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Kinder stehen vor einer der Tafel der Happy Child Schule, die von Cargo Human Care unterstützt wird. (Foto: Patrick Kuschfeld)

Kenia: „Wenn ein Kind keine Bildung bekommt, dann ist es verloren“

Fokko Doyen hat die Hilfsorganisation „Cargo Human Care“ mitgegründet. Das Projekt wuchs immer weiter, motiviert durch einen kleinen Jungen mit Herzklappenfehler.

Fokko, was hat es mit dem Namen „Cargo Human Care (CHC)“ auf sich?

Fokko Doyen: Ich habe das Hilfsprojekt 2002 mit Kollegen von Lufthansa Cargo initiiert, wo ich die letzten 20 Jahre als Kapitän gearbeitet habe. Der Vorstand von Cargo hat dann beschlossen, uns zu unterstützen – in Form von kostenlosen Flügen für unsere Ärzte und aktiven Mitarbeiter. Das sind 100.000 Euro, die wir jedes Jahr sparen.

Was motiviert dich bei deiner Arbeit für CHC?

Doyen: Ein Kind, das mir besonders am Herzen lag, war John Kaheni. Ich habe ihn 2004 kennengelernt. Er war damals zehn Jahre alt und lebte im Mothers’ Mercy Home, einem Waisenheim in Kenia. John hatte einen Herzklappenfehler und musste operiert werden. Die Kirche als Trägerin des Heims konnte sich das nicht leisten. Deshalb habe ich mit Freunden Geld auf dem Weihnachtsmarkt gesammelt und die Operation bezahlt.

John hat sich dann schnell erholt und die Schule abgeschlossen. Anschließend hat er eine Ausbildung angefangen, er wollte in die Filmindustrie. John war wie ein eigenes Kind für mich. Leider ist er 2014 gestorben, weil nicht erkannt wurde, dass er eine neue Herzklappe brauchte. Zu diesem Zeitpunkt haben wir ein Heim für Schulabgänger geplant und gebaut und dann nach ihm benannt. Das hat mich nach seinem Tod wieder neu motiviert.

„Wenn du in Afrika krank bist und kein Geld hast, musst du sterben“

Medizin und Bildung – warum diese Schwerpunkte?

Doyen: Diese beiden Bereiche werden von der Regierung in Kenia völlig vernachlässigt. Wenn ein Kind keine Bildung bekommt, dann ist es verloren und endet als Tagelöhner. Nur mit Bildung kommt man raus aus dieser Misere. Bezüglich Medizin: Sven Sievers, der Arzt, mit dem ich das Medical Center aufgebaut habe, hat gesagt: „Wenn du in Afrika krank bist und kein Geld hast, musst du sterben.“ Dem wollen wir entgegenwirken.

Wie hilft CHC konkret in Kenia?

Doyen: Mittlerweile haben wir ein Medical Center mit zwölf lokalen Angestellten und 46 deutschen Ärzten, die ehrenamtlich in kurzen Einsätzen vor Ort sind. Wir führen jedes Jahr über 30.000 Behandlungen bei 10.000 Patienten durch – für viele umsonst. Außerdem unterstützen wir das Mothers’ Mercy Home. Das haben wir Stück für Stück ausgebaut. Inzwischen haben wir auch zwei Schulen finanziert. Ein zweites Heim haben wir für Schulabgänger errichtet, die wir in der Berufsausbildung oder im Studium fördern.

Warum sollte jemand an euch spenden?

Doyen: Wir können sicherlich nicht die Welt retten und auch nicht ganz Kenia, aber wir können einer kleinen Anzahl von Menschen helfen, durch Bildung aus der Armut rauszukommen. Und diese können dann wieder Vorbilder für die nächste Generation sein. Meine Mitstreiter und ich sorgen auch durch häufige Präsenz vor Ort dafür, dass die Spenden wirklich bei den Menschen ankommen. Letztes Jahr hatten wir 0,3 Prozent Verwaltungskosten – wir arbeiten alle ehrenamtlich.

Die Fragen stellte MOVO-Volontär Pascal Alius.

Cargo Human Care arbeitet zusammen mit lokalen Partnern (vor allem Kirchen) in Kenia. CHC konzentriert sich gleichermaßen auf die medizinische Versorgung von Armut Betroffener sowie die Versorgung und Zukunftssicherung der Kinder im Mothers’ Mercy Home. cargohumancare.de

Jackson Kivujirwa unterrichtet am Majengo Institute in Goma, Kongo. (Foto: Nils Laengner)

Bürgerkrieg, Vulkanausbrüche, Überfälle: Jackson Kivujirwa lässt sich nicht unterkriegen

Die Menschen in Goma, Kongo, leiden unter Gewalt, Naturkatastrophen und Arbeitslosigkeit wegen Corona. Der Lehrer Jackson Kivujirwa erzählt im Interview, was ihm hilft, nicht zu verzweifeln.

Deine Schüler/-innen begrüßt du oft mit den Worten: „Seid ihr alle glücklich?“ In meinem Schulleben wurde ich das nie gefragt. Mich hat das sehr beeindruckt. Warum machst du das?

Ich mache das wirklich sehr häufig. Du musst wissen, dass die Lebensumstände unserer Schüler/-innen sehr unterschiedlich sind. Da sind Kinder, die am Vorabend nichts zu essen hatten oder keinen Tee zum Frühstück. Das kommt immer wieder vor. Die wirtschaftlichen Umstände führen oft dazu, dass es in Familien Auseinandersetzungen gibt.

Die sonst nicht da wären?

Möglicherweise. Wir hatten in den letzten 25 Jahren immer wieder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen. Außerdem ist der Vulkan Nyiragongo 2002 und 2021 ausgebrochen und hat Verwüstungen in der Stadt hinterlassen. Das bringt schon Unruhe in Familien.

Lehrer mit Empathie

Davon haben wir in Europa keine blasse Ahnung. Aber erzähl doch bitte weiter.

An den Reaktionen der Klasse sehe ich, wem es aktuell nicht gut geht. Diese Person bekommt dann mehr Aufmerksamkeit. Nach dem Unterricht spreche ich dann mit den Betreffenden. Gegebenenfalls bringe ich sie zum Büro der Schulseelsorge.

Ich finde das sehr empathisch und beeindruckend. Nun ist das Majengo Institute ja nicht nur eine der besten Schulen der Region, weil die Lehrkräfte mitfühlend sind. Einer der erfolgreichen Absolventen der Schule ist Djimi Muhindo. Er ist aktuell einer der erfolgreichsten Radsportler des Landes. In einem Gespräch ließ er durchblicken, dass er sich gerne an dich als Lehrer erinnert. Warum wohl?

(lacht) Das hättest du ihn wahrscheinlich selbst fragen müssen! Allerdings kann ich dir von einer Begegnung mit unserem langjährigen Schulsprecher erzählen. Er schätzte es sehr an mir, dass ich bescheiden auftreten würde. Selbst wenn es mal drunter und drüber ginge, wäre ich bereit, mit den Leuten zu reden und ihnen zuzuhören. Weiter sagte er, dass er nie gehört habe, dass ich meine Macht missbraucht hätte. Er habe mich nicht rechthaberisch erlebt, sondern als Moderator oder Vermittler.

Unterschiede im Familienbild zwischen Afrika und Europa

Nun bist du ja nicht nur eine Vaterfigur für deine Schüler/-innen. Du hast selbst auch vier Kinder. In Europa schrecken immer mehr Männer davor zurück, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie befürchten den Verlust von Geld, Freiheit und Unabhängigkeit.

(lacht laut auf): Du veräppelst mich!

Das kommt in der Tat vor.

Da gibt es wohl doch gravierende Unterschiede zwischen unseren Kontinenten. Generell haben Familien in Afrika mehr Kinder als Paare in Europa und den USA. Ich empfinde es als Ehrenbezeichnung, Vater genannt zu werden. Nicht nur wegen der Verantwortung. Kinder sind für mich wie Früchte meines Lebens.

„Kinder sind die Zukunft“

In unserem Kulturkreis dreht sich sehr viel um mich, meine Ziele, meine Wünsche. Das ist bei dir irgendwie anders.

Es geht doch um die Zukunft einer Gesellschaft und auch einer Familie. Beides gehört doch auch zu mir und meiner Identität. Kinder sind davon ein Teil. Kinder können weitertragen, was sie mit ihren Eltern entwickelt haben. Schließlich sterben Menschen ja auch mal. Das kommt doch auch in deiner Kultur vor.

Das setzt aber voraus, dass du dich als Teil einer Gemeinschaft verstehst. Hier wäre das eine Familie. Nun kenne ich aber viele Leute, die sich selbst genügen und fast ausschließlich danach fragen, wie es ihnen gut gehen kann.

(lacht sich schlapp) Wirklich?

Ja, wirklich!

Oh! (Jackson wirkt sehr betroffen, schweigt einige Sekunden und fährt dann fort) Weißt du, was mir Angst macht?

Du wirst es mir hoffentlich sagen.

Es ist dann doch möglich, dass eine Familie ausstirbt, wenn keine Kinder da sind. Das ist doch furchtbar.

Keine Arbeit, kein Geld

Ein interessanter Aspekt! Die Art und Weise, wie wir in Deutschland leben, führt dazu, dass viele Menschen schnell isoliert sind. Sie haben kaum soziale Netzwerke. Das war insbesondere während der virusbedingten Einschränkungen seit März 2020 zu spüren.

Nun, wir hatten große wirtschaftliche Probleme. Gehälter werden meist nur gezahlt, wenn gearbeitet wird – Lockdown hin oder her. Keine Arbeit, kein Geld. Ich habe beispielsweise Obst und Gemüse aus der Region gekauft, um es auf lokalen Märkten zu verkaufen. Gut war aber, dass viele Familien zu Hause miteinander gebetet haben, als die Kirchen geschlossen waren.

Das war ja trotzdem alles ziemlich heftig. Offensichtlich passieren schlimme Dinge auch guten Menschen. Wie wirst du damit fertig?

Viele Menschen in Goma haben große Mühe, ihr Vertrauen in Gott aufrechtzuerhalten. Ich gehöre nicht dazu und bete aufrichtig weiter. Zum Beispiel: Neulich wurden meine Familie und ich nachts in unserem Haus überfallen. Niemand wurde verletzt. Darin sehe ich ein Eingreifen Gottes. Aber glaube mal nicht, dass das einfach wäre! Gut, wir beten, dass Gottes Wille geschehen möge. Dem ordnen wir uns unter. Aber dann gilt es, das durch unser Handeln sozusagen unter Beweis zu stellen. Alles andere zählt nicht.

Was meinst du damit konkret?

Wir sollten auch in Schwierigkeiten auf Gott vertrauen. Zum Beispiel habe ich immer Geld gespendet. Also außer, wenn ich kein Gehalt bekommen habe. Nach dem Überfall habe ich aus dem Ausland Geld bekommen. Davon habe ich auch abgegeben. Es gibt doch immer Menschen, denen es schlechter geht als einem selbst.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Tom Laengner. Er ist ein Kind des Ruhrgebiets. Nach 20 Jahren im Schuldienst startete er neu durch als Autor und Sprecher für Lebensfragen und Globales Lernen. Aktuell schreibt er die Kolumne „Out Of The Box“ für das Internetportal Jesus.de. Sein Sohn Nils Laengner schoss die Fotos (nilslaengner.de). Von ihm erschien 2021 das Fotobuch „Orbit 360“.

Markus Walther (Foto: Maria Majaniemi)

Missbraucht, geschlagen, ausgebeutet: Markus ist trotzdem dankbar

Markus Walther wird im Kinderheim missbraucht und auf einem Bauernhof als „Verdingkind“ ausgebeutet. Heute sagt er: „Ich kann den Menschen Danke sagen, die es nicht gut gemeint haben.“

Guten Tag, Herr Walther. Haben Sie eine schöne Erinnerung an Ihren Vater?

Markus Walther: Als kleiner Junge durfte ich mit meinem Vater mitgehen auf die Tour zum Messerschleifen. Wir waren unterwegs von Haustür zu Haustür mit einem fahrbaren Schleifstein. Ich bekam da immer Süßigkeiten zugesteckt. Wunderbar.

Mit vier Jahren gab Ihr Vater Sie ins Heim. Warum?

Als ich dreieinhalb Jahre alt war, starb meine Mutter. Mein Vater war mit uns drei Kindern und seinem Beruf als Scherenschleifer überfordert. Er gab uns ins Heim.

Im Heim sexuell missbraucht

Fühlten Sie sich im Heim gut aufgehoben?

Nein! (lacht) Nein, definitiv nicht! Ich war mit Abstand der Kleinste in dieser Einrichtung. Es gab zwar keine Prügel, aber psychische Gewalt war an der Tagesordnung. Ich wurde dort von einem jugendlichen Mitbewohner sexuell missbraucht. (Schweigen)

Als Sie sieben Jahre alt waren, wurde das Heim geschlossen. Sie landeten als „Verdingkind“ auf einem Bauernhof. Was ist ein „Verdingkind“?

Als „Verdingkind“ bezeichnet man in der Schweiz Kinder und Jugendliche, die infolge einer Zwangsplatzierung durch Behörden oder Kommunen bis in die 1980er-Jahre in fremde Familien kamen. Als „Verdingkind“ auf einem Bauernhof warst du eigentlich ein Sklave. Es galt, hart zu arbeiten.

„Es gab nur Arbeit“

Wie sah Ihr Alltag auf dem Hof aus? Wie viel Platz war dort für Romantik à la Heidi?

(lacht) Es gab nur Arbeit von morgens früh bis abends spät. Sicher gab es auch schöne Momente, wie ein Fußballspiel nach getaner Arbeit, wenn ich mit dem Traktor fahren durfte oder mir die Nachbarin Comics und Brot schenkte. Das Essen war hervorragend.

Was war dann schwierig?

(Pause) Aus dem Nichts geschlagen zu werden. Immer wieder zu sehen, wie andere Kinder gut behandelt wurden und ich nicht. Zudem war ich Ministrant. Ich bekam das, was mir der Priester über Nächstenliebe erzählte, nicht mit dem zusammen, wie ich von dieser katholischen Familie behandelt wurde. Außerdem war ich Bettnässer. Ich hatte Horror vor jedem Morgen. War das Bett nass, wurde ich trotz meines Flehens „Bitte nicht!“ regelmäßig verprügelt.

„Mein Schädel war 15-mal gebrochen“

Sie erlebten auf dem Bauernhof ein Wunder. Wie sah das aus?

Bei der Arbeit ist mir der Nachbar mit dem Hinterrad seines Traktors über den Kopf gefahren. Mein Schädel war 15-mal gebrochen. Ich wurde 18 ½ Stunden operiert. 30 Tage nach diesem Horrorunfall wurde ich kerngesund ohne Nachfolgeschäden aus dem Spital entlassen.

Sie schilderten Ihrem Vater Ihren Alltag als „Verdingkind“. Der will Ihnen erst nicht glauben, holt Sie dann doch ab. Ende gut, alles gut?

Ja, für zweieinhalb Jahre. Dann ging der Mist von vorne los. Mein Vater heiratete wieder. Es kam ein viertes Geschwisterchen auf die Welt, das leider sieben Stunden nach der Geburt starb. Doch dann erkrankte auch die zweite Frau an Krebs. In dieser Not steckte mich mein Vater vorübergehend wieder ins Heim. Das war dann für immer.

Bauernfamilie zu vergeben noch nicht möglich

Wie gehen Sie mit dem erlebten Kindheitstrauma heute um?

Gar nicht, weil es mir heute damit sehr gut geht. Ich habe keine Mühe mehr mit diesem Leben. Ich bin der, der ich bin, weil ich erlebt habe, was ich erlebt habe. Das Gute und das Schlechte gehören dazu. Ich kann heute auch den Menschen Danke sagen, die es nicht gut gemeint haben. Im Fall der Bauernfamilie bekomme ich dies leider noch nicht hin …

Haben Sie die Bauernfamilie, die Sie ausgebeutet hat, nochmals besucht, zur Rede gestellt?

Als 18-Jähriger bin ich mit zwei Freunden hingefahren. Wir hatten Baseballschläger dabei. Wir wollten ein bisschen Kleinholz machen. Ich bin nach drinnen gegangen, habe ein paar Worte in den Raum geworfen. Die Anwesenden sahen dies aber anders. Ich hatte urplötzlich den Eindruck: Die sind es nicht wert, dass ich mein Leben jetzt ruiniere.

Das letzte Mal war ich dort, mit meinem Mitautor des Buches. Ich hatte ihm vorgeschlagen, all die Orte, die in meinem Buch vorkommen, nochmals zu besuchen. Vor dem Bauernhof lief der Mann herum, der mich am meisten drangsaliert hat. Ich war nicht fähig, näher ranzugehen. Was mir allerdings eingefahren ist: Ich sah den Mann völlig geknickt laufen. Er tat mir plötzlich leid, weil ich sah, dass ihm das Leben offensichtlich jetzt auch etwas aufgeladen hat. Ich habe für ihn gebetet.

„Nach jedem Regen scheint die Sonne“

Welchen Tipp geben Sie Menschen, die ähnliche Kindheitsverletzungen erlebt haben?

Seid euch nicht zu schade für Therapie! Ich habe fünf Jahre gebraucht, um mich aus dem Schlamassel rauszuarbeiten. Und es gibt ein Naturgesetz – das besagt: Nach jedem Regen scheint die Sonne. Immer. Die Sonne hat auch geschienen nach der Sintflut.

Was heißt das für mich? Gott wird dafür sorgen, dass du wieder in der Sonne stehst. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber sie wird scheinen. Bei mir hat dies zwanzig Jahre gedauert. Wenn du knüppeldick in der Scheiße steckst, nimmst du vielleicht gar nicht wahr, dass es Menschen gibt, die es um dich herum gut mit dir meinen. Auch wenn es dir schlecht geht, behalte deine Augen, dein Herzen offen, halte dich an diese Menschen.

Ist Ihnen Gerechtigkeit widerfahren?

In der Schweiz gab es eine Volksabstimmung. Diese Petition wurde von dem Unternehmer und ehemaligen „Verdingkind“ Guido Fluri angestoßen. Es wurden 300 Millionen Schweizer Franken zurückgestellt, um eine finanzielle Wiedergutmachung für die rund fünfstellige Zahl an „Verdingkindern“ zu bewerkstelligen. Mehrmals im Jahr gibt es zusätzlich für diese Betroffenen Ausflüge und Coachingangebote.

Das Leben meinte es an vielen Stellen nicht gut mit Ihnen. Warum bilanzieren Sie trotzdem: Gott meinte es gut mit mir?

Ich bin der, der ich bin, weil ich erlebt habe, was ich erlebt habe. Wie Josef in 1. Mose 50,20 kann ich sagen: „Menschen meinten es schlecht mit mir, Gott hat daraus Gutes werden lassen.“ Im Nachhinein kann ich durch meinen Glauben sagen: Ich war nie allein. Als ich zum christlichen Glauben kam, lief in mir eine Art Film ab. Ich sah, dass an den Stellen meines Lebens, wo es mir nicht gut ging, hilfreiche und beschützende Menschen standen. Gott hatte in all dem Übel seine Finger im Spiel.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Rüdiger Jope.

Symbolbild: Ridofranz / iStock / Getty Images Plus

Vermögen aufbauen: „Man sollte wenigstens zehn Prozent der Einkünfte zurücklegen“

Menschen geben mehr aus, als sie einnehmen, kritisiert Finanzberater Duc Pham. Er verrät, wie Geldanlage richtig geht und was Kaffee mit Sparen zu tun hat.

Duc, was ist deine Mission?
Duc Pham: Ich möchte, dass meine Mitmenschen ein selbstbestimmtes Leben führen, in dem sie sich nicht von Konsum und Werbung manipulieren und in finanzielle Abhängigkeit bringen lassen. Denn viele leben von der Hand in den Mund und kommen finanziell auf keinen grünen Zweig. Im schlimmsten Fall sind sie verschuldet. Das macht sie unfrei und sie arbeiten oft nur dafür, ihren finanziellen Verpflichtungen irgendwie nachzukommen.

Du zeichnest ein sehr düsteres Bild.
Findest du? Der Coffee to go, der schnelle Snack auf die Hand oder die witzige App zum kostenpflichtigen Download sind allgegenwärtig und gelten als Ausdruck von Lifestyle. Dabei zerrinnt den Leuten ihr versteuertes Nettoeinkommen, das überhaupt noch übrig bleibt nach Abzug von Miete und anderen Fixkosten, zwischen den Händen.

Und nebenbei vermüllen unsere Straßen und Landschaften mit den Resten von Starbucks, McDonald’s, Red Bull & Co. Die geschickte Werbung ist allgegenwärtig, die Verpackungen produzieren eine Unmenge an CO2 und Müll, die Konsumenten werden dick – und es fehlt ihnen das Geld, fürs Alter vorzusorgen.

Pham: Kreislauf aus Enttäuschung und Konsum durchbrechen

Was schlägst du stattdessen vor?
Den Zusammenhang zwischen Enttäuschung im Alltag und vermeintlicher Belohnung durch Konsum zu durchbrechen. Die Alternative ist Persönlichkeitsentwicklung, um mir solche Abhängigkeiten bewusst zu machen – und sie aufzulösen. Das kann durch eine veränderte innere Einstellung geschehen, dass ich anders auf meine Umwelt reagiere; indem ich meine Umwelt verändere oder mir eine andere suche, die besser zu mir passt.

Hast du das so gemacht?
Ja. Ich bin als Kind vietnamesischer Eltern, die kein Deutsch sprachen, hier zur Welt gekommen. Mein Vater hat meine Mutter sehr früh verlassen und wir haben in meiner Kindheit von Sozialhilfe gelebt. Sparen war kulturell wie auch aus unserem Mangel heraus oberste Prämisse.

Meine Mutter hat mich regelrecht zu einem Sparfuchs erzogen und zugleich habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich all das nicht brauchte, was andere an Spielzeug, Urlaub und vermeintlichen Annehmlichkeiten oft sogar im Überfluss hatten. Das hat mich konsumresistent und gesellschaftskritisch gemacht.

Mit 25 Jahren zum Filialleiter einer Bank geschafft

Und wie ging es weiter?
Weil ich Deutsch erst allmählich im Kindergarten gelernt habe, hat es für das Gymnasium und Abitur nicht gereicht. Nach der Mittleren Reife habe ich eine Banklehre gemacht, weil dieser Beruf in Vietnam sehr hohes Ansehen genießt. Und weil ich aus dem Mangel meiner Kindheit herauswollte, habe ich mich mächtig reingehängt, nebenbei noch an der Fern-Uni studiert und war mit 25 Jahren bereits Filialleiter.

Heute arbeitest du aber als freiberuflicher Finanzcoach in Berlin.
Ja, ich habe gemerkt, dass mir die Strukturen einer Bank zu eng sind, ich ein Faible fürs Unterrichten und Coachen habe und ich andere Menschen befähigen möchte, ihren eigenen Weg zu gehen.

„Der Engpass beim Vermögensaufbau ist, dass man mehr ausgibt als man einnimmt“

Seit 2018 gibst du Online-Seminare. Was lernen die Leute bei dir?
Wie erwähnt, das eigene Konsumverhalten kritisch zu durchschauen; die eigenen Einnahmen auf Verschwendungspotenziale hin zu durchleuchten und die eigenen Glaubenssätze zum Thema Geld, die meist schon von den Eltern geprägt sind, kritisch zu hinterfragen, z. B. „Geld macht nicht glücklich“ oder „Aktien taugen nichts“.

Ab 3.000 Euro netto im Monat – das ist untersucht – macht noch mehr Einkommen nicht glücklicher. Der Engpass beim Vermögensaufbau ist, dass man mehr ausgibt als man einnimmt. Schon bei Ausbildungsvergütungen können Lehrlinge 20, 50 oder 80 Euro pro Monat durch ein verändertes Verhalten sparen. Den Kaffee zum Beispiel zu Hause trinken oder ein Vesper mitnehmen.

Was rätst du Interessierten?
Man sollte wenigstens zehn Prozent der Einkünfte zurücklegen – am Monatsanfang. 30 Prozent sind besser. Meine persönliche Sparquote liegt bei 70 Prozent. Allein schon wegen des rasanten Klimawandels sollten wir mehr Second Hand kaufen, Güter gemeinsam nutzen – Stichwort Sharing Economy – und uns generell überlegen, was wir wirklich brauchen. So summiert sich das monatliche Kindergeld von derzeit 204 Euro von der Geburt bis zum 25. Lebensjahr, wenn es immer konsequent angelegt und mit sieben Prozent verzinst wird, auf gut 154.000 Euro.

„Ständige Umschichtungen und Kurswechsel gefährden den linearen Trend“

Und wo bekommt man sieben Prozent Zinsen?
Mit Fonds, Immobilien, Firmenbeteiligungen oder Aktien ist eine solche Verzinsung realistisch, zumal über 25 Jahre hinweg ein Mittelwert. Wichtig ist – besonders zu Beginn –, breit in Branchen und Kontinente zu streuen, um Risiken zu minimieren. Und dann Ruhe zu bewahren und Geduld aufzubringen. Denn ständige Umschichtungen und Kurswechsel gefährden den linearen Trend.

Solche Renditen sind auch möglich mit Investitionen in regenerative Energien, Trinkwasseraufbereitungsanlagen, die Umrüstung von Diesellinienbussen auf Wasserstoff oder ökologische Bauformen mit Holz, Lehm oder Hanf.

Dafür braucht es aber Wissen und Informationen.
Vor der Investition in Sachwerte steht ohnehin die Investition in die eigene Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Deshalb schaden schlecht bezahlte Jobs in der Jugend oder Ehrenämter nicht, um Erfahrungen zu sammeln, etwa in Bereichen wie Disziplin, Vertrauen oder Selbstorganisation. Weniger Wohnfläche, Duschen und Heizen sind Positionen, die Sparpotenzial bergen. Und Berufstätige, die stets die Hälfte jeder Gehaltserhöhung zurücklegen, müssen nicht mal auf etwas verzichten und der Zinseszinseffekt arrangiert den Rest.

„Da beginnt Freiheit, um etwa einen Job zu wechseln“

Du unterscheidest vier Phasen von Wohlstand. Welche?
Am Anfang steht die finanzielle Abhängigkeit, bei der sich Ein- und Ausgaben die Waage halten. Von finanzieller Sicherheit spreche ich, wenn jemand drei Monate ohne Einnahmen seine Ausgaben bestreiten kann. Da beginnt Freiheit, um etwa einen Job zu wechseln.

Finanzielle Unabhängigkeit beginnt demnach, wenn passive Einkünfte reichen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Finanzielle Selbstverwirklichung ist schließlich erreicht, wenn ein Vermögen über den eigenen Tod hinaus noch wirkt, zum Beispiel in Form einer Stiftung, die dauerhaft bleibt.

Und warum arbeitest du noch 60 Stunden die Woche?
Ich mache nur, was ich auch als Hobby betreiben würde. Meine Leidenschaft ist, Menschen zu befähigen, mündig mit Geld umzugehen. Ob sie es dann selbst verwalten, weil es ihnen Spaß macht, oder an einen Profi delegieren, bleibt ihnen überlassen. Mein Ziel: In meiner Heimatstadt Braunschweig die Volkswagen-Halle mit Menschen zu füllen, die mir als Finanzcoach zuhören.

Die Fragen stellte Leonhard Fromm.

Duc Pham, der 29-jährige Deutsch-Vietnamese, ist ein Vorbild, was Selbstdisziplin und Integration von Migranten anbelangt. Der Ex-Banker, der bereits mit 25 Jahren eine Filiale der Braunschweiger Volksbank leitete, dient Männern und Frauen als Mutmacher. (ducpham.de)

Foto: TheoCrazzolara / pixabay

Hätten Sie es gewusst: „O du fröhliche“ ist eigentlich kein Weihnachtslied

Johannes Falk verlor sechs Kinder und beinahe sein eigenes Leben an den Typhus. Dass sein Lied „O du fröhliche“ zu einem Weihnachtsklassiker werden würde, plante er nicht.

Kein Heiligabend ohne „O du fröhliche“. Kennen alle. Rund um die Welt. Der Texter dieses Weihnachtsliedes schrieb es für verwahrloste Kriegswaisen und Straßenkinder. Protestierte gegen die Prügelstrafe, musste sechs seiner eigenen Kinder zu Grabe tragen und blieb trotzdem ein humorvoller Bildungspionier.

Ein Theologiestudent, dem seine Heimatstadt Danzig das Studium finanziert, sollte dankbar dafür sein, oder? Aber der 27-jährige Johannes Daniel Falk an der Uni im sächsischen Halle schmeißt nach vier Jahren alles hin und kehrt 1797 nicht als Pfarrer nach Ostpreußen zurück. Sondern? Schreibt lieber freiberuflich bissige Kommentare zur Tagespolitik! Kann man davon leben? Nein.

In Kontakt mit Goethe und Schiller

Papa Falk daheim an der Ostsee ist Perückenmacher. Er hatte den Jungen mit 10 aus der Schule geholt und in die Werkstatt gesteckt. Die Kundinnen und Kunden sind begüterte Leute, standesbewusste Adlige. Kaum war Johannes mit 16 zurück am Gymnasium, hatte er sich in brillanten Aufsätzen über das vornehme Getue dieser Leute lustig gemacht. Mama Constantia geht in eine fromme „Brüder“-Gemeinde, das religiöse Klima im Lande Immanuel Kants ist aber streng vernunftorientiert und „aufklärerisch“ – Johannes nimmt diese Widersprüche scharfsinnig aufs Korn.

1797 heiratet er Caroline Rosenfeld, zieht mit ihr nach Weimar um und kommt dort durch seinen väterlichen Freund Christoph Martin Wieland, den gebürtigen pietistischen Schwaben, in Kontakt zum berühmten „Dichter-Dreigestirn“ Goethe, Schiller, Herder. „Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satyre“ wird 1803 Falks erstes erfolgreiches Buch in Serie, 1806 ernennt ihn Herzog Carl August zum Legationsrat. Mit 38 Jahren erhält er das erste feste Gehalt! Aber: Vier seiner Kinder sterben an Typhus, er selbst entgeht nur knapp der tödlichen Epidemie.

Vorreiter der Jugendsozialarbeit

Im Oktober 1813 besiegen Preußen und drei alliierte Staaten die französischen Truppen Napoleons bei Leipzig. Diese sogenannte „Völkerschlacht“ hinterlässt rund 100.000 getötete Soldaten, noch mehr schwerstverwundete Arbeitslose und: jede Menge Waisenkinder, Streuner, verwahrloste minderjährige Überlebenskünstler. Johannes Falk gründet mit Weimarer Bürgern die „Gesellschaft der Freunde in der Noth“ (wir würden heute sagen: einen Förderverein) und nimmt 30 Kinder in der eigenen Wohnung auf (!). Ehepaar Falk unterrichtet alle in der „Sonntagsschule“, die Jungen in der „Berufsschule“, die Mädchen in der „Nähschule“. Das wird dem Vermieter der Wohnung zu laut, kein Wunder.

Als zwei weitere Falk-Kinder im Teenageralter sterben, kaufen Johannes und Caroline den (heruntergekommenen) „Lutherhof“. Johannes kontert mit einer Schrift, deren langatmigen Titel heute keine Suchmaschine fressen würde: „Das Vaterunser in Begleitung von Evangelien und alten Chorälen wie solches in der Weimarschen Sonntagsschule mit den Kindern gesungen, durchgesprochen und gelebt wird. Zum Besten eines von den Kindern selbst zu erbauenden Beth- und Schulhauses.“ Was er 1823 nicht ahnen kann: Seine Ideen inspirieren berühmte Sozialreformer und -politiker, sein Weimarer „Rettungshaus“ wird zum Vorreiter evangelisch-diakonischer Jugendsozialarbeit bis heute.

Wie „O du fröhliche“ ein Weihnachtslied wurde

„O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Osterzeit! / Welt liegt in Banden, Christ ist erstanden / Freue, freue dich, o Christenheit. O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Pfingstenzeit! / Christ, unser Meister, heiligt die Geister / Freue, freue dich, o Christenheit.“ Kennt keiner. Nur die erste Strophe – die zu Weihnachten – ist hängen geblieben.

Johannes Falk schreibt 1816 ein „Allerdreifeiertagslied“ für „seine“ Heimkinder. Die Melodie hat er von einem fieberkranken Jungen aus Italien gehört (später wird man herausfinden, dass es „O sanctissima, o pi-issima, dulcis virgo Maria“ hieß). Ein bayerischer Mitarbeiter Falks, Heinrich Holzschuher, dichtet 1826 noch zwei weitere „Weihnachts“-Strophen dazu und macht es damit – unwillentlich – zu einem reinen Weihnachtslied. Aber da ist der „Waisenvater von Weimar“ bereits seit dem 14. Februar 1826 tot. Mit 58 an einer Blutvergiftung gestorben. Caroline und der ehemalige „Zögling“ Georg Renner überführen das private Waisenheim als „Falk’sches Institut“ in kommunalen Besitz. Die Schriften des „Freundes von Scherz und Satyre“ aber zeigen bis heute, dass kindliche Herzensfrömmigkeit, empathisches Sozialengagement und scharfsinnig intellektuelle Zeitkritik kein schlechter Dreiklang sind.

Andreas Malessa ist Hörfunkjournalist in der ARD, Theologe, Buchautor satirischer Kurzgeschichten, Referent und Moderator auf Veranstaltungen mit religiös-kulturellen, kirchlichen und sozialethischen Themen. Im Frühsommer sind von ihm die Titel „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Mann! Bin ich jetzt alt?!“ (adeo) erschienen.

»Wir sind ein Ärgernis«

Die Tafeln unterstützen täglich Menschen mit Lebensmitteln – und begegnen so der sozialen Ungleichheit. Im Gespräch mit Jochen Brühl, dem Vorsitzenden des Tafel- Dachverbands, über Ehrenamt, Einsamkeit und eine offene Tür.

Welche Mahlzeit kochen Sie sich am liebsten?
Wichtig ist weniger, was ich mir koche, sondern mit wem. Ich lebe in einer christlichen Lebensgemeinschaft mit 13 Menschen. Alle haben ihr eigenes Schlafzimmer, ihr Arbeitszimmer, jeder hat sein eigenes Bad, aber wir teilen eine Küche und ein gemeinsames Esszimmer. Zusammen zu essen macht einen großen Wert für mich aus. Denn Essen brauche ich ja nicht nur, um nicht umzufallen, essen ist auch eine Kommunikationsplattform.

Können die Tafeln das auch sein?
Tafeln sind auch Orte der Begegnung, ja. Orte, an denen sich Menschen treffen, die sich sonst nicht treffen würden: Der pensionierte Richter vom Amtsgericht und die Hartz IV beziehende Alleinerziehende, die hier miteinander ins Gespräch kommen.

Hartz IV reicht also nicht aus zum Leben?
Hartz IV reicht aus zum Überleben. Aber jeder, der als Nicht-Betroffener versucht, Dinge schönzureden, sollte sich das sehr gut überlegen. Von Armut betroffen zu sein, bedeutet, nicht in den Urlaub zu fahren, nicht ins Kino zu gehen, das Kind vielleicht nicht in den Musikunterricht schicken zu können, Scham davor zu haben, Menschen zu sich nach Hause einzuladen. Ich warne davor, dass man sich allein aus wissenschaftlich distanzierter Position heraus dazu äußert.

Wie können die Tafeln Solidarität mit diesen Menschen erzeugen?
Die Tafeln sind Sichtbar-Macher. Tafeln erinnern mit dem, was sie tun, daran, dass in unserer Gesellschaft Menschen abgehängt sind. Es gibt Lobbyisten für Diesel-Fahrzeuge und für was auch immer, aber wo sind die Lobbyisten für Ausgegrenzte und Abgehängte? Die Tafeln sehen sich neben der praktischen Soforthilfe auch als Ärgernis und Provokation.

Erleben Sie auch Frust und Aggression vor Ort?
Menschen, die sich bei der Tafel Unterstützung holen, sind oft beschämt. Sich einzugestehen, gescheitert zu sein, ist schwer. Tafel-Kunden sind außerdem keine homogene Gruppe. Natürlich gibt es da auch mal das Gefühl, dass jemand anderes einem etwas wegnimmt. Deswegen geben Tafeln sich Regeln, deshalb schulen wir unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, wie sie mit schwierigen Situationen umgehen können.

Inwiefern ersetzen die Tafeln den Sozialstaat?
In Deutschland sind ca. 4 Millionen Menschen auf Hartz IV angewiesen und 12 Millionen Menschen von Armut bedroht – die Tafeln unterstützen 1,5 Millionen von ihnen mit Lebensmitteln. Das ersetzt nicht den Sozialstaat. Tafeln geben ein Zubrot und schaffen Handlungsspielräume.

Der Staat verlässt sich darauf.
Es gibt einen unglaublichen Überfluss an Lebensmitteln, und es gibt Menschen, die nicht genug zum Leben haben. Diese Brücke haben wir gebaut. Aber wir sind auf keinen Fall da, um den Staat zu entlasten. Es ist Aufgabe der Gesellschaft und der Politik, Tafeln überflüssig zu machen. Ich wünschte mir, die Tafeln müsste es nicht geben.

Was erwarten Sie von der Politik?
Zuerst einmal genau hinzusehen. Die Frage ist doch: Lädt der einzelne Politiker Vertreter von sozialen Organisationen regelmäßig zu einem runden Tisch ein und fragt, was zu machen ist? Hat er einen Sinn für diese Diskussionen? Fragt er die Leute, die sich Tag für Tag ehrenamtlich engagieren: Was passiert bei euch? Wenn Politiker in Talkshows von „einfachen Leuten“ sprechen, wen meinen sie dann?

 

»WO SIND DIE LOBBYISTEN FÜR AUSGEGRENZTE UND ABGEHÄNGTE?«

 

Was treibt Sie an, der Armut offensiv zu begegnen?
Als Christ brauche ich nur auf Jesus zu schauen. Der Messias kommt in einem nach Kot und Urin stinkenden Gebäude zur Welt. Er weiß, wie es sich anfühlt, ganz unten angekommen zu sein. Maria, Josef und die Hirten sind gesellschaftlich gleichzusetzen mit Tafelkunden. Jesus hat erlebt, wie es Menschen geht, was ihre Nöte sind. Er ist zu ihnen gegangen. Für mich ist Jesus der, der mich beauftragt, dem Einsamen, dem Alten, dem Pflegebedürftigen zur Seite zu stehen.

Was hält uns davon ab?
Wir können alle immer unglaublich gut Probleme beschreiben und definieren. Doch ich wünsche mir, dass wir endlich die Motivation finden, die Gesellschaft miteinander zu gestalten. Das bedeutet nicht, dass wir in allen Themen der gleichen Meinung sein müssen. Es ist wichtig, dass man sich kritisch mit Themen auseinandersetzt. Aber am Ende muss immer der Mensch, der in Not ist, der Hilfe braucht oder einsam ist, im Fokus stehen.

Ein Beispiel?
Gastfreundschaft ist so ein Thema. Zu sagen: Ich mache mich auf den Weg mit den Menschen, die um mich herum sind. Jemanden zum Essen einladen, um mit ihm Leben zu teilen. Zu verstehen, wie es ihm eigentlich geht. Sich aus der eigenen Komfortzone bewegen. Ruhig mal zur Elternpflegschaft gehen oder auf dem Schulfest grillen und andere Meinungen und Ideen kennenlernen.

Wie kann ich einen Blick für die Einsamen bekommen?
Für mich ist das eine Frage der Haltung. Wahrzunehmen und wertzuschätzen, wie Menschen leben, zuzuhören und zu verstehen, wie es ihnen geht. Wenn ich das nicht tue, habe ich oft schon eine vorgefertigte Position. Mir hat es sehr geholfen, nicht zu bewerten oder zu beurteilen, wenn Menschen in einer bestimmten Lebenssituation sind.

Was beeindruckt Sie an Ihren ehrenamtlichen Helfern?
Mich beeindruckt eine Frau bei der Tafel Ludwigsburg, die ich damals mitgegründet habe. Sie ist über 80 Jahre alt und geht viermal pro Woche zur Tafel. Sie hilft Menschen, ohne sie zu bevormunden. Sie hilft und wirkt durch ihre zupackende Art. Es berührt mich wirklich sehr, wenn Menschen ohne große Worte einfach für andere da sind. Von diesen Menschen lerne ich, was Engagement, was Courage heißt.

Warum bleiben Sie nicht zu Hause auf der Couch?
Das darf ja auch mal sein. Aber es ist wichtig, sich immer wieder aufzumachen, die Tür der Aufmerksamkeit, der Wertschätzung zu öffnen und Menschen einfach zuzuhören. Jesus hat sich immer mit Menschen auseinandergesetzt. Er hatte zwar einen Standpunkt, aber er war auch Teil einer Gesellschaft und hat sich in die Lebenswirklichkeit anderer Menschen begeben, um herauszufinden, wie sie fühlen und denken. Wenn ich nur mit den Menschen rede, die so denken wie ich, verändere ich diese Welt nicht.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Die Fragen stellte Tobias Hambuch.

Hunger

Ein lauer Sommerabend unter Freunden in Berlin

Es war ein langer Tag. Markt der Möglichkeiten beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin. Rüdiger Jope hat einen Stand betreut, ich bin durch die Hallen geschlendert. Abends treffen wir uns in einer feinen Pizzeria in der Nähe des Brandenburger Tors. Ein Abend unter Freunden. Lecker essen, dazu bleifreies Weizen und viel zu erzählen. Plötzlich summt das Handy. Mein Freund und ehemaliger Chef schickt eine SMS: Frank Heinrich, Mitglied des Deutschen Bundestags. Er ist gerade in Berlin angekommen und hat etwas Zeit. Wir laden ihn ein, bald sitzen wir zu dritt in der Runde.

HIER PIZZA, DA LEERE TELLER
Frank ist vor wenigen Stunden aus dem Südsudan zurückgekehrt. Die frischen Eindrücke sprudeln aus ihm heraus. Als Obmann seiner Fraktion im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe war er auf Einladung des World Food Programme vor Ort, um sich ein Bild von der Lage der Menschen zu machen. In Ostafrika herrscht aktuell die schwerste humanitäre Krise, die das – nun wahrlich genug gebeutelte – Afrika seit vielen Jahren erleben muss.

2011 hat sich der Südsudan unabhängig gemacht. Seit 2013 herrscht Bürgerkrieg im Land. Die Hungersnot, die durch den Krieg und eine verheerende Dürre am Horn von Afrika entstanden ist, betrifft nach Schätzungen der UNO 5,5 Millionen Menschen – das ist in etwa die Hälfte der Bevölkerung. Die Welthungerhilfe beschreibt auf ihrer Webseite die katastrophalen Auswirkungen dieser anhaltenden Krise im Südsudan: „Über 3 Millionen Menschen haben ihr Zuhause verlassen, 1,9 Millionen sind Vertriebene im eigenen Land, 1,74 Millionen sind in Nachbarländer geflohen. Sie suchen Schutz in sichereren Gebieten oder in Flüchtlingscamps. Doch die Bedingungen dort sind schlecht, es fehlt an Zelten, Wasser und Hygiene. Die meisten der Flüchtlinge sind von Nahrungsmittellieferungen abhängig. Mehr als 5.000 Fälle von Cholera-Erkrankungen wurden seit Mitte 2016 erfasst, größtenteils in der Nilregion. 1,64 Milliarden US-Dollar sind laut UNHCR nötig, um 5,8 Millionen Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen.“

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein wichtiges Geberland für Ostafrika. Entwicklungsminister Gerd Müller besuchte die Region im April, Außenminister Sigmar Gabriel nahm ebenfalls im April an einer Geberkonferenz mit Vertretern der UN und der EU in Brüssel teil. Weitere Konferenzen zur Verknüpfung der Geber und zur Koordinierung der Hilfsmaßnahmen sind geplant. Das Entwicklungsministerium stellt in diesem Jahr insgesamt 300 Millionen Euro zur Verfügung. Hinzu kommen 120 Millionen Euro für Humanitäre Hilfe aus dem Haushalt des Auswärtigen Amtes. Für den Südsudan hat das Außenministerium 40 Millionen Euro und für das Horn von Afrika zusätzlich noch einmal 15 Millionen Euro Hilfsgelder eingeplant. Frank zeigt uns Fotos aus dem Land. Auch ein kleines Video hat er auf dem Smartphone: Er hat ein Transportflugzeug gefilmt, das Lebensmittelkisten per Fallschirm abwirft. Danach werden die Vorräte eingesammelt, sortiert und geordnet an Flüchtlinge verteilt. Eine logistische Meisterleistung für das World Food Programme und seine Partner, die die Helfer und die Hungernden erstaunlich diszipliniert meistern.

DANKBAR GENIESSEN, AKTIV TEILEN
All das hören wir, während wir unsere Pizza entspannt im Biergartenflair der Bundeshauptstadt genießen. Dabei weht mich ein schlechtes Gewissen an. Aber nur kurz. Stattdessen meldet sich Dankbarkeit. Unbeschreibliche Dankbarkeit, in einem friedlichen, sicheren Land zu leben. Einer bewährten Demokratie, einem Rechtsstaat, einem Sozialstaat. Keine Frage: Es gibt Unwuchten auch in unserem Land. Es gibt benachteiligte Gruppen. Es gibt Ungerechtigkeiten, nicht jeder hat die gleichen Chancen. Es gibt Fragen an die Zukunft: Wie soll es mit der Rente weitergehen? Wie können die Sozialsysteme dauerhaft finanziert werden? Wie wird sich die EU entwickeln? Wie die weltweite Wirtschaft? Wie integrieren wir die Menschen, die in unser Land gekommen sind? Wichtige Fragen. Es sind Reformen notwendig, die mit viel Energie angepackt werden müssen.

Energie allerdings, die sich kaum aus Meckern speisen wird, sondern aus tiefer Dankbarkeit. Wer zu satt ist, wird faul und nörgelig. Wer dankbar ist, wird aktiv. Aktiv für Deutschland. Aktiv für Europa. Und aktiv für die Menschen in Not. Staatliche Unterstützung reicht nicht aus. Die Menschen in Ostafrika sind auf Spenden angewiesen. Wir können etwas tun. Indem wir uns informieren und indem wir spenden. Etwa hier, auf der Webseite der „Aktion Deutschland Hilft“ (www. aktion-deutschland-hilft. de). Bereits mit fünf Euro im Monat kann man Förderer werden. 25 Euro sichern das Trinkwasser für fünf Familien. Unser Pizza-Abend ist teurer. Den haben wir uns verdient. Und den gönnen wir uns auch. Aber gilt nicht auch hier, wozu Jesus die „Gesetzestreuen“ auffordert, die den Blick für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verloren haben: Sie sollen „das eine tun und das andere nicht lassen“ (Matthäus 23,23)? Männer, lasst uns was tun. Aus tiefer Dankbarkeit.


Uwe Heimowski (53) ist ehrenamtlicher Stadtrat in Gera. Er ist verheiratet mit Christine und Vater von fünf Kindern. Er vertritt die Deutsche Evangelische Allianz als deren Beauftragter beim Deutschen Bundestag in Berlin.

Mehr von Frank Heinrich finden Sie in dem inspirierenden Buch: FRANK UND FREI – Warum ich für die Freiheit kämpfe, das im SCM Hänssler-Verlag erschienen ist.