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Opernsänger John Treleaven. (Foto: Lawrence Richards)

John Treleaven singt sich vom Fischerdorf auf die Opernbühne – dann zerstört der Alkohol beinahe seinen Traum

Für den britischen Opernsänger John Treleaven zählt nur die Kunst. Wenn es ihm zu viel wird, trinkt er ein paar Bier – bis er mit 40 lebensgefährlich erkrankt.

„Ich habe nicht gewusst, wie sehr das unter die Haut gehen würde! Aber es war eine wunderschöne Zeit!“, sagt John Treleaven im Rückblick auf die knapp vier Wochen, die er zusammen mit seinem Sohn Lawrence im Sommer 2018 in Cornwall verbracht hat. Als Sohn eines Fischers kam er in dem winzigen Dorf Porthleven vor 71 Jahren auf die Welt. Dass er eines Tages in London Gesang studieren und danach auf den großen Opernbühnen der Welt zu Gast sein würde, konnte damals keiner ahnen.

Dieser Lebensweg und der tiefe Glaube an Gott durch alle Krisen hindurch faszinierten Sohn Lawrence schon immer. Seit er angefangen hatte, Film zu studieren, stand für ihn fest: „So eine Heldengeschichte funktioniert auch im Kino. Eines Tages mache ich einen Film über meinen Vater!“ Von da an begleitete er seinen Vater immer wieder zu besonderen Auftritten, filmte Backstage, befragte Opernkollegen und Vorgesetzte.

Der rote Faden fehlt

Jede Menge Filmmaterial kam zusammen. Aber der „rote Faden“ für die Handlung fehlte ihm und es gab noch ein „Problem“, erinnert sich der heute 40-Jährige: „Mein Vater war damals noch so tief in seiner Berufswelt, dass er nicht bereit war, sich als Privatperson zu präsentieren, und er hätte aufpassen müssen, dass er nicht über gewisse Sachen spricht, die ihm hätten schaden können.“

Aber der richtige Zeitpunkt würde kommen, da war er sicher. Weil er mit seiner Produktionsfirma „indievisuals“ so ein Projekt nicht alleine stemmen konnte, holte er sich Unterstützung bei den Kollegen von MAPP Media GmbH. Zusammen mit der Dramaturgin Rebecca – die heute seine Frau und Mutter seines Sohnes ist – entwickelte er ein stimmiges Konzept.

Einzelzimmer gab es aus Kostengründen nicht

Das Kernstück des Films sollte eine gemeinsame Reise von Vater und Sohn nach Cornwall sein. Die finanziellen Mittel kamen durch die Filmförderung von Hessenfilm, die Kulturförderung Rheinland-Pfalz und eine aufwendige Crowdfunding-Aktion zusammen.

Im Juli 2018 ging die Reise los. Vater und Sohn fuhren aber nicht alleine nach Cornwall, sondern zusammen mit einer dreiköpfigen Filmcrew. Das Budget war knapp und so reisten sie zu fünft im Multivan, der bis auf den Dachgepäckträger mit Technik und Filmequipment vollgepackt war. Einzelzimmer gab es aus Kostengründen nicht.

Sohn über Vater: „Er ist supercool geblieben“

Lawrence lernte seinen Vater von einer neuen Seite kennen: „Er ist supercool geblieben, die ganze Zeit. Obwohl es sauanstrengend war. Und es war krass, wie positiv mein Vater immer geblieben ist! Wir waren auf engstem Raum zusammen. Da gab es immer mal wieder Stress im Team. Aber wenn mein Vater kam, war es nicht ein einziges Mal stressig. Er hat alle so positiv beeinflusst am Set!“ Auch Vater John entdeckt bisher Unbekanntes am Sohn: „Ich konnte ihn als Profi beobachten! Das war für mich ein neues Erlebnis. Er war ziemlich schweigsam bei der Arbeit. Wir haben ihn ‚One-Word-Lawrence‘ genannt. Ich konnte täglich sehen und erleben, wie er funktioniert!“

Lawrence stand während des Drehs mächtig unter Druck. Viele Leute hatten Geld gespendet für den Film „Son of Cornwall“, da musste er liefern. Außerdem war er Produzent, Regisseur, manchmal sogar Kameramann und immer zweitwichtigste Person vor der Kamera.

„Ohne Gott wäre ich heute wahrscheinlich tot“

Wie bei einer Dokumentation üblich, gab es kein Drehbuch, sondern die Drehorte gaben das Thema vor. Diese Rechnung ging in einem besonderen Fall nicht auf, erinnert sich Lawrence: „Als wir in der Kirche in Porthleven zusammengesessen haben, wollte ich natürlich mit ihm über seinen Glauben reden. Also fragte ich ihn: ‚Wieso glaubst du so stark?‘ Dann hat er gesagt: ‚Ohne Gott wäre ich heute wahrscheinlich tot.‘ Unter Tränen hat er über seine Alkoholsucht gesprochen! Das wollten wir eigentlich erst später in der Kneipe thematisieren. Aber in diesem Moment habe ich verstanden, wie sehr der Glaube meinem Vater aus der Sucht herausgeholfen hat.“

Alkohol war für John Treleaven seit Teenagerzeiten ein „treuer Begleiter“. Es war ganz normal, mit seinem Vater in der Kneipe von Porthleven ein Bier zu trinken. Während des Gesangsstudiums und später als gefeierter Operntenor griff er auch oft zur Flasche. „Wenn es irgendwie eng wurde, wenn es mir zu viel wurde, trank ich ein paar Bier, Whiskey, egal was, und dann war das Leben für mich wieder leichter zu handhaben!“, so bringt er es heute auf den Punkt.

Mit vierzig lebensgefährlich erkrankt

Wenn ein Arzt ihm vor Augen hielt, dass der Alkohol ihm massiv schade, dann suchte er sich einen anderen. Für ihn zählte nur die Kunst. Bis er mit vierzig lebensgefährlich erkrankte. Zusammen mit seiner Frau Roxane beschloss er, einen Entzug zu machen.

Erst als sein Vater für einige Wochen in der Klinik war, verstand der damals neunjährige Lawrence, dass sein Vater alkoholkrank war. Das Familienleben war immer harmonisch verlaufen, der Alkohol hatte John immer lockerer gemacht, aber nie aggressiv. Als der Vater nach dem Entzug nach Hause kam, hatte er sich verändert. „Ich habe gesagt: ‚Papa, du warst viel lustiger, als du noch getrunken hast!‘ Da hat er mit mir geschimpft und ich fand das doof“, erinnert sich Lawrence.

„Ich kam an einen Punkt, da konnte ich gar nicht mehr anders als trinken“

John Treleaven holte sich Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe. Er betete intensiv. Trotzdem hatte er immer wieder Rückfälle. Er sprach mit mehreren Pfarrern darüber, hoffte, dass sie ihm Hilfe anbieten könnten. Die Sätze, die er damals oft hörte, sind ihm noch in guter Erinnerung: „‚John, du bist Künstler, das ist bei denen eben so!‘ Und so habe ich meinen zerstörerischen Weg fortgesetzt. Ich kam an einen Punkt, da konnte ich gar nicht mehr anders als trinken. Manche sagen vielleicht, Gott hätte doch eingreifen und sagen können: ‚Hey John, du liebst mich doch! Hör auf damit!‘ Aber so handelt der liebende Gott nicht! Jeder hat die Freiheit, selbst zu entscheiden! Gott war immer bei mir. Ich habe ihn aber weggeschoben!“

Nicht zu trinken, war für ihn über Jahrzehnte ein täglicher Kampf. Heute ist er glücklich, dass er seit acht Jahren trocken ist. Für den pensionierten Opernsänger steht fest: „Dafür ist Gott verantwortlich. Jesus hat mich am Kreuz gerettet. Er ist für mich gestorben!“ Ähnliche Worte sprudelten aus John Treleaven vor laufender Kamera heraus, als er mit seinem Sohn in der alten Kirche in Porthleven war.

„Hoffnung geben“

Hat das Heldenbild, das Lawrence von seinem Vater hatte, nicht heftige Kratzer bekommen? „Nein, im Gegenteil! Durch die Reise ist er noch mehr zu meinem Helden geworden! Auf einer menschlichen Ebene“, erklärt Lawrence. Das hatte auch Auswirkungen auf die Kernaussage des Films. „Ursprünglich war meine Intention: Dem Zuschauer Hoffnung und Mut zu machen, seinem Traum zu folgen, weil ich mir immer gesagt habe: Wenn mein Vater es in diese Liga schaffen kann aus den Verhältnissen, aus denen er stammt, dann kann jeder seinen Traum erfüllen! Aber je mehr ich in diesen Film hineingestiegen bin, umso mehr merkte ich: Es ist ein Film, der den Glauben in den Vordergrund rückt und Menschen, die auch in schwierigen Situationen stecken, die vielleicht selber alkoholkrank sind, Hoffnung geben kann, dass sie es mit Gottes Kraft schaffen können.“

Die gemeinsame Reise nach Cornwall hat John Treleaven und Lawrence Richards noch enger zueinander finden lassen. Aus Vater und Sohn wurden Vertraute, die sich auf Augenhöhe begegnen und stolz aufeinander sind.

Sabine Langenbach ist kein Opernfan. John Treleaven hätte sie aber gerne mal live auf der Bühne erlebt. Die Journalistin, Speakerin und „Dankbarkeitsbotschafterin“ lebt mit ihrer Familie in Altena/Westfalen (sabine-langenbach.de).

Der Kneipenpastor Titus Schlagowsky (Foto: Rüdiger Jope)

Morgens stehen zwei Steuerfahnder im Schlafzimmer: So wurde Titus vom Kriminellen zum Kneipenpastor

Titus Schlagowsky war Schläger, Säufer und Schwindler. Im Knast wollte er sich erhängen. Heute ist er Kneipenpfarrer.

So eine Geschichte kann man sich nicht ausdenken! Wir sind durch Nastätten gekurvt, einem kleinen Städtchen im westlichen Hintertaunus, 4.000 Einwohner. Jetzt stehen wir in der kleinen Kneipe des Ortes. Früher Abend, gedämpftes Licht, Stimmengemurmel. Wimpel der Biermarke Astra und von Borussia Dortmund hängen wild verteilt herum. Es ist noch leer, fünf, sechs Leute stehen um den Tresen. Sie fußballfachsimpeln, frotzeln, lachen, rauchen.

Hinterm Tresen steht Titus Schlagowsky. Der Wirt, ein großer kräftiger Typ, auf dem Kopf fast kahl, Vollbart, zieht genüsslich am Zigarillo. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, eine Lederweste und sein Herz auf der Zunge, wie sich in den nächsten Stunden zeigen wird.

Seit ein paar Monaten ist er über seine Kneipe und Nastätten hinaus bekannter geworden: als „Kneipenpastor“. Früher wollte er mal nach Island auswandern, hat mehrere gescheiterte Beziehungen und Insolvenzen hinter sich, im Knast gesessen … Und ist heute Pastor? In einer Kneipe? Es ist viel passiert, bis wir an diesem Abend im Oktober 2021 beim Bier zusammensitzen.

„Keine Schlägerei ohne mich!“

Titus Schlagowsky ist Sachse, 1969 geboren, aufgewachsen in einem Vorort von Crimmitschau, in einer christlichen Familie. „Ich war nicht staatlich ‚jugendgeweiht'“, erzählt er. Seine Kindheit und frühen Jugendjahre hat er in guter Erinnerung, „die Kirche hat mir Rückhalt gegeben“. Es machte ihn aber auch zum Außenseiter, der von Mitschülern gemobbt wurde, nachdem die Familie in die Stadt umgezogen war. Eines Tages wehrt er sich, schlägt mehrere seiner Mitschüler nieder. Von da an war sein Motto: „Keine Schlägerei ohne mich!“

Zu den Prügeleien kommt der Alkohol. Nach der Schule lernt er Schreiner und säuft so viel, dass er am nächsten Tag oft „nicht mehr weiß, was oben und unten ist“. Auch in Sachen Glauben macht er jetzt sein „eigenes Ding“, wird ein „typischer U-Boot-Christ“, wie er das nennt: „An Weihnachten auftauchen, wieder abtauchen, Ostern auftauchen, wieder abtauchen … Das war’s.“ Auch von der DDR hat er die Nase voll. Gleich nach der Wende 1989 verschwindet er mit seiner damaligen Freundin in den Westen, landet über Verwandte, die in Bad Nauheim leben, in Nastätten.

Dicke Autos und große Häuser

In den nächsten Jahren wird’s richtig wild. Titus Schlagowsky hangelt, mogelt und schummelt sich durch, eckt an. In seinem neuen Schreinerbetrieb belegt er einen Meisterkurs, wird kurz vor der Prüfung gefeuert, erklärt sich aber wie ein Hochstapler schon mal („mit wohlwollendem Blick auf die Zukunft“) zum Schreinermeister.

Als er den Meisterbrief endlich in den Händen hält, lebt er auf viel zu großem Fuß: dicke Autos, große Häuser, er betankt Firmenfahrzeuge mit billigem Heizöl statt Diesel, wird erwischt; muss bald Insolvenz anmelden. Obendrein drängt er seine neue Lebenspartnerin, die unter einer Bulimie-Essstörung leidet und ein Kind von ihm erwartet, zur Abtreibung; sie verlässt ihn …

In Haft wegen Steuerhinterziehung

Schlagowsky will auswandern, nach Island: sein Traumland. Da lernt er seine heutige Frau Andrea kennen. Das Paar wagt einen Neuanfang, ackert ohne Finanzpolster, bringt mit Freunden und gesammelten Einrichtungsgegenständen aus aufgegebenen Bäckereien quer durchs Land ihr neues Café mit Kneipe auf Vordermann – und dann stehen eines Morgens um fünf Uhr zwei Steuerfahnder im Schlafzimmer … Zum Verhängnis wird Titus Schlagowsky, dass er bei seinem Neuanfang Privat- und alten Firmenbesitz beim Verkauf vermischt und Löhne, Überstunden unter Umgehung der Lohnsteuer bar aus der Kasse bezahlt, auch Einkäufe bei Lieferanten ohne Rechnung begleicht.

Nach jahrelangen Ermittlungen wird im März 2012 der Haftbefehl gegen ihn vollstreckt. Verurteilt zu drei Jahren und drei Monaten wegen Steuerhinterziehung, landet er im Knast, Haftnummer 39 812. Im Juli ist er fertig. Die Zelle ohne Fenster, 24 Stunden künstliches Licht, „Lebensüberwachung“ alle 20 Minuten. Er will sich umbringen.

Suizidversuch im Knast

Der Strick, eine in Streifen geschnittene Jogginghose, ist gedreht, sein Abschiedsbrief geschrieben, als der Kuli unters Bett rollt. Er kniet davor und denkt sich: „Jetzt kannste auch noch ’ne Runde beten.“ Es wird das längste Gebet seines Lebens, er heult Rotz und Wasser, und merkt, dass „auf einmal alles anders“ geworden ist, er „eine andere Einstellung zum Leben“ gewonnen hat. Und er vernimmt Gottes Reden: „Ich hab noch was vor mit dir.“

Noch im Knast wird er zum „Müllschlucker“: Andere Knackis, die von seiner Veränderung gehört haben, kippen in Gesprächen ihren Müll bei ihm ab. Er wechselt bald ins Freigängerhaus und wird Ende November 2013 vorzeitig entlassen, allerdings mit vier Jahren Bewährung. Wieder „draußen“, macht er eine Prädikantenausbildung, ist seit 2016 Laienprediger der evangelischen Kirche und hat in den folgenden dreieinhalb Jahren 265 Predigten gehalten. Demnächst will er noch seine kirchliche Diakonen-Ausbildung abschließen.

BILD-Schlagzeile in einer Predigt

Jetzt, bei unserem Besuch im Oktober, steht er abends in seiner Kneipe, hat T-Shirt und Weste gegen ein schwarzes Kollarhemd mit grüner Stola getauscht. Die Musik aus dem Radio ist abgedreht, Gäste hocken am Tresen und in den Bänken, gut 30 Leute insgesamt, es ist eng. An einem Tisch proben Gabi Braun am Akkordeon und Heiner Keltsch auf dem E-Piano ein paar Takte, ein Elektrotechniker aus der Nachbarschaft hat Licht und Kameras aufgebaut, um die Kneipen-Andacht, die hier gleich abläuft, aufzuzeichnen. Sie wird später auf YouTube zu sehen sein.

Titus startet mit einem Wochenrückblick, macht eine launige Bemerkung zu einer BILD-Schlagzeile. Dann geht es schnell zur Sache. Grit, eine Mitarbeiterin, liest aus Psalm 32 und Titus holt den Bibeltext in die Kneipen-Atmosphäre, spricht von Krankheit, Leid und Dankbarkeit. Er kennt die Leute hier, spricht sie direkt an: „Ute, Rudi – was denkt ihr?“

„In der Kneipe predige ich nicht!“

Mittendrin zapft Chantal am Tresen still ein Bier. Zum Ende lädt Titus seine kleine Gemeinde ein: „Wenn ihr eine Krankheit überwunden habt, dann bedankt euch – und nehmt Gott beim Dank mit ins Boot! Denn nicht die Glücklichen sind dankbar, sondern die Dankbaren sind glücklich.“ Gabi und Heiner spielen noch ein Lied, einige murmeln das Vaterunser mit. Segen. Ein paar Gäste bekreuzigen sich.

Schlagowskys „Karriere“ als „Kneipenpastor“ begann erst vor gut einem Jahr: An einem Abend wollte er sich kurz zurückziehen, um im Bierkeller seine nächste Predigt nochmal laut zu proben. „Das kannst du doch auch hier machen“, meint ein Gast. „Klar, ich predige hier in der Kneipe – so einen Scheiß mach ich nicht!“, wehrt Titus mit gewohnt großer Klappe ab. Als aber noch andere Gäste ihn auffordern, hält er tatsächlich seine erste Kneipenpredigt.

Kirche bei einem Glas Bier

Inzwischen lädt er zweimal im Monat zu Gottesdiensten ein. Und landet oft bei dem Gedanken: „Jeder Mensch hat eine zweite Chance, so wie ich“, vor allem beim „Chef“, wie er Gott nennt. Seinen Gästen gefällt’s. „Ich habe wie Titus am Boden gelegen. Der labert nicht nur vom Leben, sondern der weiß, wie es ist. Mit seinen Predigten spricht er mir aus der Seele“, bekennt Axel (59).

Neben ihm sagt Frank (61): „Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil sie mir nichts zu sagen hatte. Die Pfarrer sind so weit weg vom Leben! Hier verstehe ich die Bibel.“ Kevin (45) ist richtig begeistert: „Kirche nicht altbacken, sondern an meinem Leben dran. Und das bei einem Glas Bier. Wo gibt’s denn sowas!“

Würde Jesus heute in die Kneipe gehen? Titus lacht. „Ja, da bin ich mir sicher. Der hat sich zu allen gesellt.“ Auch Pfarrerinnen und Pastoren, Christen überhaupt sollten ruhig öfter mal in die Kneipe gehen.

Harte Kritik an der Kirche

„Ich glaube, das ist eine Aufgabe“ – um mit den Menschen zu reden, sich ihre Fragen anzuhören, findet er: „Ich gehe teilweise hart ins Gericht mit meiner Kirche, weil der Bezug zu den Leuten immer weiter verloren geht. Das tut mir in der Seele leid.“ Er selbst hat im Treppenhaus hinter der Kneipe einen Stuhl stehen. Dahin zieht er sich mit Gästen zurück, wenn einer von ihnen mal reden will: „Es landet alles bei dir: Ehekrisen, Alkoholprobleme, Kinderärger, Altersfrust …“

Die Worte des Kneipenpastors bleiben nicht ohne Wirkung. Gabi, die Akkordeonspielerin, sagt nachdenklich: „Jahrzehnte hat Gott für mich keine Rolle gespielt, ich bin aus der Kirche ausgetreten. Titus hat mit seinen Gottesdiensten etwas in mir zum Klingen gebracht. Ich bin Gott nähergekommen. Vielleicht trete ich bald wieder ein.“

Jörg Podworny ist Redakteur des Magazins „lebenslust“.

Lesetipp und mehr: Der Kneipenpastor. Wie Gott mein Versagen gebraucht, um Herzen zu verändern (SCM Hänssler)

Nicht ganz trocken

Andrea Schmidt ist Bildungsreferentin beim Blauen Kreuz  und zuständig für die Begleitung der ehrenamtlichen Mitarbeitenden. Ein Gespräch über Kontrollverlust im Genuss.

Feiert das Blaue Kreuz auch 500 Jahre Deutsches Reinheitsgebot?
(lacht) Ich glaube, die wenigsten wissen von dem Jubiläum. Bier ist für viele ein „Grundnahrungsmittel“, und wenn das unter das Reinheitsgebot fällt, ist das grundsätzlich eine gute Sache. Für alkoholabhängige Menschen und damit für uns im Blauen Kreuz ist das Jubiläum kein Anlass für eine Feier.

Stimmt die Aussage »Alkohol macht dumm«?
Ja. Das Gehirn hat hundert Millionen Nervenzellen, und es ist erwiesen, dass Alkohol die Nervenzellen angreift, das Gehirn schneller altern lässt und zum Abbau von kognitiven Fähigkeiten führt. Bei chronisch Alkoholkranken kann das Gehirn bis zu 15 % schrumpfen. Das Zwischenhirn kann sogar teilweise zerstört werden, das sogenannte Korsakow-Syndrom ist einer Demenz ähnlich.

Macht das regelmäßige Feierabendbier schon abhängig?
In der Regel nicht. Trotzdem warnt die Gesundheitsorganisation: Alkohol ist ein Zellgift und es ist nicht gesund, jeden Tag zu trinken. Um abhängig zu werden, müssen noch weitere Faktoren hinzukommen, sodass Alkohol nicht mehr nur aus Genuss getrunken wird, sondern zusätzlich eine andere Funktion bekommt: Einsatz gegen Schlaflosigkeit, Abmilderung negativer Gefühle, Abbau von Hemmungen oder Förderung von Entspannung. Hier entsteht eine seelische Abhängigkeit, die sich unmerklich in eine körperliche verändern kann.

Wie definiert sich Sucht?
Im medizinischen Sinne ist es eine seelische und/oder eine körperliche Abhängigkeit von einer Substanz wie Alkohol, Tabletten oder Drogen (stoffgebundene Abhängigkeit), oder von einer Verhaltensweise wie Spielsucht, Kaufsucht oder ähnlichem (stoffungebundene Abhängigkeit). Beide Arten von Süchten weisen ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand auf und führen beim Absetzen zu Entzugserscheinungen. Bei stoffgebundenen Süchten wirkt eine Substanz, beispielsweise Nikotin oder Alkohol, auf das Gehirn ein. Bei stoffungebundenen Süch-ten handelt es sich um Verhaltensweisen, die zwanghaft ausgeführt werden müssen.

Hat Alkohol einen zu hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft?
Ja! Werbung gaukelt allen ohne Ausnahme vor, dass das Leben mit Alkohol wesentlich entspannter und aufregender ist: „Ohne Alkohol keinen Spaß.“ Also haben wir dieses Bild, dass wir Alkohol brauchen, um mehr in Stimmung zu kommen. Natürlich enthemmt Alkohol und es fällt leichter, sich gehen zu lassen. Wer schaut schon Fußball mit seinen Freunden ohne ein Bier? Und auch in Filmen fällt auf, dass die Charaktere bei Problemen an die Bar gehen und sich erst einmal einen Drink gönnen. Wenn es allerdings kippt und jemand die Kontrolle verliert, wird er fallengelassen. Wer seinen Alkoholkonsum nicht mehr steuern kann, gilt gesellschaftlich als Versager, der „willenlose Penner“, der sein Leben nicht in den Griff kriegt. Ich finde das paradox.

Woran kann ich erste Anzeichen von Alkoholabhängigkeit erkennen?
Das ist ein schleichender Prozess. Kein Betroffener kann im Rückblick sagen, wann genau er körperlich abhängig geworden ist. Umso schwieriger sind erste Anzeichen zu erkennen. Wenn sich die Gedanken nur noch um den Al-kohol drehen, wenn immer das Verlangen da ist, wenn sich Schuldgefühle über das Trinkverhalten einstellen und man beginnt, heimlich zu trinken, dann liegt auf jeden Fall ein missbräuchlicher Konsum vor. Wer die Kontrolle über sein Trinkverhalten verloren hat, steckt schon mitten in der Abhängigkeit.

Sind Männer grundsätzlich gefährdeter als Frauen?
Bei Alkohol kann ich mir das sehr gut vorstellen, weil Männer sich häufiger in einem sozialen Umfeld aufhalten, in dem viel getrunken wird. Sie werden deswegen aber nicht eher süchtig. Männer und Frauen greifen eher zu unterschiedlichen Suchtmitteln. Bei Frauen gibt es eine größere Anzahl an Medikamentenabhängigen. Bei stoffungebundenen Süchten wie Magersucht, Ess- oder Brechsucht oder Kaufsucht sind eher Frauen zu finden, während wiederum mehr Männer süchtig nach Glücksspielen werden. Das Suchtmittel variiert, aber die Tendenz zur Sucht lässt sich nicht am Geschlecht festmachen.

Was empfehlen Sie zur Prävention?
Prävention fängt in der Erziehung an: Kinder stark machen, ihnen zu einem guten Selbstwertgefühl verhelfen, ihnen Geborgenheit vermitteln, sie aber auch loslassen können. Auch Erwachsene können zum ersten Mal oder wieder neu lernen, Selbst-Bewusstsein zu entwickeln. Sich selbst gut kennen und annehmen können – seine Gaben und Fähigkeiten, aber auch Grenzen gut einschätzen zu können, das ist die beste Prävention.

Wie gehe ich damit um, wenn meine Kinder sich jedes Wochenende betrinken? Wie gebe ich ihnen als Vater die Unterstützung, die sie brauchen? Soll ich sie mit ihrem Verhalten konfrontieren oder eigene Erfahrungen machen lassen«?
Wenn das Kind 13 oder 14 Jahre alt ist, muss eher eingegriffen werden, als wenn es 17 oder 18 ist. Je früher Kinder Alkohol trinken, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit für eine Abhängigkeit. Ein kindlicher Organismus verträgt keinen Alkohol. Dann ist es fahrlässig, wenn Eltern nicht darüber sprechen. Das Gespräch ist das Wichtigste, auch wenn das in dem Alter sehr schwierig ist. Ohne Vorwürfe die eigene Sorge mitteilen und auf die negativen Folgen von Alkohol hinweisen. Nach Hintergründen fragen: „Was ist los? Wozu brauchst du das? Warum kannst du nicht aufhören?“ Wo kein Weiterkommen ist, kann eine Suchtberatungsstelle aufgesucht werden, um individuell zu schauen, wie mit dem Kind umgegangen werden kann. Es ist immer gut zu wissen, wo mein Kind erreichbar ist und wie und wann es wieder nach Hause kommt. Absprachen mit vielleicht genauso besorgten Eltern aus dem Freundeskreis oder Kontakte zu Bezugspersonen meines Kindes sind ebenfalls hilfreich.

Wie kann ich Alkoholmissbrauch als Vorgesetzter oder Kollege ansprechen?
Jeder Vorgesetzte hat eine Fürsorgepflicht, Angetrunkene auf der Arbeit wieder nach Hause zu schicken, damit sie sich und andere nicht gefährden. Wenn es wiederholt vorkommt, ist ein Gespräch unbedingt nötig. Auch Kollegen können oder sollen das Gespräch nicht scheuen. Wer sich in seinem Verhalten verändert, wiederholt zu spät kommt, häufig krank ist, Absprachen nicht mehr einhält, unzuverlässig wird und unkonzentriert wirkt, der könnte ein Suchtproblem haben oder andere Schwierigkeiten. Ein kollegiales Gespräch, das nicht vage bleibt, sondern konkrete Situationen benennt, kann zu einer großen Hilfe werden. Schweigen aus der Angst heraus, jemanden zu verletzen, hilft niemals. Ohne Grund hört niemand auf zu trinken. Ohne Druck passiert nichts. Dort, wo man merkt, dass man mit dem Leben und dem Suchtverhalten nicht mehr klarkommt, beginnt die Einsicht,  dass sich etwas ändern muss.

Vielen Dank für das Gespräch!

Melanie Eckmann fällt inzwischen auf, wie oft der Protagonist in ihrer Lieblingsserie einen Drink zu sich nimmt.

 

Alkoholmissbrauch – Wo bekomme ich Hilfe?

  • „ALKOHOL? KENN DEIN LIMIT!“

Über den Umgang von Eltern mit suchtgefährdeten Kindern kann bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) kostenlos die Broschüre „Alkohol – Reden wir darüber. Ein Ratgeber für Eltern“ bestellt werden (www.bzga.de).

 

  • HOTLINE: 01805 – 313031

Die anonyme und bundesweite Sucht & Drogen Hotline ist ein Angebot für alle, die Fragen und Probleme zum Thema Sucht haben (www.sucht-und-drogen-hotline.de).

 

  • Blaues Kreuz – Wege aus der Sucht

www.blaues-kreuz.de