In ihrem Buchprojekt „Porno“ porträtiert Christina Rammler Männer und Frauen, die ihr von ihrem heimlichen Bilderkonsum erzählen – unzensiert und hintergründig. Ihr ehrgeiziges Ziel: „Stimmen Gehör zu verschaffen, die davon erzählen, wie sie mit ihrer Lust umgehen“.
Peter ist 32. Er kommt vom Land, aus einem Dorf, in dem „jeder alles von jedem weiß.“ Er schaut fast täglich Pornos, mindestens fünf Mal pro Woche. Im Schnitt zehn bis zwanzig Minuten. In dem Dorf, in dem jeder alles von jedem weiß, weiß davon allerdings niemand. Zu verdanken hat er diese Anonymität dem Internet. Peter gibt zu, dass das Internet in dieser Hinsicht „sein Leben revolutioniert“ hat.
Peter ist katholisch aufgewachsen, moralische Überzeugungen spielten für ihn schon immer eine große Rolle. Moral war stets klar definiert als „Dinge, die man tut“ und „Dinge, die man nicht tut.“ Als richtig und falsch. Pornos schauen gehörte zu den Dingen, die man nicht tut. Pornos schauen war falsch. Ebenso unterteilte Moral die Welt auch in „Dinge, über die man spricht“ und „Dinge, über die man nicht spricht.“ Lust gehörte zu den Dingen, über die man nicht spricht. Oder genauer gesagt: Über die man gar nicht sprechen musste, weil man sie nicht haben durfte. Und wenn man sie doch hatte, dann nur um den Preis eines ausgeprägt schlechten Gewissens. Peter zahlte den Preis: Er hatte ein schlechtes Gewissen. Und zwar ständig.
Denn er hatte Lust. Und zwar immer. Sie war einfach da und er wusste nicht, wohin mit ihr. Er schämte sich für seine körperlichen Bedürfnisse, fühlte sich schlecht, wenn er masturbierte, um den Druck loszuwerden. „Am Anfang [hatte ich] schon eher ein Moralproblem damit. Das Thema Lust und Zärtlichkeit hat es einfach nicht gegeben. Wenn ich früher Lust gespürt habe, war es ein Problem für mich, mir einen runterzuholen, weil das gehört sich ja nicht, es war ja nie da.“ Im realen Leben war Lust nicht vorhanden, war nicht sichtbar, durfte nicht sein. In der Welt, in der Peter aufwuchs, hatte Sexualität keinen Platz, wurde ausgeklammert und negiert. Diese Welt war gegen alles Körperliche, war körper- und sexualitätsfeindlich. Sex war „immer so ein bisschen versteckt.“
Versteckt waren auch die Playboyhefte seines Vaters. Auch die sollten geheim gehalten werden, auch sie waren ein Tabu. Ein Tabu, das Peter eines Tages brach, als er sie im Keller seiner Eltern entdeckte. Für den kleinen Jungen war das nicht ganz einfach, schienen die nackten Frauen in den Hochglanzmagazinen irgendwie eine Grenze zu überschreiten – sie gehörten zu den Dingen, die man einfach nicht tut. Sie passten nicht hinein in die Ehe seiner Eltern. Sie verstießen gegen ein ungeschriebenes Gesetz: Das Gesetz von Respekt und Achtung gegenüber einer Frau, die Peters Mutter war.
„Ich weiß, dass mein Vater meine Mutter liebt, das spür’ ich halt. Aber für mich war das so, er kauft sich das, er schaut sich das an. […] Und irgendwie fand ich das auch nicht so fair meiner Mama gegenüber, weil irgendwie hat er dafür ja auch die Mama.“ Dafür hat der Papa die Mama.
„Dafür“ heißt: für den Sex und alles, was zur Befriedigung der Lust dazugehört. Dafür sollte der Papa eigentlich doch keine anderen Frauen brauchen. Dafür sollte doch die Mama genügen. Scheinbar war die Mama dem Papa dafür aber nicht genug. Für das Kind Peter damals unverständlich, verwirrend. Mit seiner Enttäuschung über den Vater war er allein. Sein Moralempfinden sagte ihm, dass es Dinge gibt, die man nicht tut. Dass es richtig und falsch gibt. Mama und Papa – das war richtig. Papa und andere Frauen, wenn auch nur auf Fotos, das war falsch, das hatte in der Sexualität seiner Eltern nichts zu suchen. Doch offensichtlich hatte sein Vater ein anderes Verständnis von richtig und falsch. Scheinbar tickten die Uhren in der Welt der Erwachsenen anders, verfügten Erwachsene über eine ganz eigene Moral, von der Peter bis zu jenem Tag im Keller nichts ahnte. Eine Moral, die definiert war als das, was man tut, worüber man aber auf keinen Fall redet.