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Neuen Mut für Europa

SERIE: POLITIKBETRIEB VON INNEN
Das gefährdete Projekt „Freiheit, Menschlichkeit und Frieden“

Wahrscheinlich ist es eine Generationenfrage, dachte ich. Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, stehen mir die Schilderungen meiner Mutter bis heute vor Augen: die Schrecken der Flucht. Als Achtjährige musste sie Vertreibung, Hunger, Gewalt und Vergewaltigung über sich ergehen lassen. „Nie wieder Krieg!“ hat sich meiner Generation eingebrannt.

DIE ERINNERUNG WACHHALTEN
Und tatsächlich: Meine Kinder wachsen im Frieden auf. Seit 73 Jahren hat Westeuropa keinen Krieg mehr gesehen. In der jüngeren deutschen Geschichte ist das eine einmalige Zeitspanne. Wie wenig selbstverständlich dieser Frieden ist, zeigt ein Blick auf den Balkan oder in den Nahen und Mittleren Osten. Ohne die Einbindung in die Europäische Union hätten wir das nicht erlebt. Auch die Wiedervereinigung hätte es nicht gegeben, zu groß waren die Befürchtungen, ein neues „Großdeutschland“ würde den Frieden (erneut) gefährden. Dennoch beginnt das Projekt Europa zu bröckeln. Eurokrise, Flüchtlingsströme, Brexit sind die Stichworte. Europakritische, nationalistische Parteien erstarken in allen europäischen Ländern. Wahrscheinlich ist es eine Generationenfrage, dachte ich, die Erinnerung geht verloren.

Doch nun las ich am 3. Mai 2018 in der zweiten Europäischen Jugendstudie, die das Meinungsforschungsinstitut YouGov im Auftrag der TUI Stiftung erstellt hat: „Wenn morgen ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft des jeweiligen Landes stattfinden würde, würden 71 Prozent der Befragten gegen einen Austritt stimmen, 2017 waren es nur 61 Prozent. In Deutschland sind es sogar 80 Prozent (2017: 69 Prozent).“

Das ist so überraschend wie eindeutig: Gerade bei jungen Europäern wächst die Zustimmung zur EU wieder. „Die Ergebnisse der Studie zeigen: Europa erlebt ein Comeback bei jungen Menschen. Der Brexit hat wachgerüttelt. Wir reden wieder über Stärken, Chancen und Errungenschaften. In einer Welt, die an vielen Orten in Unruhe ist“, kommentiert Thomas Ellerbeck, Vorsitzender des Kuratoriums der TUI Stiftung.

So kann man sich täuschen. Zum Glück, wie ich finde. Allerdings: Das Projekt Europa ist damit noch nicht zukunftsfest gemacht. Wer die Zukunft gestalten will, muss die Vergangenheit kennen. Um Früchte zu ernten, braucht man Wurzeln. Daher ein Blick zurück: Drei geistesgeschichtliche Traditionen haben Europa im Wesentlichen geprägt: die griechische Philosophie, das römische Recht und der christliche Glaube.

DIE TRADITIONEN KENNEN
Christliche Traditionen gehören zu Europa. Empirisch wie historisch. Dazu noch mal eine Umfrage, von Eurobarometer 2012: 72 % der Menschen in Europa bezeichnen sich als christlich, 23 % als Atheisten oder Agnostiker, 2 % als muslimisch und weniger als 1 % als Buddhisten, Sikhs, Hindus oder Juden. Auch wenn die Zahl der Muslime insbesondere seit dem starken Flüchtlingszustrom von 2015 deutlich gestiegen ist, zeigt dieses Ergebnis deutlich: Der christliche Glaube bleibt für die große Mehrheit der Europäer nach wie vor identitätsstiftend. Wie emotional dieses Thema auch in Deutschland besetzt ist, zeigt etwa die heftige Debatte um das Anbringen von Kreuzen in bayrischen Amtsstuben, die Markus Söder im Frühjahr 2018 ausgelöst hat. D

ie Bedeutung der christlichen Wurzeln zeigt die Verleihung des Karlspreises, mit dem Menschen geehrt werden, die sich um Europa und „Freiheit, Menschlichkeit und Frieden“ verdient machen. Namenspatron ist Karl der Große (768-814 n. Chr.). Er ist wohl der Erste, der den Gedanken der europäischen Einigung formuliert hat: „Karl der Große hatte Gelehrte aus ganz Europa um sich versammelt, die die Höhe der Bildung jener Zeit widerspiegelten. Zum Werk der Konsolidierung im Inneren des Reiches gehörte auch der Ausbau der Verwaltung und der Justiz sowie eine einheitliche Gesetzgebung. Karls besonderes Augenmerk galt dem christlichen Glauben, den er als entscheidende Klammer für die Einheit des Reiches betrachtete.“ (www.karlspreis.de)

Hat das Christentum auch im 21. Jahrhundert noch die Kraft, eine solche Klammer zu sein? Ich denke: Ja. Konzepte wie die individuelle Würde des Menschen oder die des Sozialstaates wurzeln in der biblischen – und damit der gemeinsamen jüdisch-christlichen – Tradition: Der Mensch ist das Ebenbild Gottes, der Staat hat die Aufgabe, ihn zu schützen.

DIE WURZELN BEJAHEN
Allerdings gehören Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit dabei notwendig an die Seite des Christentums, damit sich dessen dunkle Seiten nicht wiederholen. Denken wir nur an den Dreißigjährigen Krieg, dessen Ausbruch sich 2018 zum vierhundertsten Male jährt. Die christlichen Konfessionen haben sich brutal bekämpft, mehr als ein Drittel der Bevölkerung Europas wurde ausgelöscht. Oder denken wir an die Rolle der Deutschen Christen im Dritten Reich und an den kirchlich legitimierten Antisemitismus. Die Stärke eines aufgeklärten Christentums dagegen ist die Selbstreflexion: Es kennt seine Werte – und sein Versagen. Diese Wurzeln dürfen nicht verkümmern. Sie zu pflegen, ist tatsächlich eine Generationenfrage. Nämlich die Frage, wie wir Älteren Glauben und Werte an die nächste Generation weitergeben.

Uwe Heimowski (54) vertritt die Deutsche Evangelische Allianz als deren Beauftragter beim Deutschen Bundestag in Berlin. Er ist verheiratet mit Christine und Vater von fünf Kindern.