwister sind hilfreich, um die Aktivität der Kinder zu steigern.

Eltern in der Pflicht

Interessanterweise ist vor allem das väterliche Aktivitätsniveau ein guter Prädiktor für das Bewegungsverhalten des Kindes im späteren Leben. Und das scheint besonders für Söhne zuzutreffen. Damit sich Töchter auch später noch regelmäßiger bewegen, ist die Mutter als Vorbild etwas entscheidender – aber das nimmt den Vater nicht aus der Pflicht.

Aber nicht nur die Aktivität der Eltern ist ansteckend, sondern auch deren Inaktivität. Bei Eltern, die sich wenig bewegen, ist auch die Wahrscheinlichkeit um das Sechsfache erhöht, dass sich die Kinder zu wenig bewegen! Ähnliches hat man für die sogenannte „Screen Time“ festgestellt. Das ist die Zeit, die man vor elektronischen Geräten wie Smartphones, Tablets, Computern und Fernsehern verbringt. Wenn die Eltern weniger vor dem Bildschirm hocken, tun es die Kinder auch weniger. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Eltern dann mehr Zeit haben, etwas mit ihnen zusammen zu machen.

Bewegung steckt an

Ich kann mich noch gut an meine Kindheit erinnern. Dort habe ich auch die eine oder andere Joggingrunde mit meinem Vater gedreht, und die Begeisterung für das Laufen und Bewegung sind geblieben. Und immer, wenn ich zu Hause war und laufen ging, wollte meine viel jüngere Schwester auch mitkommen. Also zeigt nicht nur die Wissenschaft, sondern auch meine persönliche Erfahrung: Bewegung ist ansteckend. Und wenn Eltern sich mehr bewegen, tun sie nicht nur sich selbst etwas Gutes. Auch ihre Kinder bewegen sich mehr und profitieren davon. Es ist eine Win-win-Situation. Worauf warten Sie noch?

Jonathan Häußer ist Arzt und Sportwissenschaftler und fühlt sich vor allem in der Sport- und Ernährungsmedizin zu Hause. In seiner Freizeit ist er auch selbst sehr aktiv. Wenn er nicht gerade bei der Arbeit ist oder durch den Wald läuft, ist er häufig im ICF Hamburg zu finden.

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Wie Paare Gleichberechtigung leben: „Meine Frau verdient das Geld, ich trage es wieder fort“

Oliver ist Hausmann, während Heiko nicht an die Waschmaschine darf. Wir haben vier Paare gefragt, wie sie ihre Beziehung leben.

Was bedeutet für euch Gleichberechtigung?

Stefan: Nach dem Tod meiner ersten Frau sagten viele: Du brauchst jetzt aber dringend wieder eine Frau für deine vier Kinder. Ich habe über diesen Satz viel nachgedacht.

In der Generation meiner Eltern war es gar nicht denkbar, als Vater für vier kleine Kinder zuständig zu sein, den Haushalt zu managen. Meine erste Liebeserklärung an meine jetzige Frau Brigitte war: Ich brauch dich nicht, aber ich will dich! (allgemeine Heiterkeit)

Oliver: Ich lebe gerade den absoluten Rollentausch. Seit letztem Jahr verdient meine Frau als Sonderpädagogin das Geld und ich kümmere mich um Haushalt, Kinder und Küche.

Kathrin: Oliver war vorher täglich bis zu 14 Stunden als ITler außer Haus. Unsere Rollenteilung lebten wir zwölf Jahre klassisch. Nach vielen, vielen Gesprächen haben wir den Tausch gewagt.

Stefan: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Punkt.

Axel: Richtig! Der Respekt gegenüber meiner Frau macht sich nicht im Sternchen fest, sondern im Handeln.

„Wir werden im Leben niemals fair und gleich behandelt“

Oliver: Das ist doch die Chance und Schwierigkeit unserer Zeit: Beide können arbeiten gehen, beide in Teilzeit arbeiten, der Mann kann zu Hause sein, die Frau darf arbeiten gehen. Dafür ist aber auch alles irgendwie im Fluss, muss ausdiskutiert, abgesprochen und organisiert werden.

Heiko: Ja, wir sind gleichberechtigt. Das Thema ist durch. Doch wir werden im Leben niemals fair und gleich behandelt. Wenn ich mich auf eine Stelle bewerbe, werde ich definitiv besser bezahlt.

Wenn sich eine Frau mit Kindern auf eine Stelle bewirbt, wird sie trotz Sternchen anders behandelt als ein Mann. Umgekehrt: Wenn du als Mann in der Wirtschaft für die Kinder kürzertrittst, kommst du hinterher auch nicht mehr in eine höhere Position.

Maja: Vielleicht müssten wir hier das Wort „gleichgerecht“ gebrauchen? Dann bekommt das Thema eine andere Würze.

„Warum ist das, was jemand zu Hause leistet, weniger wert?“

Wird die Arbeit zu Hause für die Kinder gleich wertgeschätzt wie die außer Haus?

Axel: Nein. Da passiert für mich von staatlicher Seite noch viel zu wenig. (alle nicken) Der, der zu Hause bleibt, hat hinterher die schmalere Rente. Frauen werden schlechter bezahlt und dann im klassischen Rollenmodell auch noch bestraft fürs Kümmern um die Kinder. Hier schlägt’s meinem Gerechtigkeitssinn das Zäpfle hoch!

Oliver: (leidenschaftlich) Genau daran muss sich aber etwas ändern. Warum ist das, was jemand zu Hause leistet, weniger wert, als wenn er den ganzen Tag im Büro rumsitzt?

Stefan: Da bin ich ganz bei dir. Es liegt auch an mir, wie ich diese Rolle ausfülle, präge, lebe. Die Diskussion, ob mit oder ohne Sternchen, geht an mir total vorbei. Ich sage meinen Kindern: Ihr merkt hoffentlich an meinem Verhalten, dass ich mit ganz großem Respekt mit allen Menschen umgehe. Es liegt doch an uns: Wie prägen wir die nächste Generation?

„Manchmal ist es für uns Männer daher einfacher, auf die Arbeit zu gehen, weil du Not und Elend zu Hause nicht siehst“

Ein „Glaubensbekenntnis“ unserer Tage ist: Kinder, Karriere und Beziehung sind miteinander scheinbar problemlos vereinbar. Stimmt das? Muss man Abstriche machen?

Maja: Diese drei Themen sind wie ein Dreieck. Jedes Thema bringt Emotionen und Herausforderungen mit. Es ist ein großes Spannungsfeld. Ja, es funktioniert, aber auf welche Kosten? Wo mache ich Abstriche? Was bleibt auf der Strecke?

Stefan: Als ich alleinerziehend war, stand für mich die Frage im Raum: Woher bekomme ich meinen Wert? Eine Frau aus meinem Umfeld fragte mich: Stefan, woraus beziehst du jetzt deine Anerkennung?

Wenn du für den Haushalt und die Kinder zuständig bist, kommst du maximal auf null, aber nie ins Plus. Das Geschirr, die Wäsche, die Wohnung werden wieder dreckig. Manchmal ist es für uns Männer daher einfacher, auf die Arbeit zu gehen, weil du Not und Elend zu Hause nicht siehst. (allgemeine Heiterkeit)

Axel: Hoffentlich liest das Jugendamt Reutlingen nicht diesen Artikel. (allgemeine Heiterkeit)

„Die wenigsten putzen mit Leidenschaft, sondern sehen darin wie ich das notwendige Übel“

Stefan: Kinder großzuziehen ist nicht jeden Tag die Quelle großer Freude. Und die wenigsten putzen mit Leidenschaft, sondern sehen darin wie ich das notwendige Übel. Wenn du für Geld arbeiten gehst, bekommst du Anerkennung aufs Konto. Die größte Herausforderung ist die: Wo bekommen wir unsere Anerkennung her?

Axel: Widerspruch: Unterschätze mal nicht den Jubelschrei einer 16-Jährigen, die den Schrank aufmacht und ihre Lieblingshose liegt frisch gewaschen darin.

Stefan: Sind das die 95 Prozent des Teenagerlebens in eurer Familie? (alle lachen) Das verstehe ich nicht. (lacht)

Nicole: Ich bin ja bereits acht Wochen nach der Geburt unserer Tochter wieder arbeiten gegangen, da Axel noch mit 50 Prozent studierte. Das kostete mich echt Überwindung, war schwer. Heute bin ich dankbar, dass wir uns diese Herausforderung geteilt haben, diese Vielfalt heute so möglich ist. Ich wäre mit der klassischen Rolle als „nur“ Hausfrau und Mutter nicht glücklich geworden.

„Wir dürfen nicht erst an uns denken, wenn alle To-dos erledigt sind“

Wo habt ihr Dinge miteinander erkämpfen müssen? Was waren Stolperfallen?

Heiko: Familien schultern ein echtes Pensum. Als Eltern sind wir gerade in den Belastungen herausgefordert: Wo bleibt die Liebesbeziehung? Wir können uns als Team super die Bälle zuspielen, doch wo bleibt die Zeit für ein Rendezvous? Wann hatten wir als Paar unser letztes Date?

Paare kneifen den Arsch zusammen, damit alles funktioniert, doch dabei bleibt das Schöne, das Romantische, das, was einem Kraft gibt, ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, auf der Strecke. Wir dürfen nicht erst an uns denken, wenn alle To-dos erledigt sind. Dies passiert nämlich nie.

Wie bekommt ihr beide eine gesunde Balance hin?

Maja: Wir haben uns beide mit Mitte 30 und drei Kindern nochmal für ein Studium entschieden. Das war wirklich ein Rechen-Exempel. Der Mix aus Arbeiten, Studieren, Kinder und Haushalt funktionierte nur mit ganz, ganz viel Absprache. Wir haben finanziell alles zurückgeschraubt, um unseren Traum leben zu können, und wir haben einen Deal: Die Abende gehören in der Regel uns.

Heiko: Wir achten inzwischen sehr darauf, dass wir die privaten Termine, die uns guttun, nicht mehr hinten anstellen. Wir planen im Outlook-Kalender auch private Dinge. Wir müssen darauf achten, dass die Säulen unserer Beziehung stabil sind.

Brigitte: Als Team Balance zu halten, ist eine echte Herkulesaufgabe.

Nicole: Oder ein echter Drahtseilakt.

Kathrin: Die Zeit für uns als Paar kommt auch immer zu kurz. Doch wir schöpfen auch unglaubliche Kraft aus dem Zusammensein mit den Kindern. Da passiert so viel Wesentliches.

„Ohne Humor hätten wir einander erschossen“

Axel: Vor ein paar Monaten hatten wir den Eindruck: Wir sollten ein paar Kilo verlieren. Doch wie passt dies in den vollen Alltag? Wir haben uns für einen Lauf über neuen Kilometer angemeldet. Damit hatten wir ein Ziel, mussten trainieren. Das hat dann dazu geführt, dass wir zweimal die Woche auch mal nach 21 Uhr die Tür hinter uns zumachten und gemeinsam stramm spazieren gingen.

Wir sind miteinander gegangen bei Wind und Wetter. Wir hatten plötzlich 90 Minuten, in denen uns keiner reinquatschte. Mir ging es dann schon so: Hey, ich würde gerne mit dir mal was besprechen, wann gehen wir laufen? Jetzt ist leider der Lauf vorbei …

Stefan: (lacht) Ich empfehle euch als Paar einen Schrittzähler. Wir finden es auch sehr hilfreich, miteinander Erwartungen zu klären. Uns ist zum Beispiel das Thema Geld nicht so wichtig. Geld ist schön zu haben, aber hat nicht die Priorität in unserer Beziehung. Wir brauchen nicht den Urlaub auf den Malediven, sondern genießen den abendlichen Spaziergang, eine gemeinsame Tasse Kaffee.

Brigitte: Und wir teilen einen großen Humor.

Stefan: Sehr richtig! Ohne diesen hätten wir einander schon erschossen. (alle prusten vor Lachen los)

„Ich habe von meiner Frau ein Waschverbot bekommen“

Ihr habt euch scheinbar aus den Stereotypen rausgewagt. Welchen Wandel findet ihr gut? Wo denkt ihr, war es früher vielleicht angenehmer?

Brigitte: Ich finde es toll, dass Stefan einkauft. Er liebt es.

Stefan: Meine Frau verdient das Geld, ich trage es wieder fort. Das ist doch ein guter Wandel. Vor allem kommen jetzt vernünftige Sachen ins Haus. (allgemeine Heiterkeit)

Heiko: Ich habe von meiner Frau ein Waschverbot bekommen. (alle lachen) Ich glaube immer noch, dass ich sehr gut waschen kann (vehement), aber um des lieben Friedens willen bin ich hier einen Schritt zurückgetreten.

Maja: Wir streiten wirklich wenig, doch beim Thema Waschen hat es schon zweimal heftig geknallt: Wie erkläre ich meinem Mann zum wiederholten Male, dass man dunkle und helle Wäsche trennt oder dies oder jenes Kleidungsstück nicht in den Trockner stecken sollte?

Ich habe es ihm erklärt, ein Bild hingehängt … Und er macht es trotzdem. Das Thema Waschen ist eines der wenigen Reizthemen bei uns.

„In puncto Stereotypen haben wir beide eine 180-Grad-Wendung hingelegt“

Heiko: Ich gehe wie Stefan einkaufen. Ein hilfreiches Tool für uns als Paar ist Outsourcing. Allerdings hat meine Frau gesagt: Heiko, du kannst alles outsourcen, das Putzen, das Hemdenbügeln, nur nicht unsere Beziehung.

Oliver: Als ich die Aufwärmfragen „Wer macht was?“ fürs Interview las – einkaufen, waschen, kochen, Kinder für die Schule fertig machen, die defekte LED-Leuchte auswechseln… –, dachte ich mir: Was macht Kathrin eigentlich noch? (alle lachen) Steuererklärung macht Kathrin immer noch nicht.

Das Auto entkrümeln steht auch auf meiner To-do-Liste. Lohnt sich aber nicht, da es nach einer halben Stunde Autofahrt wieder aussieht wie vorher. (zustimmendes Nicken der Männer) Bügeln mache ich nicht, finde ich totale Zeitverschwendung. (Stefan klatscht Beifall)

In puncto Stereotypen haben wir beide eine 180-Grad-Wendung hingelegt. Dieser Wandel funktioniert aber nur in einer tragfähigen Beziehung, indem man Dinge gemeinsam priorisiert und die Bereitschaft mitbringt, sich anzupassen, zurückzunehmen, Solidarität zu leben.

Nach zwölf Jahren voll im Job war es für mich dran: Wenn nicht jetzt, wann dann? Der Wechsel hat für uns als Paar und die Kinder die Chance eröffnet, die Rollen von Mann und Frau nochmal ganz anders und neu wahrzunehmen.

„Wer ist der fremde Mann im Wohnzimmer?“

Jetzt musst du aber ohne die Anerkennung der Kollegen und Kolleginnen auskommen …

Oliver: Mein Höhepunkt der letzten Woche war ein Besuch mit allen vier Kindern beim Ohrenarzt. Als die Ärztin mich sah und sagte: „Respekt, ich habe zwei Kinder, sie kümmern sich um vier!“ – Das hat mir dann doch etwas gegeben!

Stefan: Ich koche immer bei der Aussage: Mein Mann ist IT-ler, ich bin nur Hausfrau. Ich habe das nie gesagt. Ich habe mich immer so vorgestellt: Ich leite ein mittelständisches Familienunternehmen.

Die Frage, die wir uns als Paar, als Gesellschaft stellen müssen, ist doch die: Welchen Wert messen wir den Kindern, den Aufgaben zu Hause bei? Zudem müssen wir uns fragen: Bin ich glücklich? Habe ich eine erfüllende Beziehung? Kennen meine Kinder mich noch aus dem Alltag oder fragen sie: Wer ist der fremde Mann im Wohnzimmer?

„Männer und Frauen, die sich selbst um die Kinder kümmern, werden stigmatisiert“

Heiko: Und wir brauchen als Gesellschaft ein neues Modell. Wie wäre es, wenn die Person, die zu Hause bleibt, auch ein adäquates Gehalt bezieht für die Leistung, die sie für die Gesellschaft erbringt? (Applaus aus vier Städten) Hier läuft meiner Überzeugung nach manches falsch. Da liegt der Hase doch im Pfeffer.

Männer und Frauen, die sich selbst um die Kinder kümmern, werden stigmatisiert nach dem Motto: Die arbeiten nicht bzw. wir müssen als Wirtschaft und Politik dafür sorgen, dass endlich beide Elternteile in Arbeit kommen.

Brigitte: Gerade Männern, die sich noch stark über Arbeit definieren, signalisiert man damit: Haushalt und Kinder sind keine Arbeit.

Stefan: Bin ich nicht! (allgemeine Heiterkeit) Ganz im Ernst. Ich führe Trauergespräche vor Beerdigungen. Da ziehen Leute Bilanz. Wenn mir eine Frau über ihren verstorbenen Mann sagt, er aß gerne Süßigkeiten, dann ist das doch eine dürftige Bilanz eines Männerlebens. Als Männer und Frauen sollten wir uns fragen: Was ist wertvoll? Und dann von dieser Maxime aus unser Leben gestalten.

„In einem Arbeitszeugnis würde man schreiben: Hat sich stets bemüht!“

Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm provozierte kürzlich im SPIEGEL mit dieser Aussage: Etwa jede dritte Mutter wehrt sich gegen zu viel männliches Engagement. Sie nörgelt, wie er sich mit dem Kind beschäftigt, oder gibt ihm vor, was er im Haushalt wie zu erledigen hat. Steckt in dieser Aussage ein Körnchen Wahrheit?

Heiko: Ich habe damit kein Problem, nur meine Frau. (alle lachen)

Nicole: Wenn ich von der Schicht komme, hilft es mir, erst mal tief durchzuatmen. (Axel schlägt die Hände vors Gesicht – allgemeine Heiterkeit)

Axel: In einem Arbeitszeugnis würde man schreiben: Hat sich stets bemüht! (alle lachen)

Kathrin: Bevor ich aus der Familienarbeit „ausgestiegen“ bin, habe ich mir dazu erstaunlich viele Gedanken gemacht. Doch dann konnte ich sehr schnell loslassen. Oliver macht das auch gut!

„Verantwortung abzugeben, ist abgegebene Verantwortung“

Oliver: Nur beim Thema Schule mischt sie sich als Lehrerin doch immer wieder ein. (allgemeine Heiterkeit) Jeder hat seine Art, die Dinge zu tun. Wir müssen uns davon lösen, den anderen zu erziehen, wie wir ihn gerne hätten. Es geht in die Hose, wenn ich dem anderen meinen Stil überstülpe. Verantwortung abzugeben, ist abgegebene Verantwortung.

Stefan: Brigitte legt Wert auf Ordnung in der Küche. Das ist mir schon auch wichtig. (alle lachen) (gespielt energisch:) Ja, vielleicht nicht ganz so ausgeprägt. Ein paar Mal hat sie dann schon zum Lappen gegriffen, bevor sie ihre Jacke überhaupt aus hatte. Ich hatte einen dicken Hals. Ich habe dann meine Verletzung zur Sprache gebracht, dass wenigstens meine Bemühungen gesehen werden. (Kathrin lacht)

„Kommunikation ist der Schlüssel“

Euer Kompromiss sieht jetzt wie folgt aus?

Stefan: Sie nimmt nicht den Lappen, wenn sie zur Tür reinkommt, sondern wischt, wenn überhaupt nötig, nach, wenn ich draußen bin. (alle lachen) Zudem schreibt sie mir jetzt, wann sie da ist. Dann ist der Espresso fertig und die Küche tipptopp.

Maja: Ich würde das gerne unterstreichen. Kommunikation ist der Schlüssel, um die Andersartigkeit des anderen lieben zu lernen. Eine nörgelnde Frau, ein nörgelnder Mann bringt keine Veränderung hervor.

„Ohne meine Frau wäre unsere Ehe unerträglich“

Was beglückt euch im Miteinander?

Heiko: Unsere Liebessprache ist es, Zeit miteinander zu haben, zusammen zu lachen, eine gute Flasche Wein, Zeit im Schlafzimmer.

Stefan: Meine Lieblingspostkarte trägt die Aufschrift: „Ohne meine Frau wäre unsere Ehe unerträglich.“ (allgemeine Heiterkeit) Humor gehört unbedingt dazu!

Nicole: Kleine glückliche Momente im Alltag und dass wir die Chance haben, aus der Vergebung heraus immer wieder neu miteinander anfangen zu dürfen.

Kathrin: Gespräch, Gespräch und nochmals Gespräch, und dass wir uns zu 100 Prozent aufeinander verlassen können.

Herzlichen Dank für eure Offenheit und die humorvollen 1 ½ Stunden!

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO.

Lokführer Martin Mallek sitzt im Cockpit seines ICE. (Foto: Rüdiger Jope)

Alltag eines Lokführers: „Man kann sich nicht erlauben, mal wegzuträumen“

Martin Mallek wollte schon als kleines Kind Lokführer werden. So geht er damit um, für einen ICE mit tausend Menschen verantwortlich zu sein.

Wenn wir als Kinder draußen spielten und das rhythmische Stampfen der Lokomotive vom nahen Bahnhof an unsere Ohren drang, gab es nur einen Weg: raus durch das kleine, rostbraune Gartentor und rauf auf die Brücke. Wenn dann die Dampflok rauchend und zischend um die Ecke schnaufte, der Lokführer unser Winken mit einem Signaltongruß erwiderte, verschwanden wir Momente später jauchzend und hüpfend in einer gigantischen Rauchwolke.

Hbf Dortmund, 9:08 Uhr. 45 Jahre später stehe ich einem meiner Kindheitsidole gegenüber: Martin Mallek (61). Lokführer. Er strahlt mich an. Soeben ist der Intercity-Express „Passau“ in den Dortmunder Hauptbahnhof aus Aachen eingefahren. Pünktlich.

Zahlreiche Lampen blinken

Mit der Corona-Faust verabschiedet der Eisenbahner seinen Kollegen. Mit einem Schlüssel öffnet er eine Glastür. Dann stehen wir in Martin Malleks Reich. Ein Cockpit zieht sich über die ganze Breite des Fensters. Das Hauptsignal steht bereits auf Grün. Während ich auf einem Klappsitz Platz nehme, über die verwirrend vielen Lämpchen, Hebel und Schalter staune, setzen sich die 900 Tonnen mit 9.000 PS um 9:09 Uhr Richtung Berlin in Bewegung.

„Nur keine Scheu.“ Martin Mallek winkt mich neben sich. Engagiert erklärt er mir seine Werkbank. Die kennt er im Schlaf. Über das Display erhält er wichtige technische Informationen zum gesamten Zug und kann verschiedene Schaltungen vornehmen. Der Bildschirm zeigt ihm seinen Fahrplan oder auch technische Vorgänge im Zug an. Zahlreiche Lampen blinken.

Doppelte Geschwindigkeit bedeutet vierfacher Bremsweg

Er erklärt: Durch das unterschiedliche Aufleuchten der Leuchtmelder erhält er Informationen über die Zugbeeinflussungssysteme an der Strecke. Er sieht die Fragezeichen auf meinem Gesicht. Schmunzelnd erklärt er mir: Bei Verdopplung der Geschwindigkeit vervierfacht sich der Bremsweg. Mit den normalen Signalabständen würde das rechtzeitige Bremsen nicht funktionieren, daher braucht es ein System, was die Fahrt beeinflusst.

Das ist „die Linienzugbeeinflussung (LZB)“, so Mallek. Der Sender im Gleis und unter der Lok zeigt ihm, wie die Strecke auf den nächsten Kilometern aussieht. Die Sender kommunizieren mit dem Stellwerk, den Computern auf der Strecke, dem Lokführer. Martin Mallek verweist auf einen roten Leuchtmelder. Blinkt dieser, ist die Geschwindigkeit zu hoch.

Führerloser Zug im Vollsprint ist ein Hirngespinst

Der Bahner redet sich in einen Fluss. Dabei fressen wir bei 160 km/h förmlich die Schienen. Freie Fahrt. Neben uns stehen die Autos auf der A1 Stoßstange an Stoßstange. Der Lokführer betätigt in regelmäßigen Abständen das Fußpedal unter dem Führertisch. Vergäße er dies, würde der ICE eine Zwangsbremsung einleiten. Durch das Pedal wird sichergestellt, dass der Lokführer arbeitsfähig und wachsam ist. Wie beruhigend. Ein führerloser Zug im Vollsprint ist nur ein Hirngespinst von Hollywood & Co.

Noch 15 Minuten bis Hamm. Alles begann mit einem Kindheitstraum. Martin stand auf der Brücke, wollte unbedingt in den Rauch der Lokomotive … Nach der Schule erlernte er einen normalen Beruf, damals noch eine Voraussetzung, um überhaupt Lokführer werden zu können. Doch 1980 herrscht Lokführermangel wie 2021. Ein Mitbewohner aus dem Haus sahnt eine Vermittlungsprämie von 50 D-Mark ab, vermittelt den frischgebackenen Kfz-Mechaniker an die Bahn.

Kindliche Begeisterung nicht verloren

Er schraubt ein halbes Jahr im Lokschuppen, fuchst sich in die Lokomotiven der Baureihe 110, 111, 141, die Güterzugloks der Serie 150, 151 und die Dampfloks ein. „Diese Berufsentscheidung habe ich bis heute nicht bereut.“ Diese Überzeugung spüre ich ihm an diesem Morgen ab. Hier hat einer seine kindliche Begeisterung nicht verloren.

Während er sich an seinem Tablet zu schaffen macht, hake ich nach. „Was macht für dich die ‚Faszination Lokführer‘ aus?“ Ohne zu zögern schießt es mir entgegen: „Die Freiheit. Ich bin allein. Ich mach meine Tür zu und habe Ruhe. Wenn es läuft, wird man den ganzen Tag nicht gestört.“ Zwischen Dortmund und Berlin läuft es aber derzeit nicht ganz planmäßig. Denn eine Baustelle folgt auf die nächste. Gleise werden neu verlegt, Weichen ausgetauscht, Brücken erneuert. Nach Jahren, in denen mehr in die Straße investiert wurde als in die umweltfreundliche Bahn.

„Da sag mal einer, dass Männer nicht multitaskingfähig sind“

Mallek verweist mich auf sein Tablet. Dort werden ihm die tagesaktuellen, die Wochen-, Monats- und Jahresbaustellen, die Abweichungen zu seinem Bildschirm auf dem Cockpit angezeigt. Mir entfährt: „Da sag mal einer, dass Männer nicht multitaskingfähig sind.“ „Richtig!“, lacht Martin. „Neben der Schiene muss ich auch noch das Handy im Blick haben. Damit kommuniziere ich mit dem Zugführer.“ Ich ahne: Lokführer müssen ein hohes Maß an Konzentration mitbringen: Cockpit, Tablet, Handy, Schiene, Bahnhöfe…

Hbf Hamm, 9:32 Uhr. Pünktlich. Martin Mallek schaut aus dem Fenster. Menschen steigen ein und aus. Der Bildschirm im Cockpit zeigt ihm nur noch eine offene Tür, „die des Zugführers“. Im selben Moment piept sein Handy. Der Chef des Zuges, der Zugführer, gibt ihm grünes Licht. Martin Mallek bestätigt. Das Signal steht auf Grün. Er schiebt den Geschwindigkeitsregler nach vorne …

„Die Idylle muss man sich selbst basteln.“

Ich bohre weiter. „Wie viel Idylle von Lukas, dem Lokomotivführer, steckt noch im Job?“ Martin lacht auf. „Die Idylle muss man sich selbst basteln.“ Er braucht gefühlt keinen Fahrplan mehr, die Zeiten, Strecken und Bahnhöfe sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn er am Rhein entlangfährt, kann er die Schönheiten zwischen Mainz und Bonn, die „Freiheit der Fahrt auch genießen“. Verschmitzt schiebt er hinterher: „Neulinge in der Lok sind verspannter. Für mich gilt inzwischen: möglichst wenig arbeiten, trotzdem effektiv und sicher fahren!“

Herausfordernd bleiben die ständig wechselnden Dienstzeiten, Wochenenddienste, der Stand-by-Modus und die Verdichtung der Arbeit. Gab es früher noch die Möglichkeit zur Übernachtung und Stadtbesichtigung, heißt es heute an einem normalen Arbeitstag: Dienstauftrag aufs Tablet. 8:51 Uhr Dienstbeginn. 15:45 Uhr Berlin Hbf. Pause. Mit der S-Bahn rüber zum Ostbahnhof. Und dann den ICE nach Düsseldorf. Feierabend in Dortmund.

Keine Zeit für Ablenkung

Noch zwölf Minuten bis Gütersloh. Mallek erklärt mir die Bedeutung von Vor- und Hauptsignalen. „Man kann sich nicht erlauben, mal wegzuträumen.“ Trotzdem frage ich nach: Was macht man noch so nebenbei im Cockpit? Vehement entgegnet er mir: „Nichts! Da bleibt keine Zeit für anderes. Es gilt die Strecke zu beobachten.“ Dies tut er. Mit einem Grinsen. Stille.

„Doch was ist, wenn den Lokführer ein großes menschliches Problem befällt?“ Martin lacht. „Dann gilt es, mit Schweißperlen auf der Stirn in den nächsten Bahnhof zu kommen und dem Zugführer zu signalisieren: Du musst mir mal fünf Minuten Zeit geben.“ Zwei Anzeiger im Display liegen gleichauf: Wir liegen im Zeitplan. Martin lehnt sich entspannt zurück.

„Wie viel Spielraum hast du, um Verspätungen aufzuholen?“

„Ärgerst du dich über Verspätung?“ Das „Immer!“ folgt prompt. Mich interessiert, wodurch diese zustande kommen. „Durch Baustellen und die zu hohe Streckenauslastung. Immer mehr Züge auf immer den gleichen Gleisen. Wenn dann ein Zug langsamer ist, gar liegen bleibt, baut sich eine Störung auf.“

Ich hake nach: „Wie viel Spielraum hast du, um Verspätungen aufzuholen?“ Der Bahner erklärt: „Das kommt auf die Streckenverhältnisse, den Zug an. Bei Regenwetter kann ich die Kraft des Zuges nicht so auf die Schiene bringen. Mit meiner Erfahrung hole ich, wenn sie mich lassen und die langsameren Nahverkehrszüge aufs Überholgleis schicken, auch mal zehn Minuten raus.“ Sagt’s und rauscht an einer wartenden Regionalbahn vorbei.

Bahnhof ausgelassen

Noch fünf Minuten bis Gütersloh. „Hast du schon mal vergessen, an einem Bahnhof anzuhalten?“ „Ja, aber nicht in Wolfsburg!“ Lachen. „Sondern?“ „Es gibt öfters Abweichungen von den geplanten Zügen.“ Auf der Fahrt nach Magdeburg sollte er außerplanmäßig in Helmstedt halten. Er fuhr automatisch durch, weil es nicht im normalen Fahrplan stand. Lachend berichtete er: „Der Zugführer rief mich an und sagte mir: ‚Hey Martin, du hast einen Halt ausgelassen‘ …“

Hbf Gütersloh, 9:53 Uhr. Wir lassen heute Gütersloh nicht aus. Pünktlich. Ich verhalte mich still auf meinem Notsitz. Martin Malleks Finger betätigen scheinbar spielend, aber fokussiert Knöpfe und Hebel. Wieder schließen sich alle Türen, sein Handy piept. Er schiebt den Hebel nach vorne … Der ICE nimmt Fahrt auf. Keine 5 km später bremst uns ein gelbes Signal aus. Langsamfahrstelle. Brückenbauarbeiten.

„Sei freundlich zu den Kunden, sie bezahlen dein Gehalt!“

Wir reden über Verantwortung. Ein doppelter ICE transportiert locker mal tausend Menschen. „Das ist Verantwortung, da ist der Zug voll bis unter die Mütze und ich sage mir, heute musst du doppelt aufpassen.“ Martin Mallek erklärt mir seine Grundmotivation: Die Menschen sind das Wichtigste. Kunden gehen vor! Sein Vorgesetzter wird mir dies auf der Rückfahrt bestätigen: Mallek geht es immer um das Wohl der Menschen, oder wie er selbst sagte: Sei freundlich zu den Kunden, sie bezahlen dein Gehalt!

Seinen christlichen Glauben verschweigt der Eisenbahner nicht. „Ich bete vor jeder Zugfahrt, trotzdem kann mir alles passieren.“ Wenn Unregelmäßigkeiten auftreten, auf der Strecke, am Fahrzeug, muss Martin in Sekundenschnelle die richtige Entscheidung treffen. Ich ahne: An dem Job hängt viel dran.

Personen in den Gleisen

Noch 5 Minuten bis Bielefeld. Martin Mallek übernimmt den Gesprächsfaden. „Willst du nicht auch noch die Frage nach Personenschäden stellen?“ Ich zögere. „Personen in den Gleisen gehören dazu. Man darf nicht den Fehler machen, sich schuldig zu fühlen. Man ist unfreiwilliger Zuschauer“, erklärt der Bahner versöhnt, aufgeräumt, ja fast seelsorgerlich. Ich spüre: Hier ist einer im Reinen mit sich, seinem Beruf, mit Gott.

Er schiebt nach: „Als ich als Lehrling an einem Unfall vorbeifuhr, ploppte sie innerhalb weniger Momente in mir auf: die Sinnfrage. Was bleibt vom Leben?“ Zu Hause greift er nach der Bibel. Er stellt fest: Okay, ich verstehe Gott nicht in allem, will ihm aber vertrauen. Martin, der am Hebel für tausende Menschen sitzt, lässt Gott ans Steuer seines Lebens.

„Was macht ein Lokführer in seiner Freizeit?“

Noch 2 Minuten bis Bielefeld. Ein Baumarkt rechts ist für den Lokführer die Wegmarke. Hier muss er anfangen, die Bremsung einzuleiten. Tut er es nicht rechtzeitig, schiebt das Gewicht des Zuges ihn über den Bahnhof hinaus. Schnell frage ich noch: „Was macht ein Lokführer in seiner Freizeit? Fahrpläne auswendig lernen, an einer HO-Modellbahnplatte sitzen?“ Mallek lacht schallend.

„Freizeit?“ Pause. „Ich engagiere mich in einer Kirchengemeinde. Zudem schraube ich gerne. Die Leute stehen Schlange mit ihren defekten Rasenmähern, Mofas und Waschmaschinen. Die bringe ich repariert wieder aufs Gleis.“

Hbf Bielefeld, 10:04 Uhr. Pünktlich. Der Intercity-Express „Passau“ spuckt mich auf den Bahnsteig aus. Ich bin um zwei Erfahrungen reicher: Lokführersein ist mehr als ein Kinderspiel und die Stadt Bielefeld gibt’s in echt.

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO. Er wuchs auf in Sichtweite der ersten deutschen Ferneisenbahnstrecke Leipzig-Dresden. Er lernte u.a. im ICE-Cockpit: Lokführer wie Martin Mallek können zu 99 Prozent nichts für die Verspätungen. Sie freuen sich, wenn Fahrgäste oder eine „ganze Mannschaft nach vorne kommen und sich mit Apfelsinen oder einem kühlen Getränk für die (hoffentlich) wunderbare und störungsfreie Zugfahrt bedanken“.