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Markus Walther (Foto: Maria Majaniemi)

Missbraucht, geschlagen, ausgebeutet: Markus ist trotzdem dankbar

Markus Walther wird im Kinderheim missbraucht und auf einem Bauernhof als „Verdingkind“ ausgebeutet. Heute sagt er: „Ich kann den Menschen Danke sagen, die es nicht gut gemeint haben.“

Guten Tag, Herr Walther. Haben Sie eine schöne Erinnerung an Ihren Vater?

Markus Walther: Als kleiner Junge durfte ich mit meinem Vater mitgehen auf die Tour zum Messerschleifen. Wir waren unterwegs von Haustür zu Haustür mit einem fahrbaren Schleifstein. Ich bekam da immer Süßigkeiten zugesteckt. Wunderbar.

Mit vier Jahren gab Ihr Vater Sie ins Heim. Warum?

Als ich dreieinhalb Jahre alt war, starb meine Mutter. Mein Vater war mit uns drei Kindern und seinem Beruf als Scherenschleifer überfordert. Er gab uns ins Heim.

Im Heim sexuell missbraucht

Fühlten Sie sich im Heim gut aufgehoben?

Nein! (lacht) Nein, definitiv nicht! Ich war mit Abstand der Kleinste in dieser Einrichtung. Es gab zwar keine Prügel, aber psychische Gewalt war an der Tagesordnung. Ich wurde dort von einem jugendlichen Mitbewohner sexuell missbraucht. (Schweigen)

Als Sie sieben Jahre alt waren, wurde das Heim geschlossen. Sie landeten als „Verdingkind“ auf einem Bauernhof. Was ist ein „Verdingkind“?

Als „Verdingkind“ bezeichnet man in der Schweiz Kinder und Jugendliche, die infolge einer Zwangsplatzierung durch Behörden oder Kommunen bis in die 1980er-Jahre in fremde Familien kamen. Als „Verdingkind“ auf einem Bauernhof warst du eigentlich ein Sklave. Es galt, hart zu arbeiten.

„Es gab nur Arbeit“

Wie sah Ihr Alltag auf dem Hof aus? Wie viel Platz war dort für Romantik à la Heidi?

(lacht) Es gab nur Arbeit von morgens früh bis abends spät. Sicher gab es auch schöne Momente, wie ein Fußballspiel nach getaner Arbeit, wenn ich mit dem Traktor fahren durfte oder mir die Nachbarin Comics und Brot schenkte. Das Essen war hervorragend.

Was war dann schwierig?

(Pause) Aus dem Nichts geschlagen zu werden. Immer wieder zu sehen, wie andere Kinder gut behandelt wurden und ich nicht. Zudem war ich Ministrant. Ich bekam das, was mir der Priester über Nächstenliebe erzählte, nicht mit dem zusammen, wie ich von dieser katholischen Familie behandelt wurde. Außerdem war ich Bettnässer. Ich hatte Horror vor jedem Morgen. War das Bett nass, wurde ich trotz meines Flehens „Bitte nicht!“ regelmäßig verprügelt.

„Mein Schädel war 15-mal gebrochen“

Sie erlebten auf dem Bauernhof ein Wunder. Wie sah das aus?

Bei der Arbeit ist mir der Nachbar mit dem Hinterrad seines Traktors über den Kopf gefahren. Mein Schädel war 15-mal gebrochen. Ich wurde 18 ½ Stunden operiert. 30 Tage nach diesem Horrorunfall wurde ich kerngesund ohne Nachfolgeschäden aus dem Spital entlassen.

Sie schilderten Ihrem Vater Ihren Alltag als „Verdingkind“. Der will Ihnen erst nicht glauben, holt Sie dann doch ab. Ende gut, alles gut?

Ja, für zweieinhalb Jahre. Dann ging der Mist von vorne los. Mein Vater heiratete wieder. Es kam ein viertes Geschwisterchen auf die Welt, das leider sieben Stunden nach der Geburt starb. Doch dann erkrankte auch die zweite Frau an Krebs. In dieser Not steckte mich mein Vater vorübergehend wieder ins Heim. Das war dann für immer.

Bauernfamilie zu vergeben noch nicht möglich

Wie gehen Sie mit dem erlebten Kindheitstrauma heute um?

Gar nicht, weil es mir heute damit sehr gut geht. Ich habe keine Mühe mehr mit diesem Leben. Ich bin der, der ich bin, weil ich erlebt habe, was ich erlebt habe. Das Gute und das Schlechte gehören dazu. Ich kann heute auch den Menschen Danke sagen, die es nicht gut gemeint haben. Im Fall der Bauernfamilie bekomme ich dies leider noch nicht hin …

Haben Sie die Bauernfamilie, die Sie ausgebeutet hat, nochmals besucht, zur Rede gestellt?

Als 18-Jähriger bin ich mit zwei Freunden hingefahren. Wir hatten Baseballschläger dabei. Wir wollten ein bisschen Kleinholz machen. Ich bin nach drinnen gegangen, habe ein paar Worte in den Raum geworfen. Die Anwesenden sahen dies aber anders. Ich hatte urplötzlich den Eindruck: Die sind es nicht wert, dass ich mein Leben jetzt ruiniere.

Das letzte Mal war ich dort, mit meinem Mitautor des Buches. Ich hatte ihm vorgeschlagen, all die Orte, die in meinem Buch vorkommen, nochmals zu besuchen. Vor dem Bauernhof lief der Mann herum, der mich am meisten drangsaliert hat. Ich war nicht fähig, näher ranzugehen. Was mir allerdings eingefahren ist: Ich sah den Mann völlig geknickt laufen. Er tat mir plötzlich leid, weil ich sah, dass ihm das Leben offensichtlich jetzt auch etwas aufgeladen hat. Ich habe für ihn gebetet.

„Nach jedem Regen scheint die Sonne“

Welchen Tipp geben Sie Menschen, die ähnliche Kindheitsverletzungen erlebt haben?

Seid euch nicht zu schade für Therapie! Ich habe fünf Jahre gebraucht, um mich aus dem Schlamassel rauszuarbeiten. Und es gibt ein Naturgesetz – das besagt: Nach jedem Regen scheint die Sonne. Immer. Die Sonne hat auch geschienen nach der Sintflut.

Was heißt das für mich? Gott wird dafür sorgen, dass du wieder in der Sonne stehst. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber sie wird scheinen. Bei mir hat dies zwanzig Jahre gedauert. Wenn du knüppeldick in der Scheiße steckst, nimmst du vielleicht gar nicht wahr, dass es Menschen gibt, die es um dich herum gut mit dir meinen. Auch wenn es dir schlecht geht, behalte deine Augen, dein Herzen offen, halte dich an diese Menschen.

Ist Ihnen Gerechtigkeit widerfahren?

In der Schweiz gab es eine Volksabstimmung. Diese Petition wurde von dem Unternehmer und ehemaligen „Verdingkind“ Guido Fluri angestoßen. Es wurden 300 Millionen Schweizer Franken zurückgestellt, um eine finanzielle Wiedergutmachung für die rund fünfstellige Zahl an „Verdingkindern“ zu bewerkstelligen. Mehrmals im Jahr gibt es zusätzlich für diese Betroffenen Ausflüge und Coachingangebote.

Das Leben meinte es an vielen Stellen nicht gut mit Ihnen. Warum bilanzieren Sie trotzdem: Gott meinte es gut mit mir?

Ich bin der, der ich bin, weil ich erlebt habe, was ich erlebt habe. Wie Josef in 1. Mose 50,20 kann ich sagen: „Menschen meinten es schlecht mit mir, Gott hat daraus Gutes werden lassen.“ Im Nachhinein kann ich durch meinen Glauben sagen: Ich war nie allein. Als ich zum christlichen Glauben kam, lief in mir eine Art Film ab. Ich sah, dass an den Stellen meines Lebens, wo es mir nicht gut ging, hilfreiche und beschützende Menschen standen. Gott hatte in all dem Übel seine Finger im Spiel.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

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Geschichtsstunde: Wie ein spanischer Mönch Menschenrechte für Indios erkämpfte

Der Mönch Bartolomé de Las Casas ist Militärgeistlicher der spanischen Eroberer Südamerikas. Als er ein Massaker an den Indios miterlebt, bricht Las Casas mit seinem bisherigen Leben.

„Sie wetteten darauf, wer einen Menschen mit einem einzigen Schwertstreich durchschlagen könne. Die Christen entrissen den Indianern ihre Weiber, bedienten sich ihrer und misshandelten sie. Neugeborene packten sie von den Brüsten ihrer Mütter und schleuderten sie gegen die Felsen. Sie bauten breite Galgen, an die sie zu Ehren des Erlösers und seiner zwölf Apostel immer dreizehn Indianer aufhingen und bei lebendigem Leib verbrannten. Dies habe ich mit eigenen Augen gesehen.“

In Mutters Bäckerei in Sevilla herrscht helle Aufregung, als Papa Pedro und Onkel Francesco im Juni 1496 zurückkehren. Von Christoph Kolumbus‘ zweiter Seereise. Sie waren dabei! In „Hispaniola“, dem heutigen Haiti, hatte Kolumbus 550 versklavte Einheimische an Bord geladen, die Hälfte starb bei der Überfahrt. Jetzt schenkt der berühmte Kapitän der Familie Las Casas einen 14-jährigen „Indianer“. Der Junge ist gleich alt wie Bartolomé. Die beiden freunden sich an.

Zur Strafe Hände abhacken

1502 reist Bartolomé selbst nach Haiti, weil jungen Siedlern dort Landbesitz und Goldfunde versprochen werden. Entsetzt sieht er mit an, wie lokalen Scouts, die ohne Gold aus den Bergen zurückkehren, die Hände abgehackt werden. Statt Bergbau und Landwirtschaft betreibt Bartolomé lieber Theologie und wird 1507 zum Priester geweiht.

Als Feldkaplan spanischer Truppen nimmt er an der Eroberung Kubas teil und hört 1511, wie ein Missionar dem zum Tode verurteilten Indio-Häuptling Hatuey anbietet, noch auf dem Scheiterhaufen getauft zu werden. „Komme ich dann in den Himmel?“, fragt der Todgeweihte. „Ja.“ „Zu den anderen derartig grausamen Christen? Nein, dann will ich lieber in die Hölle.“

Schlimmes Massaker sorgt für Sinneswandel

Als Bartolomé de Las Casas eins der schlimmsten Massaker am Volk der Taínos miterlebt, hört er am ersten Adventssonntag 1511 den Dominikanermönch Antonio de Montesinos predigen. „Mit welchem Recht haltet ihr die Indios in einer so grausamen Knechtschaft? Mit welcher Befugnis habt ihr dieses Volk in ungezählter Menge gemartert und gemordet?“ Der Militärgeistliche der spanischen Eroberer ist tief getroffen.

Bei der Vorbereitung einer eigenen Predigt zu Pfingsten 1514 liest Bartolomé einen Vers aus dem Buch Jesus Sirach 34,25-27: „Kärgliches Brot ist das Leben der Armen und wer es ihnen raubt, ist ein Blutsauger. Den Nächsten mordet, wer ihm den Lebensunterhalt entzieht und Blut vergießt, wer ihm den Lohn raubt.“ Ab jetzt ist ihm klar: Er wird als Priester niemandem die Beichte abnehmen und die Sündenvergebung zusprechen, der Sklaven hält. Die Konquistadoren und Plantagenbesitzer sind empört.

Für Rechte von Sklaven kämpfen

Las Casas „schenkt“ seine eigenen Sklaven dem Gouverneur von Kuba, reist 1515 nach Spanien zurück und erwirkt in einem Gespräch mit König Ferdinand ein neues Gesetz, das ausreichende Ernährung und medizinische Versorgung für die Indios vorschreibt. Ferdinands Thronfolger Kaiser Karl V. ernennt ihn 1516 zum „Prokurator aller Indios in Westindien“.

Karl V. übereignet Las Casas 1520 per Vertrag „das Festland südlich der Inseln“ – was mangels geografischer Kenntnisse so gut wie ganz Südamerika wäre. Als Bartolomé 1521 an der Küste von „Klein Venedig“ (Venezuela) ankommt, haben aufständische Indios nicht nur viele Siedler und Sklavenfänger, sondern auch alle Mönche ermordet. Sein Plan einer friedlichen Missionierung und Koexistenz der Völker ist gescheitert.

Großen Erfolg feiern

Die einzige Kopie des Bordbuchs von Christoph Kolumbus‘ Seereise 1492 besitzt – Bartolomé de Las Casas! Er beginnt, die verharmlosenden Berichte des gefeierten „Entdeckers“ zu kommentieren und eine „Geschichte der indigenen Völker Neuspaniens“ zu schreiben. 1521 zerstört Hernán Cortés das Aztekenreich, 1532 unterwirft Francisco Pizarro die Inkas in Peru.

Bartolomé kennt beide Völkermörder persönlich, reist nach Tenochtitlan und Machu Picchu und plädiert in seiner Schrift „Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder“ für vieles, was wir heute „Menschenrechte“ nennen. Endlich: 1542 erlässt Kaiser Karl V. das gesetzliche Verbot, Einheimische zu versklaven, und ernennt 1543 Las Casas zum „Bischof von Chiapas“ in Mexiko. Damit ist er zwar hochgeehrt, aber auch politisch kaltgestellt.

1546 kehrt er nach Spanien zurück, erwirkt ein gesetzliches Ende aller Eroberungsfeldzüge in Südamerika und stirbt am 18. Juli 1566 in Atocha bei Madrid. Als Chronist des Völkermords und erster Historiker und Theologe, der Sklaverei als Sünde und Verbrechen brandmarkte, wurde der „Apostel der Indios“ noch bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts von spanischen Rechten als „größenwahnsinniger Paranoiker und Beleidigung Spaniens“ bezeichnet.

Andreas Malessa ist Hörfunkjournalist in der ARD, Theologe, Buchautor satirischer Kurzgeschichten, Referent und Moderator auf Veranstaltungen mit religiös-kulturellen, kirchlichen und sozialethischen Themen. Aktuell sind von ihm erhältlich die Titel „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Am Anfang war die Floskel“ (bene!).

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Bordell Deutschland: 90 Prozent aller Prostituierten verkaufen sich unter Zwang

Deutschland hat sich zur Drehscheibe des Menschenhandels entwickelt. Das Nordische Modell, ein Sexkaufverbot, soll dem Einhalt gebieten.

Von Uwe Heimowski

Seit 2001 ist Prostitution in Deutschland eine legale Dienstleistung. Davor galt sie als sittenwidrig und war eine Straftat. Bestraft wurden die (meist weiblichen) Prostituierten – ihre Kunden, die „Sexkäufer“, blieben unbehelligt. Um die Frauen aus der Kriminalisierung zu holen und ihnen die Chance zu geben, sich bei den Sozialversicherungen anzumelden, beschloss der Bundestag – damals mit rot-grüner Mehrheit – das Prostitutionsgesetz („Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“).

Die entwürdigende Situation vieler Frauen, die in der Prostitution arbeiten, habe ich einige Jahre hautnah miterlebt. Von 1990 bis 1995 arbeitete ich bei der Heilsarmee in Hamburg, drei Jahre davon leitete ich eine AIDS-Beratungsstelle. Viele infizierte Frauen waren Prostituierte – ohne Krankenversicherung, ohne funktionierendes soziales Umfeld. Die Verelendung dieser Frauen kann man sich kaum vorstellen. Um dieser Frauen willen war ich ein leidenschaftlicher Befürworter des Prostitutionsgesetzes.

Deutschland wird zum „Bordell“

Doch schon bald zeigte sich: Das Gesetz half den Frauen nicht. Nur eine Handvoll meldete ein Gewerbe an. Und was weder der Gesetzgeber noch die Befürworter des Gesetzes geahnt hatten: Deutschland entwickelte sich unter dem Deckmantel der Legalität zur Drehscheibe des Menschenhandels.

Das Magazin „Der Spiegel“ titelte schon 2013: „Bordell Deutschland. Wie der Staat Frauenhandel und Prostitution fördert.“ Schonungslos wurden die Missstände in unserem Land aufgedeckt. Experten gehen davon aus, dass zwischen 80 und 90 Prozent der geschätzt 400.000 Prostituierten in Deutschland Opfer von Menschenhandel oder Zwang sind. Seither befinden wir uns in einem Dilemma: Frauen sollen geschützt werden, doch erreicht die liberale Gesetzgebung genau das Gegenteil.

Sexkaufverbot hilft

Wie kann man dieses Dilemma auflösen? In Schweden erlebte die Debatte bereits 1999 einen Paradigmenwechsel. Das schwedische Parlament – damals als erstes Parlament der Geschichte mehrheitlich mit Frauen besetzt – beschloss ein Sexkaufverbot, bei dem nicht mehr die Frau, sondern der Sexkäufer bestraft wurde.

Die Opfer wurden also anders als beim herkömmlichen Prostitutionsverbot nicht länger zusätzlich kriminalisiert und machten, weil sie keine strafrechtlichen Konsequenzen zu befürchten hatten, entsprechend auch stärkeren Gebrauch von Hilfsangeboten. Dazu zählten Ausstiegsprogramme zur beruflichen wie seelischen Rehabilitation. Medizinisches Personal, die Behörden und insbesondere die Polizei wurden zahlenmäßig aufgestockt und regelmäßig geschult, besonders im Umgang mit traumatisierten Frauen. Zuhälterei und organisierte Kriminalität im Zusammenhang mit Menschenhandel wurden stärker verfolgt und härter bestraft.

EU empfiehlt „Nordisches Modell“

Das als „Schwedisches Modell“ bekannt gewordene und später – nach Einführung des Gesetzes in Norwegen (2008) und Island (2009) – als „Nordisches Modell“ oder auch „Equality Model“ (Gleichstellungs-Modell) bezeichnete Gesetz entfachte innerhalb der Europäischen Union eine breite, sehr leidenschaftlich geführte Debatte. 2014 verabschiedete das Europäische Parlament mit dem „Honeyball Report“ eine Entschließung, in der es den Mitgliedsstaaten die Einführung des „Nordischen Modells“ empfahl.

Die Entschließung erkennt Prostitution, Zwangsprostitution und sexuelle Ausbeutung als stark geschlechtsspezifisch und als Verstöße gegen die Menschenwürde an und erkennt einen Widerspruch gegen Menschenrechtsprinzipien wie beispielsweise die Gleichstellung der Geschlechter. Sie sei daher mit den Grundsätzen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unvereinbar. Nach dem Nicht-EU-Land Kanada (2014) führten auch Nordirland (2015), Frankreich (2016) und Irland (2017) ein den Sexkauf bestrafendes Gesetz ein. Israel wurde 2020 zum achten Land weltweit.

„Nordisches Modell“ bietet doppeltes Plus

Gegner des „Nordischen Modells“ kritisieren die Einschränkung der Berufsfreiheit und somit der Selbstbestimmung der freiwilligen „Sexarbeiterinnen“. Sie befürchten eine Verschiebung der Prostitution in den Untergrund und einen Anstieg der Gewalt. Evaluationen in Schweden konnten das nicht bestätigen, im Gegenteil: Die Zahl der Gewalttaten ist gesunken.

Befürworter sehen im „Nordischen Modell“ jedoch ein doppeltes Plus: Es setzt unmittelbar an der Situation der Frauen an und hilft ihnen beim Ausstieg, ohne sie zu kriminalisieren. Und außerdem: Das „Nordische Modell“ verändert mittel- und langfristig die gesellschaftliche Einstellung zur Prostitution und zum Umgang mit Frauen.

In Deutschland halte ich das „Nordische Modell“ für überfällig. 2016 wurde – auf Druck der EU – ein Prostituiertenschutzgesetz beschlossen, doch die Maßnahmen (Gesundheitscheck, Verbot, am Arbeitsplatz zu wohnen, Präservativpflicht u.a.m.) sind viel zu kleinteilig oder nicht überprüfbar. Den Frauen helfen sie nicht.

Uwe Heimowski (57) vertritt die Deutsche Evangelische Allianz als deren Beauftragter beim Deutschen Bundestag in Berlin. Er ist verheiratet mit Christine und Vater von fünf Kindern. Von ihm erhältlich: „Der politische Jesus“ (VTR) und „Das Nordische Modell: Eine Möglichkeit für Deutschland?“ (Edition Wortschatz).

Roy Gerber mit seinen Hunden. (Foto: Reto Schlatter)

Roy schmeißt sein Millionärs-Dasein hin – und wird Therapiehundeführer

Roy Gerber besitzt einen BMW, eine Yacht und drei Firmen. Durch seine Golden Retriever-Hündin Ziba verliert er alles – und ist glücklicher als zuvor.

Als Inhaber von drei gutgehenden US-Firmen fährt er einen 7er-BMW, wohnt an der südkalifornischen Pazifikküste, lebt aber meist auf seiner Yacht in Huntington Beach. Er hat den Pilotenschein, besucht gern Pferderennen und lässt bei Frauen nichts anbrennen. Seine Chauffeur-Agentur „Private Driver“ ist in Hollywood beliebt und so feiert Roy Gerber bisweilen mit Sandra Bullock, Cameron Diaz oder den Spielerstars der Baseball- und Football-Szene. Bis er zufällig eines Samstagnachmittags einer alten Dame hilft, Heliumgas-Flaschen in ihren Kofferraum zu wuchten.

Im zweiten Anlauf schafft Gerber das Therapiehundeführer-Zertifikat

„Mit dem Helium blasen wir Luftballons auf. Unsere Gemeinde feiert eine Geburtstagsparty für sexuell missbrauchte Kinder. Kommen Sie doch mit“, sagt die Oma. Als Roy dort seine junge Golden Retriever-Hündin Ziba aus dem Auto springen lässt, ist sie bei den Kindern sofort der Star des Nachmittags.

Ein Hundetrainer fragt, ob er das Tier auf seine Eignung als Therapiehund testen dürfe. Roy ist einverstanden, nimmt an der Prüfung teil. Ergebnis: „Ziba könnten wir sofort gebrauchen. Sie nicht.“ Der ehrgeizige Unternehmer und gebürtige Schweizer nimmt das als Kampfansage. Im zweiten Anlauf macht er das Therapiehundeführer-Zertifikat.

Er lernt Leute der „Mariners Church“ kennen, im Gottesdienst singt ein Gospelchor, der Pastor predigt über Ehekrach und Vergebung. Roy Gerber hat eine geplatzte Verlobung hinter sich und wurde vor Kurzem von seiner neuen Freundin verlassen. „Meine Tränen flossen nur so und doch war ich dabei zutiefst glücklich. Der Gesang des Chores ließ eine geistliche Atmosphäre entstehen, die mich ins Herz traf und meine Sehnsucht nach Gott weckte.“

„Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“

Auf einer Sommerfreizeit für sexuell missbrauchte Kinder im Schulalter – organisiert vom Verein „Ministry Dogs“ der „Mariners Church“, die Mitarbeitenden sind Kinderärzte, Traumatherapeutinnen, ein ehemaliger Undercover-Ermittler des FBI und viele Ehrenamtliche – dürfen die Kinder und Teenies „Briefe an Ziba“ schreiben und die Umschläge offen lassen oder zukleben. In zugeklebten Umschlägen liest sie niemand, auch nach der Freizeit nicht.

Die Briefe in den offenen Kuverts darf Roy Ziba „vorlesen“. Was da an Elend und Schmerz, Demütigungen und sexuellem Sadismus angedeutet wird oder zu lesen ist, reißt ihn endgültig heraus „aus dem ganzen Unternehmer-Tralala und Karriere-Bling-Bling“. Am Abfahrtstag des Sommerlagers – keins der Kinder will nach Hause – steckt ein Mädchen eine rote Feder in Zibas Halsband und sagt zu Roy: „Versprichst du mir, dass du dich um Kinder wie mich kümmerst?“ Es ist sein Berufungserlebnis. „I promise, I promise!“, ruft er heulend dem abfahrenden Bus hinterher.

Vom Millionär zum Tellerwäscher

Roy und sein Hund werden bei Überlebenden kalifornischer Waldbrände, in der Notfallseelsorge der Verkehrspolizei, in Altersheimen und Krankenhäusern therapeutisch eingesetzt. Was für ihn mehr Sinn macht, als Luftfilteranlagen und orthopädische Betten zu importieren oder Promis durch L.A. kutschieren zu lassen.

Mister Gerber verschenkt seine Betten-Importfirma und die „Private Driver“-Agentur an seine Mitarbeiter, weil er weiß: Der Verkauf der Luftfilter-Firma wird ihm Millionen bringen. Doch obwohl seine Anwälte und Banker wasserdichte Kaufverträge ausarbeiten, wird „Air Cleaning Solutions“ nach vier Jahren Rechtsstreit ein Raub mexikanischer Wirtschaftskrimineller.

„Ich hatte als 23-Jähriger in der Schweiz manchmal 35.000 Franken im Monat verdient. Jetzt, mit 39, waren die Millionen futsch und ich ganz unten angekommen.“ Er jobbt bei einer Cateringfirma, studiert Theologie, wird zum „Chaplain“ seiner Gemeinde ordiniert – „Krankenbesuche kannte ich ja, aber Trauungen und Beerdigungen musste ich erst lernen“ – und gründet das „Chili Mobile“ für Obdachlose und Drogenabhängige, eine fahrende Essensausgabe.

Zurück in die Heimat

„Gott bläst einem ja nicht mit dem Alphorn ins Ohr. Er bevorzugt leise Töne“, sagt Roy, als er während einer Gebetszeit dem Impuls folgt, für „Pennerpfarrer“ Ernst Sieber in Zürich zu beten. In den 90er-Jahren ist das „Sozialwerk Ernst Sieber“ ein medienpräsent angesehenes Hilfswerk für Obdachlose, Prostituierte und Drogensüchtige in der Schweiz. Roy ruft ihn an. Einfach so. Und Sieber sagt: „Wir suchen einen Stellvertreter für mich. Komm rüber!“

Es wird das Ende einer bewegten US-Karriere, der Anfang eines neuen Lebens im alten Herkunftsland. Vier Jahre arbeitet Roy Gerber in der „Sonnenstube“ Zürich, hat aber in Gesprächen mit Hilfsbedürftigen oft das Gefühl, nur den Symptomen und nicht den Ursachen abzuhelfen. Der eigeninitiative Gründer in ihm, der Start-up-Unternehmer, scharrt innerlich mit den Hufen.

„Jährlich 50.000 Minderjährige in der Schweiz sexuell missbraucht“

Ihn irritiert, warum in der Schweiz das Thema sexueller Missbrauch so oft mit Schweigen belegt wird. Auch und gerade in christlichen Kreisen. „Laut Medicus Mundi-Studie werden hier jährlich rund 50.000 Minderjährige sexuell missbraucht, ins öffentliche Bewusstsein ploppt das erst, wenn wieder mal ein Kinderporno-Ring entdeckt wird. 55 Prozent der bipolaren Störungen, 80 Prozent der Borderline-Störungen, Magersucht, dissoziative Störungen, Lern- und Konzentrationsschwächen sind oft auf Missbrauch zurückzuführen.

Der wird aber erst vermutet, wenn physische Gewalt nachweisbar ist? Dann sollten die Opfer eine geschützte Gelegenheit bekommen, zu reden. Was sie nicht tun, solange ihre Angst bedrohlicher ist als ein Messer. Aber auch die Angst der Mitarbeitenden muss aufhören, in Kitas, Schulen, Vereinen und Kirchen verdächtige Beobachtungen zu melden. Es geht nicht um Generalverdacht, sondern um qualifizierte Hilfe für verstummte Opfer.“

„Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler“

Roy Gerber, eine Kinderärztin, ein Staatsanwalt, drei Polizisten, zwei Sozialpädagoginnen, ein Treuhänder und etliche beratende Experten gründen 2012 den Verein „Be unlimited“ und dessen „Kummer-Nummer“, eine schweizweite Telefon-Hotline, anonym und kostenlos, täglich rund um die Uhr mit geschulten Zuhörenden besetzt. „Wir sehen keine Nummer auf unseren Displays, es wird nichts aufgezeichnet, wir geben keine Infos an die Polizei, weil das zunächst die Opfer gefährden könnte.

Wir sagen auch nie ’sexueller Missbrauch‘, sondern fragen nach ‚Kummer‘ und nach ‚Ermutigung‘. Wenn ein Kind oder Jugendlicher es wünscht, fahren wir auch hin. Immer zu zweit, immer mit Therapiehunden. Wir sind Wegbereiter und Wegbegleiter, keine Ermittler, sondern Vermittler. Kommt es zu polizeilicher Strafverfolgung, können wir helfen, Kinder in sicheren Pflegefamilien unterzubringen.“

Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt

„Der 17. Dezember 2013 war einer der traurigsten Tage meines Lebens.“ Als Golden Retriever-Hündin Ziba stirbt, ist Roy Gerber todunglücklich. „Sie lag im Helikopter neben mir, wenn wir zu Waldbränden flogen. Sie begleitete mich zu Gefängnisbesuchen und Ferienlagern. Sie tröstete unzählige Kinder in Krankenhäusern und Heimen. Durch Ziba hatte ich meine Berufung gefunden. Jetzt musste ich sie gehen lassen.“ Das Mädchen vom Sommerlager in Kalifornien hat er nie wiedergesehen. Ihre rote Feder aus Zibas Halsband aber, die hat er immer noch.

Andreas Malessa ist Journalist. Aktuell von ihm erhältlich sind die Titel: „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Am Anfang war die Floskel“ (bene!).

Kummer-Nummer: Hast Du Kummer … und bist dir nicht sicher, wohin damit? Und schämst dich, darüber zu sprechen? Weil du unsicher bist, ob etwas, das du erlebt hast, normal ist? Wir können dir weiterhelfen: Tel: 0800 66 99 11; E-Mail: Help@kummernummer.org Anonym, diskret, kompetent, gratis, rund um die Uhr. www.kummernummer.org

Mehr zu Roy Gerber: „Mein Versprechen“ (Fontis)

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Wie Paare Gleichberechtigung leben: „Meine Frau verdient das Geld, ich trage es wieder fort“

Oliver ist Hausmann, während Heiko nicht an die Waschmaschine darf. Wir haben vier Paare gefragt, wie sie ihre Beziehung leben.

Was bedeutet für euch Gleichberechtigung?

Stefan: Nach dem Tod meiner ersten Frau sagten viele: Du brauchst jetzt aber dringend wieder eine Frau für deine vier Kinder. Ich habe über diesen Satz viel nachgedacht.

In der Generation meiner Eltern war es gar nicht denkbar, als Vater für vier kleine Kinder zuständig zu sein, den Haushalt zu managen. Meine erste Liebeserklärung an meine jetzige Frau Brigitte war: Ich brauch dich nicht, aber ich will dich! (allgemeine Heiterkeit)

Oliver: Ich lebe gerade den absoluten Rollentausch. Seit letztem Jahr verdient meine Frau als Sonderpädagogin das Geld und ich kümmere mich um Haushalt, Kinder und Küche.

Kathrin: Oliver war vorher täglich bis zu 14 Stunden als ITler außer Haus. Unsere Rollenteilung lebten wir zwölf Jahre klassisch. Nach vielen, vielen Gesprächen haben wir den Tausch gewagt.

Stefan: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Punkt.

Axel: Richtig! Der Respekt gegenüber meiner Frau macht sich nicht im Sternchen fest, sondern im Handeln.

„Wir werden im Leben niemals fair und gleich behandelt“

Oliver: Das ist doch die Chance und Schwierigkeit unserer Zeit: Beide können arbeiten gehen, beide in Teilzeit arbeiten, der Mann kann zu Hause sein, die Frau darf arbeiten gehen. Dafür ist aber auch alles irgendwie im Fluss, muss ausdiskutiert, abgesprochen und organisiert werden.

Heiko: Ja, wir sind gleichberechtigt. Das Thema ist durch. Doch wir werden im Leben niemals fair und gleich behandelt. Wenn ich mich auf eine Stelle bewerbe, werde ich definitiv besser bezahlt.

Wenn sich eine Frau mit Kindern auf eine Stelle bewirbt, wird sie trotz Sternchen anders behandelt als ein Mann. Umgekehrt: Wenn du als Mann in der Wirtschaft für die Kinder kürzertrittst, kommst du hinterher auch nicht mehr in eine höhere Position.

Maja: Vielleicht müssten wir hier das Wort „gleichgerecht“ gebrauchen? Dann bekommt das Thema eine andere Würze.

„Warum ist das, was jemand zu Hause leistet, weniger wert?“

Wird die Arbeit zu Hause für die Kinder gleich wertgeschätzt wie die außer Haus?

Axel: Nein. Da passiert für mich von staatlicher Seite noch viel zu wenig. (alle nicken) Der, der zu Hause bleibt, hat hinterher die schmalere Rente. Frauen werden schlechter bezahlt und dann im klassischen Rollenmodell auch noch bestraft fürs Kümmern um die Kinder. Hier schlägt’s meinem Gerechtigkeitssinn das Zäpfle hoch!

Oliver: (leidenschaftlich) Genau daran muss sich aber etwas ändern. Warum ist das, was jemand zu Hause leistet, weniger wert, als wenn er den ganzen Tag im Büro rumsitzt?

Stefan: Da bin ich ganz bei dir. Es liegt auch an mir, wie ich diese Rolle ausfülle, präge, lebe. Die Diskussion, ob mit oder ohne Sternchen, geht an mir total vorbei. Ich sage meinen Kindern: Ihr merkt hoffentlich an meinem Verhalten, dass ich mit ganz großem Respekt mit allen Menschen umgehe. Es liegt doch an uns: Wie prägen wir die nächste Generation?

„Manchmal ist es für uns Männer daher einfacher, auf die Arbeit zu gehen, weil du Not und Elend zu Hause nicht siehst“

Ein „Glaubensbekenntnis“ unserer Tage ist: Kinder, Karriere und Beziehung sind miteinander scheinbar problemlos vereinbar. Stimmt das? Muss man Abstriche machen?

Maja: Diese drei Themen sind wie ein Dreieck. Jedes Thema bringt Emotionen und Herausforderungen mit. Es ist ein großes Spannungsfeld. Ja, es funktioniert, aber auf welche Kosten? Wo mache ich Abstriche? Was bleibt auf der Strecke?

Stefan: Als ich alleinerziehend war, stand für mich die Frage im Raum: Woher bekomme ich meinen Wert? Eine Frau aus meinem Umfeld fragte mich: Stefan, woraus beziehst du jetzt deine Anerkennung?

Wenn du für den Haushalt und die Kinder zuständig bist, kommst du maximal auf null, aber nie ins Plus. Das Geschirr, die Wäsche, die Wohnung werden wieder dreckig. Manchmal ist es für uns Männer daher einfacher, auf die Arbeit zu gehen, weil du Not und Elend zu Hause nicht siehst. (allgemeine Heiterkeit)

Axel: Hoffentlich liest das Jugendamt Reutlingen nicht diesen Artikel. (allgemeine Heiterkeit)

„Die wenigsten putzen mit Leidenschaft, sondern sehen darin wie ich das notwendige Übel“

Stefan: Kinder großzuziehen ist nicht jeden Tag die Quelle großer Freude. Und die wenigsten putzen mit Leidenschaft, sondern sehen darin wie ich das notwendige Übel. Wenn du für Geld arbeiten gehst, bekommst du Anerkennung aufs Konto. Die größte Herausforderung ist die: Wo bekommen wir unsere Anerkennung her?

Axel: Widerspruch: Unterschätze mal nicht den Jubelschrei einer 16-Jährigen, die den Schrank aufmacht und ihre Lieblingshose liegt frisch gewaschen darin.

Stefan: Sind das die 95 Prozent des Teenagerlebens in eurer Familie? (alle lachen) Das verstehe ich nicht. (lacht)

Nicole: Ich bin ja bereits acht Wochen nach der Geburt unserer Tochter wieder arbeiten gegangen, da Axel noch mit 50 Prozent studierte. Das kostete mich echt Überwindung, war schwer. Heute bin ich dankbar, dass wir uns diese Herausforderung geteilt haben, diese Vielfalt heute so möglich ist. Ich wäre mit der klassischen Rolle als „nur“ Hausfrau und Mutter nicht glücklich geworden.

„Wir dürfen nicht erst an uns denken, wenn alle To-dos erledigt sind“

Wo habt ihr Dinge miteinander erkämpfen müssen? Was waren Stolperfallen?

Heiko: Familien schultern ein echtes Pensum. Als Eltern sind wir gerade in den Belastungen herausgefordert: Wo bleibt die Liebesbeziehung? Wir können uns als Team super die Bälle zuspielen, doch wo bleibt die Zeit für ein Rendezvous? Wann hatten wir als Paar unser letztes Date?

Paare kneifen den Arsch zusammen, damit alles funktioniert, doch dabei bleibt das Schöne, das Romantische, das, was einem Kraft gibt, ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, auf der Strecke. Wir dürfen nicht erst an uns denken, wenn alle To-dos erledigt sind. Dies passiert nämlich nie.

Wie bekommt ihr beide eine gesunde Balance hin?

Maja: Wir haben uns beide mit Mitte 30 und drei Kindern nochmal für ein Studium entschieden. Das war wirklich ein Rechen-Exempel. Der Mix aus Arbeiten, Studieren, Kinder und Haushalt funktionierte nur mit ganz, ganz viel Absprache. Wir haben finanziell alles zurückgeschraubt, um unseren Traum leben zu können, und wir haben einen Deal: Die Abende gehören in der Regel uns.

Heiko: Wir achten inzwischen sehr darauf, dass wir die privaten Termine, die uns guttun, nicht mehr hinten anstellen. Wir planen im Outlook-Kalender auch private Dinge. Wir müssen darauf achten, dass die Säulen unserer Beziehung stabil sind.

Brigitte: Als Team Balance zu halten, ist eine echte Herkulesaufgabe.

Nicole: Oder ein echter Drahtseilakt.

Kathrin: Die Zeit für uns als Paar kommt auch immer zu kurz. Doch wir schöpfen auch unglaubliche Kraft aus dem Zusammensein mit den Kindern. Da passiert so viel Wesentliches.

„Ohne Humor hätten wir einander erschossen“

Axel: Vor ein paar Monaten hatten wir den Eindruck: Wir sollten ein paar Kilo verlieren. Doch wie passt dies in den vollen Alltag? Wir haben uns für einen Lauf über neuen Kilometer angemeldet. Damit hatten wir ein Ziel, mussten trainieren. Das hat dann dazu geführt, dass wir zweimal die Woche auch mal nach 21 Uhr die Tür hinter uns zumachten und gemeinsam stramm spazieren gingen.

Wir sind miteinander gegangen bei Wind und Wetter. Wir hatten plötzlich 90 Minuten, in denen uns keiner reinquatschte. Mir ging es dann schon so: Hey, ich würde gerne mit dir mal was besprechen, wann gehen wir laufen? Jetzt ist leider der Lauf vorbei …

Stefan: (lacht) Ich empfehle euch als Paar einen Schrittzähler. Wir finden es auch sehr hilfreich, miteinander Erwartungen zu klären. Uns ist zum Beispiel das Thema Geld nicht so wichtig. Geld ist schön zu haben, aber hat nicht die Priorität in unserer Beziehung. Wir brauchen nicht den Urlaub auf den Malediven, sondern genießen den abendlichen Spaziergang, eine gemeinsame Tasse Kaffee.

Brigitte: Und wir teilen einen großen Humor.

Stefan: Sehr richtig! Ohne diesen hätten wir einander schon erschossen. (alle prusten vor Lachen los)

„Ich habe von meiner Frau ein Waschverbot bekommen“

Ihr habt euch scheinbar aus den Stereotypen rausgewagt. Welchen Wandel findet ihr gut? Wo denkt ihr, war es früher vielleicht angenehmer?

Brigitte: Ich finde es toll, dass Stefan einkauft. Er liebt es.

Stefan: Meine Frau verdient das Geld, ich trage es wieder fort. Das ist doch ein guter Wandel. Vor allem kommen jetzt vernünftige Sachen ins Haus. (allgemeine Heiterkeit)

Heiko: Ich habe von meiner Frau ein Waschverbot bekommen. (alle lachen) Ich glaube immer noch, dass ich sehr gut waschen kann (vehement), aber um des lieben Friedens willen bin ich hier einen Schritt zurückgetreten.

Maja: Wir streiten wirklich wenig, doch beim Thema Waschen hat es schon zweimal heftig geknallt: Wie erkläre ich meinem Mann zum wiederholten Male, dass man dunkle und helle Wäsche trennt oder dies oder jenes Kleidungsstück nicht in den Trockner stecken sollte?

Ich habe es ihm erklärt, ein Bild hingehängt … Und er macht es trotzdem. Das Thema Waschen ist eines der wenigen Reizthemen bei uns.

„In puncto Stereotypen haben wir beide eine 180-Grad-Wendung hingelegt“

Heiko: Ich gehe wie Stefan einkaufen. Ein hilfreiches Tool für uns als Paar ist Outsourcing. Allerdings hat meine Frau gesagt: Heiko, du kannst alles outsourcen, das Putzen, das Hemdenbügeln, nur nicht unsere Beziehung.

Oliver: Als ich die Aufwärmfragen „Wer macht was?“ fürs Interview las – einkaufen, waschen, kochen, Kinder für die Schule fertig machen, die defekte LED-Leuchte auswechseln… –, dachte ich mir: Was macht Kathrin eigentlich noch? (alle lachen) Steuererklärung macht Kathrin immer noch nicht.

Das Auto entkrümeln steht auch auf meiner To-do-Liste. Lohnt sich aber nicht, da es nach einer halben Stunde Autofahrt wieder aussieht wie vorher. (zustimmendes Nicken der Männer) Bügeln mache ich nicht, finde ich totale Zeitverschwendung. (Stefan klatscht Beifall)

In puncto Stereotypen haben wir beide eine 180-Grad-Wendung hingelegt. Dieser Wandel funktioniert aber nur in einer tragfähigen Beziehung, indem man Dinge gemeinsam priorisiert und die Bereitschaft mitbringt, sich anzupassen, zurückzunehmen, Solidarität zu leben.

Nach zwölf Jahren voll im Job war es für mich dran: Wenn nicht jetzt, wann dann? Der Wechsel hat für uns als Paar und die Kinder die Chance eröffnet, die Rollen von Mann und Frau nochmal ganz anders und neu wahrzunehmen.

„Wer ist der fremde Mann im Wohnzimmer?“

Jetzt musst du aber ohne die Anerkennung der Kollegen und Kolleginnen auskommen …

Oliver: Mein Höhepunkt der letzten Woche war ein Besuch mit allen vier Kindern beim Ohrenarzt. Als die Ärztin mich sah und sagte: „Respekt, ich habe zwei Kinder, sie kümmern sich um vier!“ – Das hat mir dann doch etwas gegeben!

Stefan: Ich koche immer bei der Aussage: Mein Mann ist IT-ler, ich bin nur Hausfrau. Ich habe das nie gesagt. Ich habe mich immer so vorgestellt: Ich leite ein mittelständisches Familienunternehmen.

Die Frage, die wir uns als Paar, als Gesellschaft stellen müssen, ist doch die: Welchen Wert messen wir den Kindern, den Aufgaben zu Hause bei? Zudem müssen wir uns fragen: Bin ich glücklich? Habe ich eine erfüllende Beziehung? Kennen meine Kinder mich noch aus dem Alltag oder fragen sie: Wer ist der fremde Mann im Wohnzimmer?

„Männer und Frauen, die sich selbst um die Kinder kümmern, werden stigmatisiert“

Heiko: Und wir brauchen als Gesellschaft ein neues Modell. Wie wäre es, wenn die Person, die zu Hause bleibt, auch ein adäquates Gehalt bezieht für die Leistung, die sie für die Gesellschaft erbringt? (Applaus aus vier Städten) Hier läuft meiner Überzeugung nach manches falsch. Da liegt der Hase doch im Pfeffer.

Männer und Frauen, die sich selbst um die Kinder kümmern, werden stigmatisiert nach dem Motto: Die arbeiten nicht bzw. wir müssen als Wirtschaft und Politik dafür sorgen, dass endlich beide Elternteile in Arbeit kommen.

Brigitte: Gerade Männern, die sich noch stark über Arbeit definieren, signalisiert man damit: Haushalt und Kinder sind keine Arbeit.

Stefan: Bin ich nicht! (allgemeine Heiterkeit) Ganz im Ernst. Ich führe Trauergespräche vor Beerdigungen. Da ziehen Leute Bilanz. Wenn mir eine Frau über ihren verstorbenen Mann sagt, er aß gerne Süßigkeiten, dann ist das doch eine dürftige Bilanz eines Männerlebens. Als Männer und Frauen sollten wir uns fragen: Was ist wertvoll? Und dann von dieser Maxime aus unser Leben gestalten.

„In einem Arbeitszeugnis würde man schreiben: Hat sich stets bemüht!“

Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm provozierte kürzlich im SPIEGEL mit dieser Aussage: Etwa jede dritte Mutter wehrt sich gegen zu viel männliches Engagement. Sie nörgelt, wie er sich mit dem Kind beschäftigt, oder gibt ihm vor, was er im Haushalt wie zu erledigen hat. Steckt in dieser Aussage ein Körnchen Wahrheit?

Heiko: Ich habe damit kein Problem, nur meine Frau. (alle lachen)

Nicole: Wenn ich von der Schicht komme, hilft es mir, erst mal tief durchzuatmen. (Axel schlägt die Hände vors Gesicht – allgemeine Heiterkeit)

Axel: In einem Arbeitszeugnis würde man schreiben: Hat sich stets bemüht! (alle lachen)

Kathrin: Bevor ich aus der Familienarbeit „ausgestiegen“ bin, habe ich mir dazu erstaunlich viele Gedanken gemacht. Doch dann konnte ich sehr schnell loslassen. Oliver macht das auch gut!

„Verantwortung abzugeben, ist abgegebene Verantwortung“

Oliver: Nur beim Thema Schule mischt sie sich als Lehrerin doch immer wieder ein. (allgemeine Heiterkeit) Jeder hat seine Art, die Dinge zu tun. Wir müssen uns davon lösen, den anderen zu erziehen, wie wir ihn gerne hätten. Es geht in die Hose, wenn ich dem anderen meinen Stil überstülpe. Verantwortung abzugeben, ist abgegebene Verantwortung.

Stefan: Brigitte legt Wert auf Ordnung in der Küche. Das ist mir schon auch wichtig. (alle lachen) (gespielt energisch:) Ja, vielleicht nicht ganz so ausgeprägt. Ein paar Mal hat sie dann schon zum Lappen gegriffen, bevor sie ihre Jacke überhaupt aus hatte. Ich hatte einen dicken Hals. Ich habe dann meine Verletzung zur Sprache gebracht, dass wenigstens meine Bemühungen gesehen werden. (Kathrin lacht)

„Kommunikation ist der Schlüssel“

Euer Kompromiss sieht jetzt wie folgt aus?

Stefan: Sie nimmt nicht den Lappen, wenn sie zur Tür reinkommt, sondern wischt, wenn überhaupt nötig, nach, wenn ich draußen bin. (alle lachen) Zudem schreibt sie mir jetzt, wann sie da ist. Dann ist der Espresso fertig und die Küche tipptopp.

Maja: Ich würde das gerne unterstreichen. Kommunikation ist der Schlüssel, um die Andersartigkeit des anderen lieben zu lernen. Eine nörgelnde Frau, ein nörgelnder Mann bringt keine Veränderung hervor.

„Ohne meine Frau wäre unsere Ehe unerträglich“

Was beglückt euch im Miteinander?

Heiko: Unsere Liebessprache ist es, Zeit miteinander zu haben, zusammen zu lachen, eine gute Flasche Wein, Zeit im Schlafzimmer.

Stefan: Meine Lieblingspostkarte trägt die Aufschrift: „Ohne meine Frau wäre unsere Ehe unerträglich.“ (allgemeine Heiterkeit) Humor gehört unbedingt dazu!

Nicole: Kleine glückliche Momente im Alltag und dass wir die Chance haben, aus der Vergebung heraus immer wieder neu miteinander anfangen zu dürfen.

Kathrin: Gespräch, Gespräch und nochmals Gespräch, und dass wir uns zu 100 Prozent aufeinander verlassen können.

Herzlichen Dank für eure Offenheit und die humorvollen 1 ½ Stunden!

Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO.

Die Freiwilligen des TuS Ennepetal transportierten mit fünf Sprintern Hilfsgüter nach Polen. (Foto: Eckhard Stolz)

Hilfstransport für die Ukraine: „Ich habe 34 Stunden nicht geschlafen“

Eckhard Stolz fuhr 2.600 Kilometer in zwei Tagen, um Hilfsgüter für geflüchtete Ukrainer zu liefern – mit dem Transporter seines Arbeitgebers. Seinen Chef hatte er nicht um Erlaubnis gefragt.

Eckhard, andere legen nach einer harten Arbeitswoche die Füße hoch. Du bist dagegen 2.600 Kilometer bis zur polnisch-belarussischen Grenze gefahren, um Hilfsgüter abzuliefern. Warum?

Den Krieg in der Ukraine habe ich im Fernsehen verfolgt. Schrecklich. Mir war klar: Ich möchte helfen. Große Reden sind nicht mein Ding, ich muss immer etwas machen – was sinnvoll ist, wo den Menschen geholfen wird …

Und wie kam es dann zu dieser Hilfsgüterfahrt?

Der TuS Ennepetal [ein Fußballverein im Ruhrgebiet / Anmerkung der Redaktion] hat Kontakt zu einem ehemaligen Spieler, der an der polnisch-belarussischen Grenze wohnt und sich jetzt für die Flüchtenden einsetzt. Der Verein hatte entschieden, Hilfsgüter dorthin zu schicken. Ich wollte eigentlich nur als Unterstützung Kartons von meinem Arbeitgeber vorbeibringen, habe dann aber drei Tage beim Packen mitgeholfen.

Am vergangenen Freitagabend gegen 19 Uhr haben die mich dann gefragt: „Eckes, du kommst doch immer mit dem Sprinter?! Uns ist einer ausgefallen. Hast du Lust, in sechs Stunden zur polnisch-belarussischen Grenze aufzubrechen? Wir fahren um zwei Uhr nachts los.“ Naja, und da ich für dieses Wochenende keine Schalke-Karten hatte, war die Sache für mich klar. [lacht]

„Gefragt habe ich nicht wirklich“

Was hat deine Frau dazu gesagt, dass du spontan nach Polen fährst?

Sie fand die Aktion super! Meine Familie stand voll dahinter. Wir haben noch eine zweite Wohnung, die wir bereitstellen würden, falls Geflüchtete nach Nordrhein-Westfalen kommen.

Du bist mit dem Sprinter deines Arbeitgebers gefahren … Wie hat dein Chef darauf reagiert?

Nachdem wir den Wagen mit Hygieneartikeln und etwas Kleidung vollgepackt hatten, habe ich ihm ein Foto davon geschickt. Gefragt habe ich nicht wirklich. [lacht] Ich habe nur gesagt, dass ich dieses Wochenende nach Polen fahre. Nicht dass der denkt: Wo ist der Stolz das ganze Wochenende mit dem Auto? Aber er fand es dann auch eine klasse Idee.

„Es hat richtig Spaß gemacht“

Wie verlief die Fahrt?

Wir haben uns um zwei Uhr nachts am Vereinsheim des TuS Ennepetal getroffen, Zwischenstopps ausgemacht und dann ging es auch schon los. Fünf Sprinter mit je zwei Personen. Wir haben uns viel unterhalten und laut Musik gehört. Jeder hatte Cola und Energy-Drinks dabei, Schokolade und all so‛n Mist. Es hat richtig Spaß gemacht.

Wer war außer dir dabei?

Alles Freiwillige aus dem Sportverein. Typen, die wirklich gerne helfen. Das hast du denen abgespürt. Da hat sich jeder auf die Tour gefreut. Einer suchte noch einen Mitfahrer und hat einen Freund angerufen. Der kam dann extra aus Bremen, hat also weit über 3.000 Kilometer an dem Wochenende zurückgelegt.

Zwischendurch hat man übrigens total viele andere Kleintransporter mit deutschem Kennzeichen gesehen.

„Wir haben die enorme Hilfsbereitschaft der Polen erlebt!“

Was habt ihr am Zielort erlebt?

Am Samstagnachmittag gegen 17 Uhr sind wir an der Lagerhalle im polnisch-belarussischen Grenzgebiet angekommen. Geflüchtete haben wir nicht gesehen, weil es schon spät war und die Lagerhalle außerhalb der Stadt liegt. Wir haben aber die enorme Hilfsbereitschaft der Polen erlebt! Es waren bestimmt 10, 15 Leute da, die kamen und uns beim Ausladen geholfen haben.

Wir haben dann eine Kleinigkeit gegessen, ab aufs Klo und nach einer Stunde sind wir zurückgefahren. Um kurz vor zehn am Sonntagmorgen waren wir wieder in Ennepetal. Ich bin direkt in den Gottesdienst gegangen und danach ins Bett gefallen. Von der Predigt habe ich nicht wirklich viel mitbekommen, denn ich hatte 34 Stunden nicht geschlafen. [lacht]

Habt ihr mit der einen Fuhre schon alle gesammelten Hilfsgüter hingebracht?

Nein, wir hatten nur zwei bis drei Paletten pro Auto dabei. Vier große Lastwagen sind später mit den restlichen 120 Paletten rübergefahren. So viel wurde gesammelt. Die Leute sind echt hilfsbereit, das ist großartig!

Danke für das Gespräch, Eckhard.

Die Fragen stellte Pascal Alius.

Foto: TheoCrazzolara / pixabay

Hätten Sie es gewusst: „O du fröhliche“ ist eigentlich kein Weihnachtslied

Johannes Falk verlor sechs Kinder und beinahe sein eigenes Leben an den Typhus. Dass sein Lied „O du fröhliche“ zu einem Weihnachtsklassiker werden würde, plante er nicht.

Kein Heiligabend ohne „O du fröhliche“. Kennen alle. Rund um die Welt. Der Texter dieses Weihnachtsliedes schrieb es für verwahrloste Kriegswaisen und Straßenkinder. Protestierte gegen die Prügelstrafe, musste sechs seiner eigenen Kinder zu Grabe tragen und blieb trotzdem ein humorvoller Bildungspionier.

Ein Theologiestudent, dem seine Heimatstadt Danzig das Studium finanziert, sollte dankbar dafür sein, oder? Aber der 27-jährige Johannes Daniel Falk an der Uni im sächsischen Halle schmeißt nach vier Jahren alles hin und kehrt 1797 nicht als Pfarrer nach Ostpreußen zurück. Sondern? Schreibt lieber freiberuflich bissige Kommentare zur Tagespolitik! Kann man davon leben? Nein.

In Kontakt mit Goethe und Schiller

Papa Falk daheim an der Ostsee ist Perückenmacher. Er hatte den Jungen mit 10 aus der Schule geholt und in die Werkstatt gesteckt. Die Kundinnen und Kunden sind begüterte Leute, standesbewusste Adlige. Kaum war Johannes mit 16 zurück am Gymnasium, hatte er sich in brillanten Aufsätzen über das vornehme Getue dieser Leute lustig gemacht. Mama Constantia geht in eine fromme „Brüder“-Gemeinde, das religiöse Klima im Lande Immanuel Kants ist aber streng vernunftorientiert und „aufklärerisch“ – Johannes nimmt diese Widersprüche scharfsinnig aufs Korn.

1797 heiratet er Caroline Rosenfeld, zieht mit ihr nach Weimar um und kommt dort durch seinen väterlichen Freund Christoph Martin Wieland, den gebürtigen pietistischen Schwaben, in Kontakt zum berühmten „Dichter-Dreigestirn“ Goethe, Schiller, Herder. „Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satyre“ wird 1803 Falks erstes erfolgreiches Buch in Serie, 1806 ernennt ihn Herzog Carl August zum Legationsrat. Mit 38 Jahren erhält er das erste feste Gehalt! Aber: Vier seiner Kinder sterben an Typhus, er selbst entgeht nur knapp der tödlichen Epidemie.

Vorreiter der Jugendsozialarbeit

Im Oktober 1813 besiegen Preußen und drei alliierte Staaten die französischen Truppen Napoleons bei Leipzig. Diese sogenannte „Völkerschlacht“ hinterlässt rund 100.000 getötete Soldaten, noch mehr schwerstverwundete Arbeitslose und: jede Menge Waisenkinder, Streuner, verwahrloste minderjährige Überlebenskünstler. Johannes Falk gründet mit Weimarer Bürgern die „Gesellschaft der Freunde in der Noth“ (wir würden heute sagen: einen Förderverein) und nimmt 30 Kinder in der eigenen Wohnung auf (!). Ehepaar Falk unterrichtet alle in der „Sonntagsschule“, die Jungen in der „Berufsschule“, die Mädchen in der „Nähschule“. Das wird dem Vermieter der Wohnung zu laut, kein Wunder.

Als zwei weitere Falk-Kinder im Teenageralter sterben, kaufen Johannes und Caroline den (heruntergekommenen) „Lutherhof“. Johannes kontert mit einer Schrift, deren langatmigen Titel heute keine Suchmaschine fressen würde: „Das Vaterunser in Begleitung von Evangelien und alten Chorälen wie solches in der Weimarschen Sonntagsschule mit den Kindern gesungen, durchgesprochen und gelebt wird. Zum Besten eines von den Kindern selbst zu erbauenden Beth- und Schulhauses.“ Was er 1823 nicht ahnen kann: Seine Ideen inspirieren berühmte Sozialreformer und -politiker, sein Weimarer „Rettungshaus“ wird zum Vorreiter evangelisch-diakonischer Jugendsozialarbeit bis heute.

Wie „O du fröhliche“ ein Weihnachtslied wurde

„O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Osterzeit! / Welt liegt in Banden, Christ ist erstanden / Freue, freue dich, o Christenheit. O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Pfingstenzeit! / Christ, unser Meister, heiligt die Geister / Freue, freue dich, o Christenheit.“ Kennt keiner. Nur die erste Strophe – die zu Weihnachten – ist hängen geblieben.

Johannes Falk schreibt 1816 ein „Allerdreifeiertagslied“ für „seine“ Heimkinder. Die Melodie hat er von einem fieberkranken Jungen aus Italien gehört (später wird man herausfinden, dass es „O sanctissima, o pi-issima, dulcis virgo Maria“ hieß). Ein bayerischer Mitarbeiter Falks, Heinrich Holzschuher, dichtet 1826 noch zwei weitere „Weihnachts“-Strophen dazu und macht es damit – unwillentlich – zu einem reinen Weihnachtslied. Aber da ist der „Waisenvater von Weimar“ bereits seit dem 14. Februar 1826 tot. Mit 58 an einer Blutvergiftung gestorben. Caroline und der ehemalige „Zögling“ Georg Renner überführen das private Waisenheim als „Falk’sches Institut“ in kommunalen Besitz. Die Schriften des „Freundes von Scherz und Satyre“ aber zeigen bis heute, dass kindliche Herzensfrömmigkeit, empathisches Sozialengagement und scharfsinnig intellektuelle Zeitkritik kein schlechter Dreiklang sind.

Andreas Malessa ist Hörfunkjournalist in der ARD, Theologe, Buchautor satirischer Kurzgeschichten, Referent und Moderator auf Veranstaltungen mit religiös-kulturellen, kirchlichen und sozialethischen Themen. Im Frühsommer sind von ihm die Titel „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Mann! Bin ich jetzt alt?!“ (adeo) erschienen.

Mehr als ein Sternchen

SERIE: POLITIKBETRIEB VON INNEN

 

Geschlechtergerechtigkeit: Es gibt noch viel zu tun!

Meine Tochter war für neun Monate in Südafrika, internationaler Freiwilligendienst. Sie arbeitete in einem Kindergarten in Mamelodi, einem schwarzen Township in Pretoria. Das meiste ging auf Englisch, aber sie lernte auch ein paar Brocken Xhosa. Natürlich bekam sie von ihren Freunden auch einen einheimischen Kosenamen: Entle. Sie schrieb ihn uns per E-Mail, am Telefon spottete ich liebevoll: „Na, meine schwäbische Entendame.“ Sie protestierte: „Halt, Papa, da ist ein Knacklaut drin: Ent-tschakle.“ Ich versuchte mich daran, und scheiterte kläglich. Wir lachten beide.

Das nächste Mal hörte ich den gleichen Laut neulich in Berlin. Ich unterhielt mich mit einer Praktikantin im Büro eines Abgeordneten. Sie saß alleine im Büro, ich fragte, ob die Kollegen auch da seien. Ziemlich scharf und mit einem bitterbösen Blick kam ihre Antwort: „Die Kolleg-tschak-innen sind zu Tisch.“ Das hatte nun aber nichts mit einem afrikanischen Dialekt zu tun, sondern hier war ich in die Genderfalle getappt – und hatte doch glatt allen weiblichen Abwesenden mit meiner maskulin gefärbten Sprache die Existenz abgesprochen … Übrigens hatte ich bis dahin noch gar nicht gewusst, dass man das Sternchen auch mitspricht.

CHANCENGLEICHHEIT STATT SPRACHPANSCHEREI
Warum dieser – zugegeben etwas spitze – Einstieg? Aus zwei Gründen: Zum einen, weil ich die Verhunzung der deutschen Sprache so verheerend finde, und die überheblich moralinsaure Attitüde dieser Sprachpanscher-tschak-innen so belehrend und arrogant daherkommt, dass ich es wirklich nur schwer ertragen kann.

Und zweitens, weil wir uns hier in unserer westlichen Wohlfühlzone in absurden Debatten über Knacklaute und gegenderte Toiletten verlieren, die mit der tatsächlichen Diskriminierung von Frauen nur wenig zu tun haben. Meiner Meinung nach ist damit das Thema verfehlt. Weltweit sind die Gleichstellung von Frauen und Männern und die nicht vorhandene Chancengleichheit von Mädchen und Jungen ein Riesenproblem. Meine Tochter kann nach ihrem Jahr in Südafrika ein Lied davon singen.

Gender Mainstreaming, also die politisch vordringliche Behandlung von Geschlechterthemen, ist daher definitiv ein Thema, das weltweite Priorität verdient. Der Begriff wurde erstmals 1985 auf der 3. UN-Weltfrauenkonferenz in Nairobi diskutiert und zehn Jahre später auf der 4. UN-Weltfrauenkonferenz in Peking weiterentwickelt. Diese Debatten wurden geführt angesichts der brutalen Berichte von Massenvergewaltigungen während des Jugoslawienkrieges und während des Genozids in Ruanda.

Bis heute sind Frauen nicht nur die strukturell am stärksten betroffenen Opfer von Kriegen, sondern vielfältig benachteiligt. 130 Millionen Mädchen weltweit dürfen nicht zur Schule gehen, häufig, weil sie bereits im Kindesalter zwangsverheiratet wurden. In Südasien und Subsahara-Afrika wurde etwa die Hälfte aller Frauen, die heute 20 bis 24 Jahre alt sind, vor ihrem achtzehnten Geburtstag verheiratet. Die Mehrheit der Armen und der größte Teil aller Analphabeten sind weiblich. Jedes Jahr sterben etwa 300.000 Frauen an Komplikationen während der Schwangerschaft oder der Geburt, 99 Prozent von ihnen in Entwicklungsländern.

Um nicht missverstanden zu werden: Auch in Deutschland gibt es Diskriminierungen und Gewalt gegen Frauen. Zwei Zahlen, die das beispielhaft belegen: 2016 wurden 34.000 Anrufe beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ verzeichnet. Dass das nur die Spitze des Eisbergs ist und gerade viele – vor allem auch sexuelle – Übergriffe gar nicht erst gemeldet werden, hat die #MeToo-Debatte deutlich ans Licht gebracht. Zweitens: 97 % aller Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der Zwangsprostitution sind weiblich, mehrere hunderttausend Frauen werden in unserem Land täglich gegen Geld vergewaltigt. Für einen aufgeklärten demokratischen Rechtsstaat sind diese Zahlen skandalös.

MUTIG ANPACKEN JENSEITS DER STERNCHENFRAGE
Gender Mainstreaming rückt diese Missstände zu Recht ins Bewusstsein. Kein Mensch darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden, das muss ohne Wenn und Aber gelten. Die Vereinten Nationen haben darum in ihre Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs), unter Punkt 5 dieses Ziel aufgenommen: „Geschlechtergleichstellung – der Diskriminierung von Frauen und Mädchen will die UN weltweit ein Ende setzen.“

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es in Artikel 3, Absatz 2: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Dafür braucht es ein Umdenken, von Männern und Frauen, auch ein Nachdenken darüber, wie Männer und Frauen voneinander und übereinander reden. Brot für die Welt formuliert auf seiner Website: „Geschlechtsbedingte Diskriminierung kann nur überwunden werden, wenn sich Frauen und Männer von gewohnten Rollenbildern lösen und sich gemeinsam für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen.“ Absolute Zustimmung. Es gibt viel zu tun. Packen wir es an – und vergeuden unsere Zeit und Kraft nicht an die selbst ernannten Sprachpolizist-tschak-innen.

Uwe Heimowski (54) vertritt die Deutsche Evangelische Allianz als deren Beauftragter beim Deutschen Bundestag in Berlin. Er ist verheiratet mit Christine und Vater von fünf Kindern.

„Das ist ungerecht!“

Menschen fühlen sich benachteiligt. Sie wünschen sich von Politikern die Verbesserung ihrer Lage. Doch wirkliche Gerechtigkeit ist kompliziert.

Ein großes Wort, das erstaunlich oft gebraucht wird. In vielen Parteiprogrammen findet es sich. Und in vielen Zuschriften an Politiker ebenfalls. Dort allerdings meistens als Forderung: „Schaffen Sie – mir! – endlich Gerechtigkeit!“ Am häufigsten kommt es in der Negativform: „Das ist ungerecht!“

Streitpunkt: Rente

Jeder Politiker (und jeder andere Verantwortungsträger in Firmen, Vereinen oder Kirchgemeinden) bekommt es zu hören. Wer Entscheidungen treffen muss, kann ein Lied davon singen. In der vergangenen Legislaturperiode arbeitete der Abgeordnete, für den ich tätig bin, im Ausschuss für „Arbeit und Soziales.“ In unser Tätigkeitsfeld gehörte das Thema „Rente“. Bis heute erhalten wir viele Briefe und E-Mails. Die meisten davon haben den gleichen Tenor: „Das ist ungerecht!“ Anfang 2014 wurde die „Rente mit 63“ beschlossen. Sie zielt darauf, Menschen, die 43 Jahre gearbeitet und Beiträge gezahlt haben, gerechter zu behandeln. Prompt schreibt eine Frau: „Sehr geehrter Herr Abgeordneter, ich bin Jahrgang 1949 und bin mit 60 Jahren in die Altersrente gegangen. Deswegen werden achtzehn Prozent Abschlag fällig. Ich war nie arbeitslos. Finden Sie diese Lösung angesichts des neuen Gesetzes ‚Rente mit 63‘ gerecht? Ich bin der Meinung, dass mir die Altersrente nur um zwei Jahre, also um 7,2% gekürzt werden dürfte.“

Zeitgleich wurde die sogenannte Mütterrente eingeführt. Frauen, die vor 1992 Kinder bekommen haben, werden längere Erziehungszeiten anerkannt. Ist das gerecht? Ein junger Mann meint dazu: „Hallo Herr Abgeordneter, Ihre Partei und Ihr Koalitionspartner bemühen sehr oft das Wort Gerechtigkeit. Halten Sie es für gerecht, das ein großer Teil der Arbeitnehmer um seine verdiente Rentenbeitragssenkung betrogen wurde, um das Wahlgeschenk „Mütterrente“ zu finanzieren? Halten Sie es für gerecht, das die jetzt unter 50-Jährigen in absehbarer Zeit mit stetig sinkenden Rentenzahlungen, aber sich stetig erhöhenden Rentenbeiträgen rechnen müssen?“

Gefühlt benachteiligt

Ich könnte eine ganze Reihe von Briefen anfügen. Fast immer, wenn sich jemand zu Wort meldet, beklagt er (oder sie) jeweils die eigene Rentensituation. Warum sind die Ost- und die Westrenten noch nicht angeglichen? Warum erhalten SED-Funktionäre mehr als Stasi-Opfer? Warum zahlen Beamte keine Rentenbeiträge? Und so weiter und so fort. Natürlich will und soll ich hier nicht über die Rente diskutieren. Auch nicht über Parteien und ihre Programme. Schon gar nicht soll es mir darum gehen, Entscheidungen der einen oder anderen Regierungskoalition zu bewerten. Es geht mir um Gerechtigkeit. Oder besser gesagt: Um die merkwürdige Eigenschaft von Menschen, sich selber nur allzu schnell ungerecht behandelt zu fühlen.

Deshalb ein zweites Beispiel: Vor Kurzem hielt ich im Stadtrat meiner Heimatstadt Gera eine Rede zur Sanierung eines bestimmten Gymnasiums. Das Schulhaus ist baufällig, die Aula ist gesperrt, Fenster lösen sich aus Verankerungen, beim Brandschutz müssen anderthalb Augen zugedrückt werden, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Unsere Stadt habe zwar eigentlich keine finanziellen Spielräume, aber für dieses Dilemma müsse einfach Geld in die Hand genommen werden, forderte ich. Wie haben die werten Kollegen der anderen Parteien reagiert? Na klar: Das sei ungerecht. Auch Gymnasium X und Regelschule Y bräuchten dringend Geld …

Das erinnert ein wenig an die berühmte Geschichte von den beiden Hemden, die Paul Watzlawik in seinem Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ beschreibt: Eine Mutter schenkt ihrem Sohn zwei Hemden. Ein rotes und ein grünes. Er zieht das grüne an, worauf die Mutter sagt: „Ach, und das rote gefällt dir nicht?“ Der arme Bengel hatte keine Chance, es richtig zu machen. Wenn man unter Gerechtigkeit versteht, es allen recht machen zu wollen, ist sie eine Illusion. Gerechtigkeit ist ein Verhältnisbegriff, man kann sich ihr immer nur annähern. Die Lebenslagen von Menschen sind viel zu komplex, als dass man sie vergleichen kann. Bestenfalls lassen sich grobe Ungerechtigkeiten beseitigen. Und darin sind wir in Deutschland mit dem Sozialstaatsprinzip ganz gut – ein kurzer Blick über den Globus reicht, um das festzustellen. Der gleiche Blick zeigt übrigens auch, wie viel es für andere noch zu tun gibt.

Sich für Gerechtigkeit reinknien

In einer alten Legende wird erzählt: Zwei Mönche liegen miteinander im Streit. Sie können sich einfach nicht einigen, denn jeder von beiden fühlt sich im Recht. Schließlich tragen sie dem Abt ihre Sache vor und bitten ihn, den Streit zu schlichten und für Gerechtigkeit zu sorgen. Der Abt möchte eine Nacht Bedenkzeit. Am nächsten Morgen gibt er den beiden Mönchen seine Antwort: „Ihr wollt Gerechtigkeit? Gerechtigkeit gibt es nur in der Hölle, im Himmel regiert die Barmherzigkeit – und auf Erden gibt es das Kreuz!“ Das eigene „Kreuz“ tragen und zugleich für eine gerechtere Welt arbeiten. Das scheint mir im Sinne der Bergpredigt ein guter Ansatz zu sein. Jesus spricht nicht diejenigen selig, die sich ungerecht behandelt fühlen, sondern „die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit.“

Uwe Heimowski (50) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Frank Heinrich, Stadtrat, Vater von fünf Kindern, Ehemann und Gemeindereferent in der Evangelisch freikirchlichen Gemeinde Gera.