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Emotionales Judo: So gehen Sie richtig mit negativen Gefühlen um

Negative Emotionen wie Angst und Wut haben einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, sagen Psychologen. Denn: Sie signalisieren Probleme und können so zu einem besseren Leben verhelfen.

„Und morgen bringe ich ihn um!“ betitelte die langjährige Chefsekretärin Katharina Münk ihre Arbeitsbiografie über den Dschungel des deutschen Top-Management, wo neben echten und selbsterklärten Lichtgestalten auch Machiavellisten, Narzissten und Soziopathen unterwegs sind. „Und morgen bringe ich ihn um!“, werden auch manche kurz über Partner, Arbeitskollegen oder den eigenen Chef gedacht haben, um es zum Segen für den Auslöser dieses inneren Wutausbruchs und das eigene Lebensglück dann doch nicht zu tun.

Wut, Abscheu, Angst und Trauer. Das sind vier der wichtigsten Emotionen, die wir umgangssprachlich und auch die Psychologie im Fachbegriff als „negativ“ labeln. Natürlich kann uns auch die Freude überwältigen, doch damit haben wir meist selbst kein großes Problem und gesellschaftlich akzeptiert ist es auch.

Was aber machen wir mit unseren „negativen Emotionen“? Ausagieren? Uns darin suhlen? Wegdrücken? Wahrscheinlich kennen wir alle diese spontanen Reaktionen; haben schon erlebt und erlitten, dass uns keine dieser drei Strategien wirklich guttut. Die richtige Antwort lautet „Emotionales Judo“ oder wie es die Harvard-Psychologin Susan David nennt: „Emotionale Agilität“.

Endgegner Emotion?

Wenn wir einem übermächtigen Gegner begegnen, der viel stärker ist als wir selbst, hilft keine direkte Konfrontation, allenfalls Ergeben oder Davonlaufen. Oder aber wir nutzen wie die zierliche und agile Black Widow in den Marvel-Filmen, die Kraft dieses Gegners zu unserem Vorteil, um ihn mit Judo-Technik auszuschalten.

Nicht anders ist es mit unseren Emotionen. Auch diese sind so kraftvoll, dass sie uns zu Bestleistungen motivieren oder aber uns völlig lähmen oder zu unbedachten Kurzschlusshandlungen antreiben können.

Emotionen sind mächtig: Nicht umsonst sagen wir, dass uns Angst, Wut oder Trauer „überwältigen“ würden, so als seien unsere Gefühle übermächtige Kämpfer, die stärker sind als wir. Gleichzeitig begegnen uns Appelle wie „Sei doch nicht so emotional!“ oder „Bleiben Sie bitte sachlich!“, in denen Emotionen eher als hinderlich denn als hilfreich erscheinen.

Sind Emotionen also die „bad guys“ unserer Innenwelt? Nein im Gegenteil, unterstreicht der Neurologe Antonio Damasio und berichtet von Menschen, die aufgrund von Hirntraumata keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben: Diese finden trotz klarer und schlüssiger rationaler Überlegungen nicht mehr zu den einfachsten Entscheidungen.

Sein Fazit: Emotionen sind lebensnotwendig und unverzichtbare „Wegweiser“, um durchs Leben zu finden. Sollten wir dann nicht wenigsten versuchen uns auf die positiven Emotionen zu fokussieren? Nein, sagt die Harvard-Psychologin Susan David. Wer Emotionen ausagiert, sich ihnen in Gedanken hingibt oder innerlich wegsperrt, riskiert seine Gesundheit, verliert ihre motivierende Kraft und geht an der Fülle des Lebens vorbei. Was aber kann dann funktionieren?

Annehmen – Wahrnehmen – Lenken

Susan David hat für den gesunden Umgang mit Gefühlen eine Form des Emotionalen Judo entwickelt, die sie als Emotionale Agilität bezeichnet. Sie wendet sich entschieden gegen eine starre moralische Unterteilung von Emotionen in „positive“ und „negative“, die entweder zu fördern oder zu bekämpfen wären. Stattdessen plädiert sie für einen flexiblen oder eben „agilen“ Umgang mit diesen machtvollen Motoren unserer Innenwelt.

Ihr Rat ist es, die volle bewegende Kraft der Emotionen zu nutzen, ohne sie zu bewerten, zu verdrängen oder unkontrolliert nachzugeben. Vielmehr gilt es die Gefühle wie einen mächtigen Fluss als Kraftquelle zu erkennen, zu nutzen und zu lenken und so zum Erreichen der eigenen Ziele und Werte zu nutzen.

Diese Emotionale Agilität ist dabei keine Raketenwissenschaft, sondern ein einfacher innerer Prozess, der sich durch beharrliches Üben immer besser erlernen lässt. Die nötigen vier Schritte lassen sich sinnigerweise auch durch die Merkformel J.U.D.O. beschreiben:

  • J/a sagen zu der konkreten Emotion
  • U/nmittelbaren Impulsen widerstehen
  • D/urchschauen der Emotion
  • O/rientieren und Handeln nach den eigenen Werten

Was ist damit im Einzelnen gemeint?

Ja sagen

Unser Gehirn schleust jede unserer Sinneswahrnehmungen zunächst durch den „emotionalen Teil“ unseres Gehirns, das Limbische System. Anschließend landen diese dort, wo – bei den meisten hoffentlich – der Verstand sitzt, nämlich im Großhirn. Was hier so flapsig ausgedrückt ist, nennt der Nobelpreisträger Daniel Kahneman „schnelles Denken“ im Gegensatz zum verstandesmäßigen „Langsamen Denken“.

Anders als für besser wohlbedachte Lebensentscheidungen brauchen wir für überlebenswichtige Entscheidungen im Dschungel oder im Straßenverkehr (was häufiger der Fall ist) ein „schnelles Denken“, um scheinbare Gefahren abzuwenden. Auch wenn diese sich als ungefährlich erweisen sollten. Wer das Aufblitzen eines Lichtes, das in Wirklichkeit eine zufällige Spiegelung in der Rückscheibe ist, für die Lichthupe eines Lasters hält, wird diesen Irrtum wahrscheinlich überleben. Umgekehrt eher nicht.

Darum sind Angst und Wut, die beiden Signalemotionen für Gefahren, zusammen mit den anderen Gefühlen unserer Psyche so fest verdrahtet. Ohne bewusste Steuerung verursachen diese beiden Gefühle in unserer komplexen Welt der Neuzeit dann leider einen Dauer-Stress, der uns mental und körperlich krank machen kann. Ohne kreative Kontrolle bringen sie uns in Bedrängnis: Wenn wir aus Angst Arbeiten oder wichtige Gespräche vor uns herschieben oder bei Meinungsverschiedenheit im Privatleben und der Arbeitswelt „eskalieren“.

Also doch verdrängen, die Emotionen unter die Knute der Selbstbeherrschung zwingen? Eben nicht, meint Susan David, denn dann stehen uns die wertvollen Informationen, die unsere Gefühle mit sich bringen, und deren Energie nicht mehr zur Verfügung.

Darum empfiehlt sie, die Emotionen zunächst zu akzeptieren. Ja zu sagen dazu, dass die Emotion jetzt da ist, ohne sie zu zensieren. Im Gegenteil, je genauer wir sie benennen, desto genauer finden wir den Weg zur eigentlichen Ursache des Gefühls und die liegt nur zum Teil im Außen.

Doch um diesen Weg zu finden, braucht es zunächst eine Kontaktaufnahme; wie auch im Judo der Gegner (oder meist Partner) nicht freihändig geworfen werden, sondern erst ein enger Körperkontakt nötig ist. Und dann braucht es auch noch einen Zwischenschritt – die Impulskontrolle.

Unmittelbaren Impulsen widerstehen

Haben wir akzeptiert, dass wir in einer Situation starke Emotionen empfinden, geht es im nächsten darum, nicht die naheliegendste Reaktion zuzulassen. Die ist meist eine Form des Widerstandes oder der Flucht.

„Einem Druck gibt man nach, einem Zug geht man nach“, haben mich meine Judo-Meister gelehrt. Also einem Stoß keinen Widerstand entgegensetzen und einem Zerren nachgehen. Darum heißt es im Judo „Siegen durch Nachgeben“.

Ebenso können wir mit Gefühlen besser umgehen, wenn wir sie als Wegweiser betrachten, anstatt als konkrete Handlungsanweisungen. Wenn wir also auf Wut nicht sofort mit Angriff, auf Angst mit Flucht oder auf Trauer oder Abscheu mit Rückzug reagieren.

Dieses Innehalten braucht viel Übung, denn unsere Biologie legt eigentlich die Unmittelbarkeit von Reiz und Reaktion nahe. Bei uns Menschen gibt es zwischen Reiz und Reaktion einen Raum, in dem unsere menschliche Freiheit liegt. So formulierte es der Psychiater und Holocaust-Überlebende Viktor Frankl. Und schon der Apostel Paulus ermahnt die Griechen in Ephesos kurz nach der Zeitenwende: „Zürnt ihr, so sündigt nicht“.

Wie aber können wir diesen Raum zwischen Reiz und Reaktion einnehmen? Unser innerer Dialog kann hier eine Hilfe sein: Ich kann sagen „Ich bin wütend“ und mich so mit der Wut identifizieren und gleichzeitig den Anlass für die Wut tilgen. Oder ich sage „Dieser Satz, diese Tat MACHT mich wütend“ und habe mir damit zumindest den Blick auf die Situation bewahrt, anstatt mich der sprichwörtlichen „blinden Wut“ zu ergeben.

Mit der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg lässt sich diese Entkoppelung von Reiz und Reaktion noch einen Schritt weitertreiben. Wenn wir sagen „Wenn ich diesen Satz hören, diese Tat wahrnehmen, dann empfinde ich Wut“, lösen wir uns von dem unmittelbaren und wie wir gleich sehen werden nicht vollständigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang.

Susan David betont außerdem, wie wichtig es ist, das Gefühl möglichst genau zu benennen. So erkennen wir noch klarer, worauf die Emotion verweist. Das hilft dabei den nächsten Schritt zu gehen, nämlich hinter die Emotion zu blicken und Werte und Bedürfnisse zu erkennen.

Durchschauen der Emotion

Im Judo führt ein Schlag von oben letztlich auf den Boden und ein Judoka, der diesen Schlag nicht abwehrt, sondern aufnimmt, wird seinen Gegner in einer geschmeidigen Kreisbewegung zu Boden bringen. Genauso bei der Emotionalen Agilität, dem Judo mit Gefühlen.

Wenn wir etwa die Angst zulassen, im Beruf bei einer Präsentation zu versagen, können wir erkennen, was wir genau befürchten: Die Angst, zu spät zu kommen, die Technik könnte nicht funktionieren, wichtige Menschen könnten Einwände gegen bestimmte Ideen haben, die Liste ließe sich fortsetzen. Jedes Detail dieser angstmachenden Vorstellung kann zu einem Punkt auf einer Checkliste werden, die den Erfolg absichert. Wenn wir die Angst zulassen, können wir Fluchtimpulse wahrnehmen und in ein produktives Erkennen der möglichen Pannen umleiten.

Hinter der Angst, wie auch hinter den anderen Emotionen wie Wut, Abscheu oder Trauer stehen wichtige Bedürfnisse oder individuelle Werte, die zusammen mit der Situation die Emotion auslösen. Erst die Kombination von Situation und Werten gibt den Emotionen ihre „explosive“ Kraft. Haben wir den Zusammenhang und die Dynamik der Situation erkannt, können wir lenkend eingreifen. So nutzen wir den Schwung und die Energie der Emotion, um unsere Bedürfnisse und Werte zu verfolgen und zu verwirklichen.

Orientieren an den eigenen Werten

Viktor Frankls Satz vom Raum zwischen Reiz und Reaktion zeigt, dass wir diese Freiheit konstruktiv oder destruktiv nutzen können. Eine garstige Bemerkung des Partners kann in einem Streit enden oder darin, dass das schmutzige Geschirr, das den Anlass für die Bemerkung abgab, in einem dosierten Anfall von Arbeits-WUT in Windeseile gespült und verräumt ist.

Dazu braucht es Klarheit über und gelebte Orientierung an den eigenen Werten: Wer in der Beispielsituation den Ärger über das eigene schlechte Gewissen als solchen anerkennen und dem Partner ehrlich kommunizieren kann, der kann dann auch vorweg eine persönliche Erklärung dafür abgeben, wenn es anschließend beim Abspülen etwas lauter zugeht, und so weiteren Streit vermeiden.

Im Judo wird die Energie des Angriffs durch Nachgeben, Kontakt herstellen, Lenken und Weiterführen ausgenutzt und im Wurf in den Boden abgeleitet. Wenn wir entsprechend agil Emotionales Judo anwenden, dann bringen uns unsere starken schützenden Gefühle, die so leicht als negativ abgestempelt werden, in Kontakt mit dem, was uns am wichtigsten ist, sprich unseren Bedürfnissen und Werten. Und wenn wir diese mächtige emotionale Energie nicht durch Unterdrücken oder destruktives Ausagieren vernichten, gelingt es uns immer mehr ein emotional reiches Leben zu führen und unsere Bedürfnisse und Werte verwirklichen.

Anfangen!

Der Weg der Emotionalen Agilität lässt sich wie der sanfte Weg des Judo nicht durch Umlegen eines Schalters gehen, ebenso wenig wie sich der Jakobsweg durch Buchen einer Busreise zum Startpunkt in den französischen Pyrenäen gehen lässt. Das „DO“ in Judo steht im Japanischen für einen Übungsweg, den es lebenslang zu gehen gilt. Auch die Emotionale Agilität braucht Übung, wenn die emotionale Beweglichkeit erlangt und erhalten werden soll. Sinnigerweise steht „DO“ im Englischen auch für TUN. Darin liegt der Erfolg auf dem Weg, Emotionales Judo zu erlernen. Das bedeutet: Anfangen und durchhalten.

Michael Stief  (59) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Nelson Müller (Foto: Nina Stiller Photography)

Starkoch Nelson Müller ließ sich mit 34 Jahren adoptieren

Der Schwabe Nelson Müller ist bekannt als Gastronom, Sterne- und TV-Koch. Ein Gespräch über seine Leidenschaft für gutes Essen, seine Frikadelle für die Queen und seine Familiengeschichte.

Her Müller, was mögen Sie lieber: Maultaschen und Kartoffelsalat oder Linsen mit Spätzle und Saitenwürstchen?

Nelson Müller: (lacht) Schwierige Frage. Beides ist so lecker. Ich möchte auf beides nicht verzichten.

Welches Essen haben Sie als Kind gar nicht gemocht?

Müller: Erbsen und Möhren. Damals gab es dieses Gemüse allerdings auch nur aus der Dose und hatte nichts mit dem frisch gekochten Gemüse zu tun. Auch um Zucchini habe ich zum Leidwesen meiner Mutter einen großen Bogen gemacht.

Wurde Ihnen die Leidenschaft für gute Gerichte schon in die Wiege gelegt?

Müller: Kulinarik war Teil meiner Lebenskultur. Wir haben als Familie immer zusammen gegessen. Am Mittagstisch, beim Abendessen war gutes Essen immer ein Thema.

Das kocht Nelson Müller am liebsten

Wann war Ihnen klar: Ich werde Koch?

Müller: Mit sechs, sieben Jahren war der Wunsch eigentlich schon da.

Welche Gerichte kochen Sie am liebsten und warum?

Müller: Die klassische Küche steht bei mir ganz oben an. Hausmannskost ein bisschen upgegradet, ein bisschen schicker, finde ich spannend und lecker.

Was kocht sich Nelson Müller privat? Oder bleibt die Küche abseits des Berufes kalt?

Müller: (lacht) In der Tat bleibt der Herd zu Hause meist aus, da ich in der Küche mit meinem Team, meinen Gastgeberinnen und Gastgebern esse. Das macht Spaß. Wir kochen immer frisch.

„Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen“

Wann sind Sie als Koch glücklich?

Müller: Wenn es ein guter Abend war mit guten Gästen, wir gut als Mannschaft performt haben. Es beflügelt mich, wenn Energie in der Luft liegt, der Laden brummt, richtig was aus der Küche rausgeht, flotte Sprüche zwischen den Teams hin- und herfliegen.

Geht die Gleichung „lecker gleich aufwendig und kompliziert“ Ihrer Überzeugung nach auf? Verraten Sie uns mal Ihre Kochphilosophie.

Müller: Die Mischung macht’s. Es darf auch mal etwas Aufwendiges sein, dann aber auch wieder etwas überraschend Einfaches. Ich bin für Dramaturgie auf dem Teller und im Gaumen. Es gibt einfach Gerichte, die sind so, wie sie sind, lecker, da muss man sich eher in der Kunst des Weglassens üben.

Warum muss es Ihrer Überzeugung nach auch bei Männern nicht immer nur Fleisch, Fleisch, Fleisch geben?

Müller: Wir tun gut daran, wenn wir etwas für unsere Gesundheit tun. Wir essen zu viel Fleisch. Mit reduziertem Fleischkonsum können wir etwas zum Klima- und Umweltschutz beitragen. Mein Credo lautet: lieber weniger, dafür Qualität. Auch hier heißt es für mich: Abwechslung in die Mahlzeiten bringen. Ich bin so aufgewachsen, da gab es nicht jeden Tag Fleisch. Da kamen auch Pfannkuchen, Nudelgerichte, Suppen, Grünkohlbratlinge auf den Teller.

Die Queen zu Gast

Sie haben für Ihr Kochen einen Michelin-Stern erhalten. Wie fühlte es sich an, als Sie davon erfuhren?

Müller: Das war ein überwältigendes Gefühl! Ich habe lange Zeit in der Sternegastronomie gearbeitet und deshalb war es natürlich auch immer mein Ziel, das auch selbst zu erreichen. Ich hatte es gar nicht für möglich gehalten.

Ist es schwieriger, Sternekoch zu werden oder es zu bleiben?

Müller: Ich glaube, es ist schwieriger, es zu werden. Man muss ja erst mal die Tester überzeugen.

Sie haben auch schon für die jetzt verstorbene Queen gekocht. Wie war das?

Müller: Die Queen hatte sich für einen Besuch in Düsseldorf angekündigt. Klar, das riesige Buffet für solch einen hochkarätigen Gast musste mehr als perfekt sein. Wir haben uns eine Woche lang vorbereitet. Ich war unter anderem für die Frikadellen zuständig. Eine dieser Köttbullar hat die Königin gegessen. Ob es ihr geschmeckt hat, weiß ich nicht. Der Rummel um dieses Essen war jedenfalls gigantisch und aufregend.

Vater Müller als Vorbild

Als Sie auf Sylt die Ausbildung in einem Restaurant begannen, hat man Sie am ersten Tag an die Spüle geschickt, weil man Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe für einen Küchenhelfer hielt. Wie gehen Sie mit dieser Art Rassismus um?

Müller: Inzwischen rede ich nicht mehr über das Thema. Das schwebt bei mir nicht oben drüber. Wir sind eine bunte Gesellschaft. Das ist normal. Punkt. Ich spreche lieber über die Küche, gute Kochbücher, mein Unternehmersein.

Mit vier Jahren kamen Sie in eine deutsche Pflegefamilie. Wie haben Sie Ihren Pflegevater erlebt? Stand dieser auch am Herd?

Müller: Natürlich. Er stand am Herd und am Grill. Meine Eltern waren sehr aufgeklärt und modern. Dies wurde uns auch vorgelebt. Da lernte ich schon, dass Männer im Haushalt helfen, Staub saugen, Küche putzen, Müll rausbringen.

Was sind Eigenschaften, die Sie in erster Linie mit Ihrem Vater verbinden, Werte, die er Ihnen vermittelt hat?

Müller: Mein Vater ist ein sehr zurückhaltender Mensch. Er atmet das Credo: Wer etwas zu sagen hat, muss nicht laut sein. Er konnte sich auch in die zweite Reihe stellen und da etwas bewirken. Er ist Jahrgang 1935 und hat dadurch eine ganz andere Beziehung zu Lebensmitteln und dem Alltagsleben. Jedes Brot wurde gesegnet, vor jedem Essen wurde gebetet. Sauberkeit war für ihn ein wichtiges Thema. Er war als Junge in einem katholischen Knaben-Gymnasium und hatte deshalb schon eine genaue Vorstellung, wie ich mich benehmen sollte. Vater hat als Ingenieur viel Wert auf meine Bildung, mein Allgemeinwissen, meine Sprache gelegt. Das waren wichtige Gesprächsthemen am Essenstisch.

Konflikthemen zwischen Vater und Sohn

Gab es spezielle Sachen, die Sie nur mit Ihrem Vater gemacht haben?

Müller: Wir hatten einen Gemüsegarten. In dem haben wir viel zusammen gearbeitet. Das war für ihn ein Ausgleich zum Alltag. Sonntags sind wir gemeinsam in die Kirche gegangen. Und wir haben viel miteinander musiziert.

Vermutlich gab es in Ihrer Vater-Kind-Beziehung auch Konflikte. Woran haben Sie sich gerieben?

Müller: Ich bin mit der Hip-Hop-Kultur groß geworden. Das war meinem Vater manchmal zu modern. Ich bin zudem von meinem Naturell her Künstler und Musiker. Mein Vater hingegen der klassische Mathematiker. Das sorgte schon für Reibungsenergie, aber heute rettet mich sein Training. Gerade als Unternehmer benötige ich Struktur und kaufmännisches Wissen. Das zahlt dann auf das ein, was er gut findet. (lacht)

Und heute?

Müller: Ist er mir auch als 87-Jähriger ein wertvolles Gegenüber auf Augenhöhe. Er steht hinter mir, stärkt mir den Rücken. Ist stolz auf mich und sagt mir: Nelson, gut gemacht!

„Schwabe mit ghanaischen Wurzeln“

Mit 34 Jahren haben Sie sich von Ihren Eltern adoptieren lassen. Wieso war Ihnen das zu dem Zeitpunkt wichtig?

Müller: Ich habe mich immer von Herzen als ein Müller gefühlt. Wir haben es 30 Jahre gelebt, aber nicht auf dem Papier vollzogen. Mir war es wichtig, das jetzt auch in Form zu gießen und zu signalisieren: Ich gehöre ganz zur Familie.

Müller ist ja sozusagen der deutscheste aller deutschen Namen. Gibt es Eigenschaften, die Sie an sich erkennen, die Sie als typisch deutsch oder gar schwäbisch einschätzen – und umgekehrt Eigenschaften, die so gar nicht dem Klischee des Deutschen oder Schwaben entsprechen?

Müller: Ich bin Schwabe mit ghanaischen Wurzeln. Viele, die mich kennen, sagen: Du bist sehr deutsch. Aber auch die afrikanischen Wurzeln kommen mir zugute: Lockerheit. Sich mit anderen freuen, ihnen etwas gönnen. Dankbarkeit. Ich muss nicht alles so ganz genau nehmen.

Könnte aber beim Kochen schiefgehen …

Müller: (Lachen, gespielt energisch) Da halte ich mich natürlich ganz genau ans vorgegebene Rezept. Im Ernst: Beim Kochen kann ich es auch genau nehmen. Ich kann aber auch mal fünf gerade sein lassen.

„Ich bin Christ“

In der RTL-Aufführung „DIE PASSION“ haben Sie Fladenbrot und Currywurst fürs letzte Abendmahl verkauft. Spielt der christliche Glaube auch in Ihrem wirklichen Leben eine Rolle?

Müller: Ich bin Christ. Ich beschäftige mich damit. Es geht darum, dass wir gute Spuren hinterlassen. Ehrfürchtig sind, verantwortungsvoll vor Gott leben im Sinne von: Was wir von anderen erwarten, ihnen auch zu tun. (Anm. d. Red.: die Goldene Regel aus Matthäus 7,12)

Home-Office. 13:02 Uhr. In einer halben Stunde stehen die hungrigen Kinder vor der Tür. Was würde Nelson Müller auf den Tisch zaubern? Wobei könnte mir Ihr neues Kochbuch helfen?

Müller: (lacht) Verblüffen Sie Ihre Kinder mit Deutschem Döner. Döner einmal anders. Das schmeckt mega!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Nelson Müller hat sich schon einmal von der Nordsee bis zu den Alpen durch deutsche Restaurants gekocht. Seine aktuelle Heimat hat der Sternekoch in Essen gefunden. Dort führt er zwei Restaurants, macht nebenbei Musik und tritt in TV-Sendungen auf. Aufgewachsen ist der fröhliche Koch mit ghanaischen Wurzeln in Stuttgart und somit tief verwurzelt in schwäbischer Hausmannskost. nelson-mueller.de Sein aktuelles Kochbuch ist erschienen mit dem Titel „Gutes Essen – Nachhaltig, saisonal, bewusst“ (DK Verlag).

DEUTSCHER DÖNER

Döner Kebab, das »sich drehende Grillfleisch«, ist seit den 70er-Jahren auch in Deutschland ein beliebter Imbiss. Der Drehspieß mit gewürzten Fleischscheiben – ursprünglich Lamm, aber inzwischen oft auch Rind, Schwein oder Geflügelfleisch – ist ein fester Bestandteil der Fastfood-Szene geworden. Die Leberkäse-Variante ist ein Running Gag bei mir im Lokal – wenn’s schnell gehen soll, bestelle ich mir einen »Deutschen Döner« auf die Faust.

ZUBEREITUNG:

1. Für den Weißkohlsalat den Weißkohl in dünne Streifen schneiden und mit Salz, Pfeffer und Zucker würzen.
2. Essig und Öl zugeben und gut durchkneten. Eine halbe Stunde ziehen lassen.
3. Für die Mayonnaise den Sojadrink mit dem Senf und den Gewürzen in ein hohes Gefäß geben.
4. Mit dem Stabmixer gut durchmischen, nach und nach das Rapsöl untermixen.
5. Mit dem Bieressig abschmecken.
6. Für den Döner die Gurke fein hobeln, den Eisbergsalat in grobe Streifen schneiden, die rote Zwiebel schälen und in feine Streifen schneiden, die Tomate in Scheiben schneiden.
7. Den Leberkäse in Öl anbraten.
8. Die Laugenbrötchen halbieren, die untere Hälfte mit dem Eisbergsalat belegen und mit der Senf-Bier-Mayonnaise beträufeln.
9. Den Leberkäse auflegen, mit Weißkohlsalat, Tomate, Gurke und Zwiebelscheiben belegen und den Deckel auflegen.

WEISSKOHLSALAT

  • 120 g Weißkohl
  • 10 ml Bieressig
  • 30 ml Rapsöl
  • Salz, Pfeffer, Zucker

SENF-BIER-MAYONNAISE

  • 100 ml ungesüßter Sojadrink, zimmerwarm
  • 2 EL süßer Senf
  • 1 TL Senfpulver
  • Salz, Pfeffer
  • 1 Msp. gemahlener Kümmel
  • 1 Msp. Chilipulver
  • 3 Msp. Chiliflocken
  • 160 ml Rapsöl
  • 3 EL Bieressig

DÖNER

  • Salatgurke
  • 4 Blätter Eisbergsalat
  • 1 rote Zwiebel
  • 1 Tomate
  • 4 große Scheiben Leberkäse
  • 10 ml Rapsöl
  • 4 Laugenbrötchen
Symbolbild: Ian Schneider / Unsplash

Neues Jahr, neues Glück: So erreichen Sie Ihre Ziele

Viele gute Vorsätze scheitern an Zeitmangel. Coach Michael Stief erklärt, warum Sie aber weniger in Zeit und mehr in Beziehungen denken sollten.

„Zeit ist eine Illusion, die Mittagszeit erst recht“ heißt es in der Science-Fiction-Satire „Per Anhalter durch die Galaxis“. Eine ebenso skurrile wie zutreffende Beobachtung. Es liegt nie an der Zeit selbst, wenn wir keine Zeit haben: Zeit ist immer verfügbar. An jedem Tag 24 Stunden, 168 Stunden pro Woche, in jedem Monat 720 Stunden, 8.760 in einem Jahr, 613.200 in 70 oder 700.000 in 80 Jahren.

Es sind unsere vielfältigen Beziehungen und Verpflichtungen, die unsere Zeit knapp werden lassen. Aufgaben, die wir übernehmen und Terminzusagen, die wir machen. Unser persönliches „soziales Netzwerk“ ist riesig und mit jeder Beziehung gehen wir auch eine „Verpflichtung“ ein, in Kontakt zu bleiben. Jede Stunde, die wir mit diesen Menschen verbringen, füllt unseren Terminkalender. Es ist wichtig, aktiv zu entscheiden, in welche Beziehungen wir investieren. Damit diese Entscheidung leichter fällt, hilft es in „Beziehungsdimensionen“ zu denken, statt in Zeit und Work-Life-Balance.

Gerade Menschen mit Zeitnöten haben ein eher dickes Adressbuch und so kann es helfen, die unterschiedlichen Beziehungen etwas zu bündeln. Durch eine lange Beschäftigung mit Steuerungs- und Selbstmanagement-Modellen habe ich folgende sechs „Beziehungswelten“ gefunden:

  • die Menschen für die wir arbeiten -> unsere Kunden
  • die Menschen mit denen wir arbeiten -> unsere Teamkollegen
  • die Menschen, die wir mögen und lieben -> unsere besten Freunde & Familie
  • uns selbst mit unseren körperlichen und psychologischen Bedürfnissen
  • unseren Geist, also unsere Lebenseinstellung, Spiritualität oder Gottesbeziehung
  • unsere praktische und mentale „Beziehung“ zu Ressourcen wie Geld, Besitz, Bildung und Finanzen

Wenn Sie zu diesen „Beziehungswelten“ eine Mindmap anfertigen, bekommen Sie schnell einen Überblick, in welche Menschen Sie Zeit investieren wollen. Dadurch vermeiden Sie „Zeitdiebe“. Wenn Sie täglich jeder dieser „Beziehungswelten“ drei Stunden widmen, bringen Sie mühelos acht Stunden Schlaf und acht Stunden Arbeit unter (drei für die Kunden, drei fürs Team und zwei Stunden fürs Selbstmanagement). Auf diese Weise planen Sie von Grund auf ganzheitlich und kein wesentlicher Bereich des Lebens „fällt hinten runter“.

Entwickeln Sie ein Zielbild für Ihr Leben

In der Arbeitswelt sind wir oft mit Zielen konfrontiert, die wir mal weniger, mal mehr auch persönlich bejahen oder als „Karriere“ aktiv verfolgen. Aber auch im Privatleben schwanken wir zwischen unseren Wünschen und den Erwartungen anderer an uns. Es ist dieser Spagat zwischen vorgegebenen, erwarteten und erwünschten Zielvorstellungen, der unser Leben ins „Ungleichgewicht“ bringt, sodass wir nach neuer „Lebensbalance“ hecheln. Nehmen Sie sich deshalb nacheinander jede ihrer sechs „Beziehungswelten“ vor und fragen Sie sich:

  • Was wünsche ich mir für diese Beziehung?
  • Was ist meine Aufgabe und welche persönlichen Werte möchte ich darin verwirklichen?
  • Wie würde es – konkret – aussehen, wenn diese Beziehung blüht und gedeiht?

Dabei ist es gleichgültig, ob dies nun große oder kleine Ziele sind, schöne Einzelaktionen oder regelrechte Lebensziele. Sammeln Sie ungeniert und unzensiert Ideen, Wünsche, Vorhaben, Ziele und Träume.

Vor allem: Halten Sie diese schriftlich fest! Auf losen Blättern, in einem Zielbild-Tagebuch oder in einer Datei auf dem Rechner. So fangen Sie an Ihr Leben zu gestalten, bevor es andere für Sie tun. Sie ersetzen dadurch Vorsätze, die nicht selten durch Unzufriedenheiten getrieben sind, durch positive Ziele und Planung.

Auf diese Weise setzen Sie Ihr Zielbild für Ihr Leben aus den verschiedenen Puzzleteilen von Wünschen, Verpflichtungen und Zielen zusammen. Dadurch entsteht mit der Zeit aus einzelnen unverbundenen und im Moment geborenen Ziele eine viel grundlegendere Lebensvision, die Ihnen und anderen Orientierung, Hoffnung und Kraft geben wird.

Setzen Sie Prioritäten

Je nach Persönlichkeitstyp, Lebensalter oder Ideenreichtum kann dieses Zielbild und seine Bestandteile schnell komplex und umfangreich werden. Mit den folgenden drei Tools lässt sich aber auch in dieses Lebenschaos Ordnung bringen.

Erstens: Priorisieren Sie rigoros Ihre Lebenswelten. Entscheiden Sie sich, was Ihnen am wichtigsten ist: Familie & Freunde, Kunden oder Teamkollegen oder man selbst, Geist oder Ressourcen. Entscheiden Sie sich klar und konsequent für eine Top-Priorität und ordnen Sie die anderen dieser unter.

Zweitens: Schreiben Sie sich ein „Backlog“ nach „Beziehungswelten“ getrennt. In der agilen Führung bezeichnet ein Backlog eine Liste der Aufgaben, um ein komplexes Projekt zum Erfolg zu führen. Dort werden alle Aufgaben an einer Stelle gesammelt und anschließend in Etappen abgearbeitet. Drittens: Priorisieren Sie die sechs Backlogs nach Wichtigkeit und Dringlichkeit. (Eisenhower-Schema)

Setzen Sie sich smarte Ziele

Möglicherweise habe Sie jetzt sechs schöne Listen mit attraktiven Zielen, von denen manche noch einen „Konstruktionsfehler“ haben. Die Ziele sind noch diffus, zeitlich unbestimmt und unrealistisch. Das macht es schwer, sie wirklich zu erreichen.

Ein Beispiel wäre der Wunsch „Einmal nach Japan zu reisen“. Da ist nicht klar, wann, wie lange und wohin es konkret gehen soll.  So lässt sich auch nicht sagen, ob man je genug Geld für den Trip in der Urlaubskasse haben wird. Eine solche Reise kann alles von 2.000 bis 12.000 Euro kosten.

Abhilfe schafft hier die SMART-Formel. Damit lassen sich Ziele leichter und zuverlässiger erreichen. Es geht dabei um folgende Qualitätskriterien:

  • Spezifisch – Es ist klar, mit wem, wo und wann wir ein Ziel erreichen wollen; in welchem Kontext wir ein Ziel anstreben und in welchem vielleicht nicht.
  • Messbar – Das Ergebnis ist klar und positiv umschrieben, entweder zählbar oder konkret wahrnehmbar.
  • Attraktiv – Ist das Ziel für uns wirklich wichtig und wertvoll, sind wir motiviert es zu erreichen? Auch für die Menschen in unserem Umfeld ist es wenigsten akzeptabel oder gar wünschenswert.
  • Realistisch – Das Ziel liegt im Rahmen unserer Möglichkeiten und wir haben die dazu nötigen Fähigkeiten, Mittel oder Macht. Das Ziel ist in machbaren Etappen erreichbar.
  • Terminiert – Es gibt einen konkreten Termin, zu dem das Ziel erreicht sein soll.

Planen Sie also Ihr Leben mit der gleichen „Präzision“ wie eine Urlaubsreise. Aber nicht nur die Klarheit der Zielbestimmung ist wichtig, um die Ziele auch zu erreichen. Auch die Regelmäßigkeit ist entscheidend. Nicht nur einmal den großen Wurf skizzieren, sondern konstant weiter planen. Idealerweise jeden Abend für den folgenden Tag; sonntags für die kommende Woche, einmal im Monat sowie jährlich.

Und immer mal wieder hilft eine generelle Orientierung. Gönnen Sie sich Auszeiten, bei denen Sie Ihre Pläne auf den Prüfstand stellen. Ein Aufenthalt auf einer Berghütte zum anstehenden Jahreswechsel kann ein passender Rahmen sein. Oder auch eine Inselüberquerung wie ich Sie Anfang 2022 an vier Tagen auf Gran Canaria gemacht haben. Da bleibt viel Zeit zum Reflektieren.

Für Ziele einstehen statt „Nein“ sagen

Vielen Menschen fällt es schwer, „Nein“ zu sagen. Teils aus Angst, dass sich das Gegenüber persönlich abgelehnt fühlen könnte. Teils, weil man vielleicht keine schlüssige Begründung parat hat. Wenn wir aber aus Nettigkeit und mangels klarer Ziele fremden Wünschen nachkommen, dann kann das leicht zu Chaos im Leben führen.

Das wusste schon der biblische König Salomo und stellte fest, „Ohne eine Vision kommen die Menschen um“ (Buch der Sprüche 29:18, frei übersetzt nach King James Bible) Damit meinte er sicher auch die sinnstiftende Qualität von ganzheitlichen Lebenszielen. Vor allem aber geben uns Ziele die Möglichkeit zu sagen, wofür wir unsere Zeit einsetzen möchten. Dann brauchen wir nicht länger andere Offerten peinlich berührt abzulehnen, sondern können selbstbewusst sagen, was wir stattdessen vorhaben.

Auf die Frage „Kannst Du mir am Wochenende beim Umziehen helfen?“ könnten wir dann statt einem platten „Nein, ich habe keine Zeit“ antworten mit einem ehrlichen „Grundsätzlich gerne. Doch an diesem Wochenende werde ich ein Paper fertigschreiben, dass am Montag Termin hat“. Wenn wir unsere Ziele bereits im Vorfeld klar kommunizieren, dann kann sich unser Umfeld auch rechtzeitig darauf einstellen oder Einwände anmelden. Dadurch können wir agieren, bevor es in die „heiße Phase“ geht.

Warnung: Rechnen Sie mit Gegenwind

„Planung ersetzt Zufall durch Irrtum.“ Natürlich wird auch bei generalstabsmäßiger Planung und guter Kommunikation nicht jeder Plan gelingen. Schließlich ist das Leben komplex, sind unser Verstand und unsere Willenskraft begrenzt. 

Gerade zum Jahreswechsel nehmen wir uns oft eingefleischte Gewohnheiten vor, die wir nun plötzlich von einem Tag auf den anderen ändern wollen. Auch hartnäckige Gewohnheiten lassen sich ändern, zum Beispiel mit der WOOP-Methode. Besser ist es jedoch, SMARTe Ziele anzuvisieren. Diese sollten eingebettet sein, in eine zunehmend klare Lebensvision, wie wir mit uns wichtigen Menschen zusammenleben wollen.

Selbst dann werden wir noch erleben, dass uns die Zeit ausgeht. Dafür kann es verschiedene Ursachen geben: Unterschätzte Komplexität.  Unerwarteter und nicht nachvollziehbarer Widerstand. Oder im Extrem: die sprichwörtliche Dummheit der anderen, die ein Projekt scheitern lässt. Doch je konsequenter wir die genannten fünf Strategien umsetzen, umso öfter können wir wie Hannibal Smith aus der TV-Serie „A-Team“ sagen: „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.“

Michael Stief (58) ist Experte für Positive Kommunikation, Teamwork und Führung und Gründer des Beratungsnetzwerks POSITIVE HR. MANAGEMENT (positive-hr.de).

Jackson Kivujirwa unterrichtet am Majengo Institute in Goma, Kongo. (Foto: Nils Laengner)

Bürgerkrieg, Vulkanausbrüche, Überfälle: Jackson Kivujirwa lässt sich nicht unterkriegen

Die Menschen in Goma, Kongo, leiden unter Gewalt, Naturkatastrophen und Arbeitslosigkeit wegen Corona. Der Lehrer Jackson Kivujirwa erzählt im Interview, was ihm hilft, nicht zu verzweifeln.

Deine Schüler/-innen begrüßt du oft mit den Worten: „Seid ihr alle glücklich?“ In meinem Schulleben wurde ich das nie gefragt. Mich hat das sehr beeindruckt. Warum machst du das?

Ich mache das wirklich sehr häufig. Du musst wissen, dass die Lebensumstände unserer Schüler/-innen sehr unterschiedlich sind. Da sind Kinder, die am Vorabend nichts zu essen hatten oder keinen Tee zum Frühstück. Das kommt immer wieder vor. Die wirtschaftlichen Umstände führen oft dazu, dass es in Familien Auseinandersetzungen gibt.

Die sonst nicht da wären?

Möglicherweise. Wir hatten in den letzten 25 Jahren immer wieder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen. Außerdem ist der Vulkan Nyiragongo 2002 und 2021 ausgebrochen und hat Verwüstungen in der Stadt hinterlassen. Das bringt schon Unruhe in Familien.

Lehrer mit Empathie

Davon haben wir in Europa keine blasse Ahnung. Aber erzähl doch bitte weiter.

An den Reaktionen der Klasse sehe ich, wem es aktuell nicht gut geht. Diese Person bekommt dann mehr Aufmerksamkeit. Nach dem Unterricht spreche ich dann mit den Betreffenden. Gegebenenfalls bringe ich sie zum Büro der Schulseelsorge.

Ich finde das sehr empathisch und beeindruckend. Nun ist das Majengo Institute ja nicht nur eine der besten Schulen der Region, weil die Lehrkräfte mitfühlend sind. Einer der erfolgreichen Absolventen der Schule ist Djimi Muhindo. Er ist aktuell einer der erfolgreichsten Radsportler des Landes. In einem Gespräch ließ er durchblicken, dass er sich gerne an dich als Lehrer erinnert. Warum wohl?

(lacht) Das hättest du ihn wahrscheinlich selbst fragen müssen! Allerdings kann ich dir von einer Begegnung mit unserem langjährigen Schulsprecher erzählen. Er schätzte es sehr an mir, dass ich bescheiden auftreten würde. Selbst wenn es mal drunter und drüber ginge, wäre ich bereit, mit den Leuten zu reden und ihnen zuzuhören. Weiter sagte er, dass er nie gehört habe, dass ich meine Macht missbraucht hätte. Er habe mich nicht rechthaberisch erlebt, sondern als Moderator oder Vermittler.

Unterschiede im Familienbild zwischen Afrika und Europa

Nun bist du ja nicht nur eine Vaterfigur für deine Schüler/-innen. Du hast selbst auch vier Kinder. In Europa schrecken immer mehr Männer davor zurück, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie befürchten den Verlust von Geld, Freiheit und Unabhängigkeit.

(lacht laut auf): Du veräppelst mich!

Das kommt in der Tat vor.

Da gibt es wohl doch gravierende Unterschiede zwischen unseren Kontinenten. Generell haben Familien in Afrika mehr Kinder als Paare in Europa und den USA. Ich empfinde es als Ehrenbezeichnung, Vater genannt zu werden. Nicht nur wegen der Verantwortung. Kinder sind für mich wie Früchte meines Lebens.

„Kinder sind die Zukunft“

In unserem Kulturkreis dreht sich sehr viel um mich, meine Ziele, meine Wünsche. Das ist bei dir irgendwie anders.

Es geht doch um die Zukunft einer Gesellschaft und auch einer Familie. Beides gehört doch auch zu mir und meiner Identität. Kinder sind davon ein Teil. Kinder können weitertragen, was sie mit ihren Eltern entwickelt haben. Schließlich sterben Menschen ja auch mal. Das kommt doch auch in deiner Kultur vor.

Das setzt aber voraus, dass du dich als Teil einer Gemeinschaft verstehst. Hier wäre das eine Familie. Nun kenne ich aber viele Leute, die sich selbst genügen und fast ausschließlich danach fragen, wie es ihnen gut gehen kann.

(lacht sich schlapp) Wirklich?

Ja, wirklich!

Oh! (Jackson wirkt sehr betroffen, schweigt einige Sekunden und fährt dann fort) Weißt du, was mir Angst macht?

Du wirst es mir hoffentlich sagen.

Es ist dann doch möglich, dass eine Familie ausstirbt, wenn keine Kinder da sind. Das ist doch furchtbar.

Keine Arbeit, kein Geld

Ein interessanter Aspekt! Die Art und Weise, wie wir in Deutschland leben, führt dazu, dass viele Menschen schnell isoliert sind. Sie haben kaum soziale Netzwerke. Das war insbesondere während der virusbedingten Einschränkungen seit März 2020 zu spüren.

Nun, wir hatten große wirtschaftliche Probleme. Gehälter werden meist nur gezahlt, wenn gearbeitet wird – Lockdown hin oder her. Keine Arbeit, kein Geld. Ich habe beispielsweise Obst und Gemüse aus der Region gekauft, um es auf lokalen Märkten zu verkaufen. Gut war aber, dass viele Familien zu Hause miteinander gebetet haben, als die Kirchen geschlossen waren.

Das war ja trotzdem alles ziemlich heftig. Offensichtlich passieren schlimme Dinge auch guten Menschen. Wie wirst du damit fertig?

Viele Menschen in Goma haben große Mühe, ihr Vertrauen in Gott aufrechtzuerhalten. Ich gehöre nicht dazu und bete aufrichtig weiter. Zum Beispiel: Neulich wurden meine Familie und ich nachts in unserem Haus überfallen. Niemand wurde verletzt. Darin sehe ich ein Eingreifen Gottes. Aber glaube mal nicht, dass das einfach wäre! Gut, wir beten, dass Gottes Wille geschehen möge. Dem ordnen wir uns unter. Aber dann gilt es, das durch unser Handeln sozusagen unter Beweis zu stellen. Alles andere zählt nicht.

Was meinst du damit konkret?

Wir sollten auch in Schwierigkeiten auf Gott vertrauen. Zum Beispiel habe ich immer Geld gespendet. Also außer, wenn ich kein Gehalt bekommen habe. Nach dem Überfall habe ich aus dem Ausland Geld bekommen. Davon habe ich auch abgegeben. Es gibt doch immer Menschen, denen es schlechter geht als einem selbst.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Tom Laengner. Er ist ein Kind des Ruhrgebiets. Nach 20 Jahren im Schuldienst startete er neu durch als Autor und Sprecher für Lebensfragen und Globales Lernen. Aktuell schreibt er die Kolumne „Out Of The Box“ für das Internetportal Jesus.de. Sein Sohn Nils Laengner schoss die Fotos (nilslaengner.de). Von ihm erschien 2021 das Fotobuch „Orbit 360“.

Zahnarzt Dr. Marcel Cucu (Foto: Tobias Grimm)

Marcel Cucu flüchtet mit drei Jahren aus Rumänien – heute bringt er Menschen als Zahnarzt zum Lachen

Doktor Cucu ist kein normaler Zahnarzt. Seine Praxis ist knallbunt, Humor ist sein Antrieb. Dabei fing sein Leben überhaupt nicht lustig an.

Dr. Cucu kann nicht still sitzen. Er zupft sich sein buntes Hemd zurecht. Lacht herzlich. Ein Blick auf die Uhr. Zeit ist sein wertvollstes Gut. Marcel Cucu ist ein Exot. Denn Cucu heißt sonst niemand in der Schweiz. Aber auch neben der Einzigartigkeit seines rumänischen Nachnamens fällt Cucu auf, hier in Schaffhausen. Er ist Zahnarzt. Nicht für die faulen Zähne, sondern für Zahnspangen. Kieferorthopäde.

Einen Exoten nenne ich ihn an dieser Stelle auch, weil ihm bei einer zufälligen Begegnung wohl kaum jemand den Beruf Zahnarzt zuordnen würde. Und er fällt aus vielen Gründen auf – zum Beispiel mit seiner Zahnarztpraxis, die alles andere als weiß ist.

Lebensfroh heißt farbenfroh

Hellgrün, Orange, Himmelblau – das sind seine Farben. Angefangen beim Brillengestell. Es ist dick. Und knallig. Er habe mehrere davon, sagt er. Heute trägt er die violette. Kunterbunt, so sieht hier alles aus. Lebensfroh heißt hier farbenfroh. Überhaupt erinnert hier kaum etwas an die sonst so sterile Umgebung einer Arzt- oder eben Zahnarztpraxis.

Das Team trägt bunte Shirts, farbige Sneakers und an den Wänden hängen kunterbunte Kuckucksuhren. Jeder Kuckuck schnellt raus aus seinem Häuschen und ruft – zu jeder Stunde, in jedem Raum. Im Hintergrund läuft moderne Kirchenmusik. Eine Praxis voller Gegensätze. „Es gibt in dieser Welt genügend graue Mäuse. Ich will Farbe ins Leben bringen. Die bunten Farben in meiner Praxis sind für mich ein Abbild meiner Haltung zum Leben. Ein Statement für die Lebensfreude.“

Diese Freude zu leben sei für ihn ein lebenslanges Lernfeld. „Bleib so, wie du bist: Dieses Sprichwort ist für mich das schlimmste von allen. Wenn mir das jemand zum Geburtstag wünscht, dann sage ich ihm: Hör auf!“ Marcel Cucu will lernen. Sich entwickeln. Jeden Tag aufs Neue. Dabei lässt er sich gerne vom Leben treiben: „Ich bin ein spontaner Mensch. Dabei gehen manche Türen auf, andere zu. Ich will einfach mal machen, einfach mal losgehen.“

Auf der Flucht

„Ich bin handwerklich nutzlos„, dachte sich Marcel Cucu schon immer. Doch es kommt anders. Heute ist präzises Arbeiten sein Lebenselixier und der Weg dorthin eine Erfolgsgeschichte mit Stolpersteinen. Alles beginnt 1968 in Rumänien. Politische Unruhen plagen zu dieser Zeit das Land. Und so wird aus der Geschichte des kleinen Marcel die Geschichte eines Nomaden.

Seine Eltern müssen flüchten und lassen ihn bei den Großeltern in Rumänien zurück. Via Sowjetunion und Finnland reisen Cucus nach Schweden. Nach einer jahrelangen politischen Odyssee reist Marcel Cucu mit 3,5 Jahren endlich ebenfalls nach Göteborg. Seine Eltern kämpfen sich hoch. Und werden Zahnärzte. Auch Marcel wird Zahnarzt. Trotz Widerstand seiner Eltern.

Nach Südafrika auswandern

Der Arbeitsmarkt in Schweden ist schwierig. Aber Dr. Cucu lässt sich nicht unterkriegen (nicht das letzte Mal in seinem Leben) und sieht diese Herausforderungen als große Chance auf eine bessere Zukunft. So zieht er mit 22 Jahren nach Italien und wandert kurz darauf nach Südafrika aus.

In Pretoria bildet er sich weiter zum Kieferorthopäden. Hier ist er auf sich allein gestellt und die ganz großen Fragen werden laut. Warum bin ich eigentlich auf dieser Welt? Was soll ich tun? Was ist der Sinn des Lebens? Antworten findet er im christlichen Glauben. Das gibt ihm Kraft und Hoffnung.

„Humor hilft immer“

„Humor ist wichtig. Humor hilft immer“, sagt Marcel Cucu. Man müsse lachen können im Leben. Und überhaupt sei Humor der Antrieb in seinem Leben. Er will Menschen zum Lachen bringen. Und ihnen das Lächeln verschönern. An seinem Beruf fasziniere ihn deshalb besonders, dass er Menschen glücklich machen kann. Nach einer zweijährigen Behandlung wird aus einem schrägen Lächeln plötzlich wieder ein gerades.

Im Zentrum: der Mensch, die Begegnung. „Es ist ganz einfach: Mich begeistern Menschen“, sagt Marcel Cucu. „Auch wenn der Alltag in der Praxis mit einer hohen Geschwindigkeit läuft, will ich, dass sich die Patienten gesehen fühlen.“ Auch darum hat er ein fünfköpfiges Team angestellt – das gebe ihm selbst den Raum, sich Zeit für die Menschen zu nehmen. Den Alltag gut zu planen, schafft die Möglichkeit, im Hier und Jetzt zu sein.

Viel zu tun

Cucu ist voller Tatendrang. Rumsitzen ist nicht sein Ding. 7.000 Patientinnen und Patienten hat Dr. Cucu in den letzten 18 Jahren in seiner Praxis behandelt. Zahnärzte haben viel zu tun. Immer mehr. Das sei vor allem der Zahntechnik zu verschulden, die sich in den letzten Jahrzehnten massiv verbessert hat, sagt er. Kieferorthopädische Behandlungen sind heute schmerzfreier und schneller als früher – und günstiger.

Oft kommen Leute in die Praxis mit Rückenbeschwerden oder Migräne. Den Körper müsse man ganzheitlich anschauen. Alles habe einen Zusammenhang, sagt Cucu. Kieferschrägstellungen können chronische Kopfschmerzen auslösen – keine Luxusprobleme. Dabei haben Zähne viel mit Genetik zu tun. Mit einfachen Mitteln könne aber vieles korrigiert werden. Zum Beispiel nach einem Unfall die Zähne wieder in Stellung zu bringen oder eine Lücke mit anderen Zähnen zu schließen.

Freitag ist Frei-Tag

Über 50 Patient/-innen sind für Marcel Cucu normal – pro Tag. Diese Geschwindigkeit des Alltags ist Lust und Last zugleich. „Dauermüdigkeit und Unzufriedenheit – Gefahr für Burnout als Zahnarzt steigt“, titelte das deutsche Dental Magazin kürzlich und bezieht sich auf eine aktuelle britische Umfrage über die Burnout-Rate von Zahnärzten. Stress und Zeitdruck – eine Dauerbelastung. Ärzte – ob Zahnärztinnen oder Mediziner – sind Arbeitstiere. Waren es schon immer.

Schon Ende der 1980er-Jahre kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass der Zahnarztberuf mehr Stress und stressbezogene Probleme mit sich bringe als die meisten anderen Berufe. Gerade Zahnärzte hätten ein zu 25 Prozent höheres Herzinfarktrisiko als der Durchschnitt der Bevölkerung. Dass er nicht auch ausbrennen will, dafür hat sich der 54-jährige Dr. Cucu bei der Eröffnung seiner Praxis entschieden. Sein Rezept ist so simpel wie bestechend: „Der Freitag ist mein Frei-Tag.“

Dieser Tag heiße ja nicht umsonst so. Also mache er frei. Und auch seine Praxisassistentinnen haben jeden Freitag den bezahlten Frei-Tag. Gas geben und Pause machen. Das gibt Platz für Relevantes im Leben. Luft zum Atmen. Zeit für die Familie, für sich und Freunde. Ein Tag zum Sein, zum Kochen und Biken. Ohne diesen bewussten Frei-Tag hätte er wohl schon lange einen Burnout, sagt er.

Ein Nomade, der sesshaft wurde

Rumänien, Schweden, Italien, Südafrika, Schweiz. Die Liste ist lang. „Ich fühle mich überall wohl“, sagt Marcel Cucu. Er fühle sich da zu Hause, wo er gerade sei. Seit 22 Jahren ist es nun die Schweiz. Wichtig sind ihm dabei die Menschen. Das zeigen auch die kunstvollen Porträtbilder von Menschen aus aller Welt, welche die Wände zwischen den Kuckucksuhren seiner Praxis zieren: „Ein Lächeln sagt so viel über einen Menschen aus.“

Marcel Cucu ist Geschäftsmann, aber auch ein Menschenfreund. Dass dabei das Streben nach einem ausgeglichenen Leben nicht in Vergessenheit gerät, macht Hoffnung für unsere Gesellschaft. Dieses Fragen nach dem Haben oder Sein und dem Ringen nach einer Haltung für ein besseres Leben erinnert an den Philosophen Erich Fromm, der sagte: „Wenn ich bin, der ich bin, und nicht, was ich habe, kann mich niemand berauben oder meine Sicherheit und mein Identitätsgefühl bedrohen. Mein Zentrum ist in mir selbst.“

Tobias Grimm ist selbstständiger Grafiker, Multimedia-Produzent und freier Journalist. Er lebt mit seiner Frau in Bern. Er mag Fragen, Menschen und den Flugmodus. tobiasgrimm.ch

Markus Walther (Foto: Maria Majaniemi)

Missbraucht, geschlagen, ausgebeutet: Markus ist trotzdem dankbar

Markus Walther wird im Kinderheim missbraucht und auf einem Bauernhof als „Verdingkind“ ausgebeutet. Heute sagt er: „Ich kann den Menschen Danke sagen, die es nicht gut gemeint haben.“

Guten Tag, Herr Walther. Haben Sie eine schöne Erinnerung an Ihren Vater?

Markus Walther: Als kleiner Junge durfte ich mit meinem Vater mitgehen auf die Tour zum Messerschleifen. Wir waren unterwegs von Haustür zu Haustür mit einem fahrbaren Schleifstein. Ich bekam da immer Süßigkeiten zugesteckt. Wunderbar.

Mit vier Jahren gab Ihr Vater Sie ins Heim. Warum?

Als ich dreieinhalb Jahre alt war, starb meine Mutter. Mein Vater war mit uns drei Kindern und seinem Beruf als Scherenschleifer überfordert. Er gab uns ins Heim.

Im Heim sexuell missbraucht

Fühlten Sie sich im Heim gut aufgehoben?

Nein! (lacht) Nein, definitiv nicht! Ich war mit Abstand der Kleinste in dieser Einrichtung. Es gab zwar keine Prügel, aber psychische Gewalt war an der Tagesordnung. Ich wurde dort von einem jugendlichen Mitbewohner sexuell missbraucht. (Schweigen)

Als Sie sieben Jahre alt waren, wurde das Heim geschlossen. Sie landeten als „Verdingkind“ auf einem Bauernhof. Was ist ein „Verdingkind“?

Als „Verdingkind“ bezeichnet man in der Schweiz Kinder und Jugendliche, die infolge einer Zwangsplatzierung durch Behörden oder Kommunen bis in die 1980er-Jahre in fremde Familien kamen. Als „Verdingkind“ auf einem Bauernhof warst du eigentlich ein Sklave. Es galt, hart zu arbeiten.

„Es gab nur Arbeit“

Wie sah Ihr Alltag auf dem Hof aus? Wie viel Platz war dort für Romantik à la Heidi?

(lacht) Es gab nur Arbeit von morgens früh bis abends spät. Sicher gab es auch schöne Momente, wie ein Fußballspiel nach getaner Arbeit, wenn ich mit dem Traktor fahren durfte oder mir die Nachbarin Comics und Brot schenkte. Das Essen war hervorragend.

Was war dann schwierig?

(Pause) Aus dem Nichts geschlagen zu werden. Immer wieder zu sehen, wie andere Kinder gut behandelt wurden und ich nicht. Zudem war ich Ministrant. Ich bekam das, was mir der Priester über Nächstenliebe erzählte, nicht mit dem zusammen, wie ich von dieser katholischen Familie behandelt wurde. Außerdem war ich Bettnässer. Ich hatte Horror vor jedem Morgen. War das Bett nass, wurde ich trotz meines Flehens „Bitte nicht!“ regelmäßig verprügelt.

„Mein Schädel war 15-mal gebrochen“

Sie erlebten auf dem Bauernhof ein Wunder. Wie sah das aus?

Bei der Arbeit ist mir der Nachbar mit dem Hinterrad seines Traktors über den Kopf gefahren. Mein Schädel war 15-mal gebrochen. Ich wurde 18 ½ Stunden operiert. 30 Tage nach diesem Horrorunfall wurde ich kerngesund ohne Nachfolgeschäden aus dem Spital entlassen.

Sie schilderten Ihrem Vater Ihren Alltag als „Verdingkind“. Der will Ihnen erst nicht glauben, holt Sie dann doch ab. Ende gut, alles gut?

Ja, für zweieinhalb Jahre. Dann ging der Mist von vorne los. Mein Vater heiratete wieder. Es kam ein viertes Geschwisterchen auf die Welt, das leider sieben Stunden nach der Geburt starb. Doch dann erkrankte auch die zweite Frau an Krebs. In dieser Not steckte mich mein Vater vorübergehend wieder ins Heim. Das war dann für immer.

Bauernfamilie zu vergeben noch nicht möglich

Wie gehen Sie mit dem erlebten Kindheitstrauma heute um?

Gar nicht, weil es mir heute damit sehr gut geht. Ich habe keine Mühe mehr mit diesem Leben. Ich bin der, der ich bin, weil ich erlebt habe, was ich erlebt habe. Das Gute und das Schlechte gehören dazu. Ich kann heute auch den Menschen Danke sagen, die es nicht gut gemeint haben. Im Fall der Bauernfamilie bekomme ich dies leider noch nicht hin …

Haben Sie die Bauernfamilie, die Sie ausgebeutet hat, nochmals besucht, zur Rede gestellt?

Als 18-Jähriger bin ich mit zwei Freunden hingefahren. Wir hatten Baseballschläger dabei. Wir wollten ein bisschen Kleinholz machen. Ich bin nach drinnen gegangen, habe ein paar Worte in den Raum geworfen. Die Anwesenden sahen dies aber anders. Ich hatte urplötzlich den Eindruck: Die sind es nicht wert, dass ich mein Leben jetzt ruiniere.

Das letzte Mal war ich dort, mit meinem Mitautor des Buches. Ich hatte ihm vorgeschlagen, all die Orte, die in meinem Buch vorkommen, nochmals zu besuchen. Vor dem Bauernhof lief der Mann herum, der mich am meisten drangsaliert hat. Ich war nicht fähig, näher ranzugehen. Was mir allerdings eingefahren ist: Ich sah den Mann völlig geknickt laufen. Er tat mir plötzlich leid, weil ich sah, dass ihm das Leben offensichtlich jetzt auch etwas aufgeladen hat. Ich habe für ihn gebetet.

„Nach jedem Regen scheint die Sonne“

Welchen Tipp geben Sie Menschen, die ähnliche Kindheitsverletzungen erlebt haben?

Seid euch nicht zu schade für Therapie! Ich habe fünf Jahre gebraucht, um mich aus dem Schlamassel rauszuarbeiten. Und es gibt ein Naturgesetz – das besagt: Nach jedem Regen scheint die Sonne. Immer. Die Sonne hat auch geschienen nach der Sintflut.

Was heißt das für mich? Gott wird dafür sorgen, dass du wieder in der Sonne stehst. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber sie wird scheinen. Bei mir hat dies zwanzig Jahre gedauert. Wenn du knüppeldick in der Scheiße steckst, nimmst du vielleicht gar nicht wahr, dass es Menschen gibt, die es um dich herum gut mit dir meinen. Auch wenn es dir schlecht geht, behalte deine Augen, dein Herzen offen, halte dich an diese Menschen.

Ist Ihnen Gerechtigkeit widerfahren?

In der Schweiz gab es eine Volksabstimmung. Diese Petition wurde von dem Unternehmer und ehemaligen „Verdingkind“ Guido Fluri angestoßen. Es wurden 300 Millionen Schweizer Franken zurückgestellt, um eine finanzielle Wiedergutmachung für die rund fünfstellige Zahl an „Verdingkindern“ zu bewerkstelligen. Mehrmals im Jahr gibt es zusätzlich für diese Betroffenen Ausflüge und Coachingangebote.

Das Leben meinte es an vielen Stellen nicht gut mit Ihnen. Warum bilanzieren Sie trotzdem: Gott meinte es gut mit mir?

Ich bin der, der ich bin, weil ich erlebt habe, was ich erlebt habe. Wie Josef in 1. Mose 50,20 kann ich sagen: „Menschen meinten es schlecht mit mir, Gott hat daraus Gutes werden lassen.“ Im Nachhinein kann ich durch meinen Glauben sagen: Ich war nie allein. Als ich zum christlichen Glauben kam, lief in mir eine Art Film ab. Ich sah, dass an den Stellen meines Lebens, wo es mir nicht gut ging, hilfreiche und beschützende Menschen standen. Gott hatte in all dem Übel seine Finger im Spiel.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Symbolbild: Getty Images / E+ / VioletaStoimenova

Arzt ist überzeugt: Ein Ruhetag die Woche verbessert die Intimität in Beziehungen

In der heutigen Leistungsgesellschaft ist kein Platz mehr für Ruhe. Der Arzt Jonathan Häußer bedauert das, denn: Ein Tag ohne Arbeit verbessert Gesundheit wie Partnerschaft.

Du sollst aus dem Ruhetag keine Wissenschaft machen. So oder so ähnlich heißt es doch im dritten der Zehn Gebote. Okay, vielleicht war es auch „Gedenke an den Ruhetag und heilige ihn!“. Aber warum eigentlich? Manche behaupten ja, es sei das Gebot, das am meisten missachtet wird. Wir scheinen dem also als Gesellschaft keinen so großen Stellenwert beizumessen. Zwar sind am Sonntag viele Geschäfte geschlossen, aber so richtig Ruhe? Wer braucht das schon?

Aber seien wir mal ehrlich. Irgendwann müssen wir uns erholen. Und zumindest ich bin davon überzeugt, dass Gottes Gebote nicht dazu da sind, um uns zu drangsalieren. Am Ende geht es uns besser, wenn wir uns daran halten. Trifft das auch auf den Ruhetag zu? Ist es sogar gut für unsere Gesundheit? Vielleicht müssen wir doch aus dem Ruhetag eine Wissenschaft machen. Wir schauen uns zumindest mal an, was die Forschung dazu zu sagen hat.

Es gibt einige interessante Untersuchungen. Ein Ruhetag scheint dabei viele Bereiche zu berühren. Er wirkt sich sowohl physisch als auch psychologisch, sozial, kulturell und auf unsere Umwelt aus.

Ruhetag verbessert unser Wohlbefinden

Ein Ruhetag hilft uns, uns auf das zu fokussieren, was wirklich wichtig ist im Leben. Wer sagt schon am Ende seines Lebens: „Hätte ich mal mehr gearbeitet“? Also können wir uns die Arbeit an einem Tag guten Gewissens sparen. Meistens sind es andere Dinge, die zu kurz kommen.

Wer einen Ruhetag einhält, hat tendenziell eine bessere psychische Gesundheit. Aber Sie sollten das aus eigenem Antrieb tun und nicht, weil man es von Ihnen erwartet. Wenn man andere damit zufriedenstellen möchte, hat es eher negative Auswirkungen auf die Psyche.

Beziehungen leben auf

Ein Ruhetag bietet uns eine Gelegenheit, Beziehungen zu priorisieren und wieder mit unseren Familien und Freunden Kontakt aufzunehmen. Interessanterweise berichten auch Verheiratete, die einen Tag ruhen, von einer größeren Intimität in ihrer Beziehung. Zudem bietet so ein freier Tag Zeit, um anderen zu helfen.

Eine positive Einstellung gegenüber dem Ruhen ist mit einer besseren körperlichen Gesundheit und besserem Schlaf verbunden. Allerdings hat man z. B. bei orthodoxen Juden festgestellt, dass die Kalorienaufnahme insbesondere bei Übergewichtigen am Sabbat höher war.

Bei Adventisten, wo ein gesunder Lebensstil eine hohe Priorität hat, kann es hingegen dazu führen, dass man selbst diesen gesunden Lebensstil mehr und mehr annimmt. Bei der körperlichen Gesundheit kann ein Ruhetag also sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben.

Rest der Woche positiv beeinflussen

Halten wir fest: Ein Ruhetag kann das psychische Wohlbefinden verbessern und Beziehungen bereichern. Zudem berichten viele davon, dass ein Ruhetag einen positiven Einfluss auf den Rest der Woche hat. Da die meiste Forschung aber an religiösen Menschen durchgeführt wurde, bleibt unklar, wie die Auswirkungen bei säkularen Menschen sind.

Ich habe erst vor Kurzem angefangen, bewusst einen Tag zu ruhen. Vorher hatte ich neben der Arbeit noch einige zusätzliche Projekte am Laufen und das Ganze hat sehr viel Zeit eingenommen. Auch Beziehungen sind in dieser Zeit zu kurz gekommen. Also habe ich aufgehört, sonntags zu arbeiten.

Gemeinschaft viel mehr genießen

Es fiel mir anfangs zwar schwer und ich hatte erst befürchtet, ich würde mich langweilen. Aber mittlerweile – eigentlich schon von Anfang an – gefällt es mir sehr gut. Einfach mal entspannt nach dem Gottesdienst zusammensitzen, ohne im Hinterkopf zu haben, dass man noch irgendwas erledigen muss. Ich konnte die Gemeinschaft viel mehr genießen. Und was erledigt werden muss, das muss ich dann entweder am Tag davor tun oder eben erst am Montag.

Wie Sie Ihren Ruhetag gestalten, hängt ganz von Ihnen ab. Für mich ist es zum Beispiel in Ordnung, auch am Ruhetag Dienste in der Kirche zu übernehmen. Ob ich das auch langfristig so handhaben werde, weiß ich noch nicht. Mir war es wichtig, erst mal anzufangen und ein bisschen Erfahrung zu sammeln.

Mit der zusätzlichen Zeit kann man in sich gehen und sich Gedanken machen, wie man den Ruhetag dann in Zukunft gestalten will. Ich kann Sie nur ermutigen, dem Ruhen auch in Ihrem Leben Platz zu geben. Am Ende wird es nicht nur Ihnen, sondern auch den Menschen um Sie herum guttun.

Jonathan Häußer ist Arzt und Sportwissenschaftler und fühlt sich vor allem in der Sport- und Ernährungsmedizin zu Hause. In seiner Freizeit ist er auch selbst sehr aktiv. Wenn er nicht gerade bei der Arbeit ist oder durch den Wald läuft, ist er häufig in der Gemeinde ICF Hamburg zu finden.

Symbolbild: g-stockstudio / iStock / Getty Images Plus

Gefühle wahrnehmen: Wie eine Therapie Rolf hilft, nicht mehr auszurasten

Rolf schreit seine Kinder an und zockt abends lieber mit einem Bier am PC, statt sich mit seiner Frau zu unterhalten. Erst eine Therapie führt ihn zur Wurzel des Problems – tief vergraben in seiner Familiengeschichte.

Dass er seine Kinder anschreit, kam früher fast nie vor. Auch nicht, dass er bei der Arbeit montags schon das Wochenende herbeisehnt. Oder am Abend am liebsten mit einem Bier am PC zockt, statt mit Martina über den Tag zu reden.

Doch in Rolfs Leben hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert: das neue Haus, das die Bank zu 80 Prozent finanziert hat; seine Beförderung zum Teamleiter, der nun Verantwortung für zwölf Kollegen trägt und direkt an die Geschäftsführung berichtet; seine Eltern, die im Ruhestand zunehmend seine Hilfe brauchen; und seine Ehrenämter in der Kirchengemeinde und im Klimaschutz, die während der Pandemie deutlich aufwendiger wurden.

Widerwillig geht Rolf zur offenen Männergruppe

Wenn Martina, mit der Rolf seit 14 Jahren verheiratet ist und die Kinder Robin (11) und Clara (9) hat, ihn auf seine gereizte und abweisende Art anspricht, winkt der 42-Jährige nur ab. Es sei halt „aktuell alles ein bisschen viel“, aber nach dem Sommer werde es besser, wenn in der Firma die Umstrukturierung abgeschlossen sei und in der Klimaschutzinitiative andere Ehrenamtliche ihm Aufgaben abnähmen. Und überhaupt, was sie immer gleich habe.

Als nach dem Sommer nichts besser ist und Martina zunehmend bemerkt, dass Rolf nur noch unruhig schläft und vermehrt Alkohol trinkt, drängt die Erzieherin darauf, dass ihr Mann sich helfen lässt. Eher widerwillig besucht er meine offene Männergruppe, ist dann aber beeindruckt von der Offenheit, mit der sich Männer hier zeigen, den Themen der Männer, die ihn alle an ihn selbst erinnern, und der Klarheit, mit der ich die Gruppe führe.

Gespräche galten als „vertane Zeit“

Nach dem Abend spricht mich Rolf an und vereinbart einen Termin mit mir für ein Einzelgespräch. Auch hier kommt er sich zunächst wieder komisch vor, weil sich „hier ja alles um mich dreht“. Schnell wird klar, dass das dritte von vier Geschwistern mit Sätzen wie „Nimm dich nicht so wichtig!“ oder „Stell dich nicht so an!“ in einem kleinen Handwerksbetrieb aufgewachsen ist.

Zeit war immer knapp, die Kunden gingen vor und Gespräche galten als „vertane Zeit“. „Eigentlich habe ich immer nur funktioniert und geschaut, dass ich keinen Ärger mache und keinen Ärger kriege“, fasst Rolf diese Kindheit zusammen. Ich spiegele ihm, dass all diese Sätze aus dem Elternhaus Imperative waren, also Aufforderungen in Befehlsform. So habe er verinnerlicht, sich selbst herumzukommandieren.

Gefühle nicht wahrgenommen

Und ohne Gesprächskultur habe er auch nicht gelernt, zu reflektieren, in sich hineinzuhören und seine Befindlichkeiten und Gefühle wahrzunehmen und zu spüren. Denn unsere Gehirne sind sehr intelligent organisiert und lernen schnell: Wenn Gefühle dauerhaft ignoriert werden, meldet sie unser Gehirn nicht mehr unserem System, sondern schiebt sie in unser Unterbewusstsein, wo sie sich unserer Kontrolle entziehen.

Rolf bestätigt, dass er oft nichts fühlt und deshalb auch seine Befindlichkeiten nicht artikuliert. Ich widerspreche. Er fühle sehr wohl, nehme das aber nicht mehr wahr, weil er sich – bzw. sein Gehirn ihm – das abtrainiert habe.

„Deine Trauer und deine Tränen sind willkommen“

Nun schweigt der 42-Jährige lange, seine Haltung verändert sich und seine Mimik zeigt Trauer. Als ich das ausspreche, kommen Rolf die Tränen. Und sofort meldet sich auch seine Scham, indem er die Tränen wegwischt und versucht, einen Witz zu machen, mit dem er seine Situation ins Lächerliche ziehen will.

Ich halte dagegen: „Deine Trauer und deine Tränen sind willkommen, Rolf, du machst gute Arbeit.“ Und gemeinsam sitzen wir da, schweigen und jegliche Macher-Allüren fallen von dem Familienvater ab.

„Was treibt dich an, Rolf?“

Beim nächsten Termin wirkt Rolf schon gelöster. Er habe sich auf den Termin gar gefreut. Er sei gespannt, was er heute über sich erfahre, und macht auch gleich ein Angebot: In seinem christlich geprägten Elternhaus sei immer klar gewesen, dass man „nicht für sich selbst lebt, sondern für den Dienst am Nächsten“. Nun nehme er wahr, dass ihn dieser Anspruch überfordere, weil er gelegentlich einfach zu erschöpft sei, für das Gemeindefest Helfer zu gewinnen und einzuteilen oder in seiner Klimaschutzinitiative noch Unterlagen zu lesen, Protokolle zu schreiben und ein Pressegespräch vorzubereiten.

„Was treibt dich an, Rolf?“, frage ich den Ingenieur, und er scheint fast in seinem Korbsessel zu versinken, ehe zögerlich seine Antwort kommt: „Ich möchte halt niemanden vor den Kopf stoßen.“ Und als ich weiterfrage, kommen Variationen dieser Aussage. Schließlich biete ich ihm eine Antwort an: „Rolf, kann es sein, dass du geliebt werden möchtest?“ Und wieder verrät seine Mimik viel Trauer und wir schweigen gemeinsam.

Im Wettbewerb um die Gunst von Vater oder Mutter

Nun erzählt der Macher aus seiner Kindheit. Wie er um die Anerkennung der Eltern buhlen musste. Wie die Geschwister im Wettbewerb um die Gunst von Vater oder Mutter standen, denen nahezu nie ein Lob über die Lippen kam, nach dem alten schwäbischen Motto: „Nicht geschumpfen ist Lob genug.“

Rolf erinnert sich, dass im elterlichen Betrieb Geld offenbar immer wieder mal knapp war, weil Kunden insolvent gingen und Rechnungen nicht bezahlten oder der Vater zu viele Leistungen zu preisgünstig erbrachte. Rolf muss lachen, als ich ihm die Parallele aufzeige, dass offenbar auch sein Vater von jedermann geliebt werden wollte.

Immer besser kommt der Familienvater nun in seine Gefühle und kann sie benennen: Trauer, dass zu Hause so wenig Raum für Gespräche und Reflexion war. Wut, dass ihm niemand beigebracht hat, seine Bedürfnisse zu spüren und sie äußern zu dürfen. Aber auch Freude, dass er jetzt bei mir sitzt, das neue Verhalten trainiert und damit neue Erfahrungen sammelt bei der Arbeit, in der Familie und in seinen Ehrenämtern.

Rückfall löst Panik aus

Nun verlängert er die Abstände, in denen er in die Therapie kommt. Stößt ihm im Alltag etwas unangenehm auf, dann muss er nicht mehr sofort heftig reagieren, sondern begnügt sich mit dem Wahrnehmen, dass jetzt offenbar gerade wieder etwas schiefläuft. Dann nimmt Rolf bewusst Geschwindigkeit aus der Situation oder stoppt sogar ganz, um innezuhalten, wahrzunehmen und zu atmen. Gelegentlich muss er sogar innerlich lächeln, weil er sich dabei auf die Schliche kommt, in sein altes Muster zu rutschen.

Einmal geschieht dies tatsächlich in seiner Kirchengemeinde und er pampt Mitstreiter an, weil sie ein wichtiges Detail vergessen haben. In seiner Panik ruft er mich an und sitzt bereits am nächsten Tag bei mir. Ich lasse ihn erzählen, wie es zu der Situation kam, und schon in seiner Schilderung nimmt er wahr, wie er „gelbe Warnschilder“ ignoriert hat. „Du warst dir zu sicher, mit deiner Veränderung ‚durch‘ zu sein“, spiegele ich ihm und frage ihn, wann er mal „etwas Wichtiges vergessen“ hat. Sofort fallen ihm drei Beispiele aus jüngster Zeit ein. Beim nächsten Treffen in seiner Gemeinde will Rolf seinen Mitstreitern von seinen Versäumnissen berichten und um Verzeihung für seinen Ausraster bitten. Dieser dient ihm nun vor allem dafür, dauerhaft mit sich selbst achtsam zu sein.

Leonhard Fromm (58) ist Gestalttherapeut und Männer-Coach. Der zweifache Vater lebt in Schorndorf bei Stuttgart und macht (Gruppen-)Angebote in Präsenz und online. derlebensberater.net

Andrea Zogg (links) und Marco Schädler in Stefan Zweigs "Die Auferstehung des Georg Friedrich Händel". (Foto: profile productions)

„Was hab‘ ich Angst gehabt“: Plötzlich fürchtet Tatort-Kommissar Andrea Zogg um seine Karriere

Mit Anfang 50 kann Andrea Zogg immer schlechter Texte auswendig lernen. In seiner Verzweiflung hilft ihm der Komponist Georg Friedrich Händel.

Manchmal sind es bis zu 12 Millionen Leute, die sonntagabends „Tatort“ gucken. Spielte die Folge in Bern, war Andrea Zogg der Kommissar. Im „Tatort“ aus Zürich ist er mal der Bösewicht, mal der Retter. Die Staffeln der Serie „Zürich-Krimi“ heißen immer „Borchert und …“, Andrea Zogg hat darin mehr als zehnmal mitgespielt, 2011 war er für den Schweizer Filmpreis als „Bester Darsteller“ nominiert, 2020 als „Beste Nebenrolle“ im Film über den Schweizer Reformator Ulrich Zwingli und, ja, einmal gab’s sogar einen Oscar für den besten ausländischen Film. Im aktuellen Kino-Blockbuster „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ steht Andrea Zogg an der Hotelrezeption.

Auf der Bühne, am Konzertflügel, sitzt Georg Friedrich Händel (1685–1759) mit Perücke und Schnallenschuhen. Am Schreibtisch steht Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) und erzählt, wie Händel tödlich erkrankt zu Boden fällt – ein Schlaganfall? Ein Herzinfarkt? Und der Notarzt sagt: „Er wird nie mehr komponieren können.“

Tatort-Kommissar singt Kirchenlieder

Schauspieler Andrea Zogg weiß, wie man mit sonorer Sprechstimme und wenigen ausdrucksstarken Gesten das Publikum auf die vorderen Stuhlkanten lockt. 70 spannende Minuten lang rezitiert er auswendig, wie G.F. Händel aus Halle in Sachsen überraschend gesund wird, sich 1741 in seiner Londoner Wohnung einschließt und in nur 23 Tagen sein berühmtestes Werk schreibt: „Der Messias.“ Seit 250 Jahren wird es von vielen Chören und Orchestern der Welt aufgeführt, meist zu Ostern, und selbst religionsferne Tatort-Gucker würden etliche Melodien daraus wiedererkennen.

Den Zuschauern stockt der Atem: Andrea Zogg kann Teile aus Händels „Messias“ richtig gut singen! In einer Art szenischer Popversion, während Pianist Marco Schädler ein furioses Medley inklusive „Stairway to heaven“ oder „Crazy Diamond“ von Pink Floyd drunterlegt. Und dann setzt er noch einen drauf: Das „Große Halleluja“ singen die Zuschauer begeistert mit.

Ein Schauspieler, der Texte vergisst

„Das war meine Auferstehung“, erzählt Andrea ganz untheatralisch nach der Show, „ich war Anfang 50 und konnte immer schlechter Texte behalten. Katastrophal für einen Schauspieler: Du bist nicht gut im Auswendiglernen?! Was hab‘ ich Angst gehabt am Filmset, was hab‘ ich mich durchgemogelt! Kleine Zettel in die Möbel oder in die Kostüme gesteckt, genuschelt, geschummelt – und dann wurde ich auch noch krank. Irgendein Virus. Da las ich Stefan Zweigs ‚Die Auferstehung des Georg Friedrich Händel‘ und dachte: Das muss man mal aufführen! Meine Frau sagte: ‚Das schaffst du nicht mehr. Eine Stunde Text? Solo?'“

Andrea Zoggs Elternhaus in einem Graubündner Dorf war nominell evangelisch, aber nicht religiös. „Meine Oma gab mir eine Kinderbibel, da fand ich nur die Bilder mit Schlangen und wilden Tieren interessant. Dann flog ich von der Schule wegen schlechtem Betragen, kam auf ein Internat und ging in den Schulchor, Händels ‚Messias‘, ein Jahr lang geprobt. Wir waren so geflasht von der Wucht der Texte und der Musik, das haben wir noch nachts in der Kneipe gesungen.“

„Nach 16 Jahren mit einem behinderten Kind waren unsere Batterien einfach leer“

Er fällt an der Schauspielschule durch die Prüfung, studiert Geschichte und Germanistik auf Lehramt, seine Schwester wird Theatermalerin an der Landesbühne Hannover und der Berliner Schaubühne. Durch ihre Vermittlung wird er doch noch angestellt, macht Karriere am renommierten Frankfurter Theater am Turm, am Schauspielhaus Wien, am Theater St. Gallen, wird fürs Fernsehen und Kino entdeckt, heiratet, bekommt drei Söhne und – zieht mit seiner Familie in jenes Schweizer Bergdorf zurück, „wo die Betreuung unseres autistisch-epileptischen Jungen besser gewährleistet ist. Nach 16 Jahren mit einem behinderten Kind waren unsere Batterien einfach leer.“

Andrea Zogg macht eine Pause. Was er und seine Frau durchgestanden haben, ist vorstellbar. Harte Medikamente, heftige Nebenwirkungen, Unfälle im Haushalt, kaum gesundheitliche Fortschritte. „Unser mittlerer Sohn ist jetzt 33 und lebt im betreuten Wohnen auf einem Bauernhof, es geht ihm gut. Der ältere und der jüngste sind beruflich bei Filmproduktionsfirmen gelandet.“

Gedächtnisprobleme verschwinden

Jetzt grinst Andrea wieder: „Ich las von Georg Friedrich Händel am Tiefpunkt seines Lebens, wie er von der Auferstehung des Jesus Christus singt und musiziert. Und dabei seine eigene körperliche, mentale und künstlerische Auferstehung in nur drei Wochen erlebt. Ich lernte den Text von Stefan Zweig und – es ging plötzlich! Ich hab‘ seither keine Gedächtnisprobleme mehr beim Drehen. Als meine Mutter mit 95 Jahren starb, bot ich dem Pfarrer an, das Stück an ihrer Trauerfeier vorzutragen. Es war die erste Aufführung, die Marco Schädler und ich in einer Kirche machten. Meine Auferstehung, wenn du so willst.“

Andreas Malessa (66) wurde bekannt als Teil des Gesangsduos „Arno & Andreas“ und gab rund 1.400 Konzerte im In- und Ausland. Nach Abitur und Theologiestudium in Hamburg zog der „überzeugte Norddeutsche“ als Wahl-Schwabe in die Nähe von Stuttgart, ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert verheiratet, hat zwei fast erwachsene Töchter, liebt Fernreisen, gute Romane, Rotwein und kritisch mitdenkende Zuhörer.

Feierabendfalle

Auf der Arbeit ging nichts mehr. Er beschloss, früher Feierabend zu machen und seine Familie einmal zu überraschen. Er freute sich auf eine gemütliche Tasse Kaffee mit seiner Frau. Doch dieses Mal stürmte ihm keine jubelnden Kinder entgegen. Er erntete irritierte Blicke. Die Tochter schob ein übergroßes Cello im Flur an ihm vorbei. Der Junge sprang im Fußballtrikot hinter ihr her und seine Frau hauchte ihm – den Autoschlüssel in der Hand – einen Kuss auf die Wange: „Ach, hallo, was machst du denn schon hier?“, und dann war alles ruhig. Er stand allein im Flur – „Was mache ich nur hier?“

Fremd im eigenen Heim

Als Mann fühlt man sich da manchmal wie ein Fremder. Ich habe erlebt, dass es öfter die Frauen sind, die den Familienalltag organisieren und dafür Sorge tragen, dass alles läuft. Die für uns die sozialen Kontakte pflegen, uns an Geburtstage erinnern, die Freunde am Wochenende zum Grillen einladen. Wir gehen morgens aus dem Haus, kommen abends spät nach Hause und erleben unsere Kinder oft nur noch kurz vor dem Schlafengehen. So ist es kein Wunder, dass den Frauen immer noch mehr Erziehungskompetenz zugesprochen wird als uns Vätern – und hier ist wirklich gemeint: den Frauen generell und den Vätern noch nicht einmal. Zugegeben, es ist oftmals auch schön, den Rücken freigehalten zu bekommen, denn auch das kennt jeder von uns: Du kommst von der Arbeit; die Probleme, Anstrengungen des Tages sind nicht spurlos an dir vorübergegangen. Erledigt bist du in den eigenen vier Wänden und schaffst es nicht rechtzeitig, umzuswitchen und das „Programm Familie“ abzuspulen. Sobald du die Tür öffnest, stürzen die Kinder voll Freude in deine Arme. Sie wollen von ihrem Tag erzählen. Deine Frau möchte mit ihren Fragen nach deiner Arbeit teil an dir haben und von sich erzählen. Aber dir passt das manchmal gar nicht, du fühlst dich dann überfordert und wünschst dir einen kleinen Augenblick der Ruhe.

Den Heimkommwahnsinn benennen

Wir Männer erleben hier einen großen Zwiespalt: Einerseits sind wir immer noch die Hauptverdiener und beruflich stark eingebunden, andererseits möchten wir auch gerne intensive Beziehungen zu unserer Partnerin und unseren Kindern haben. Ich denke, wir wissen schon, dass eine Zweiteilung in Woche (Arbeit) und Wochenende (Familie) eine Teilung ist und keine Lösung. Die Patentlösung wartet noch auf die Entdeckung. Was mir hilft, ist, diesen Wahnsinn des Heimkommmens erst einmal als solchen wahrzunehmen und mit der Familie zu besprechen. Ich mache mir erst einmal in Ruhe etwas zu essen, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme. Ich nehme mir die Zeit anzukommen, dann erst bin ich mit ganzem Herzen für meine Familie da. Das Spannungsfeld, in dem wir Männer stehen, lässt sich sicherlich nicht per Knopfdruck auflösen. Es gibt nicht „die Lösung von der Stange“. Aber vielleicht lassen wir uns vom Prediger Salomo erinnern, dass es für alles eine Zeit gibt. Es gibt eine Zeit für dich und deine Frau, eine Zeit, die du mal mit deinen Kindern (alleine) verbringst und eine Zeit für dich, egal, ob du sie für deine Hobbys oder deine Freunde nutzt, oder ob du sie dir nimmst, um deine Spiritualität und deinen Glauben zu leben.

Jörg Wetjen (47) ist verheiratet und Vater einer Tochter. Er hat als Theologe diplomiert zum Thema »Männerrollen in den Erzelternerzählungen«. Er ist in Dortmund selbständiger Bildungsanbieter. In seiner Freizeit engagiert er sich für die Männerarbeit im Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen.