Hätten Sie es gewusst: „O du fröhliche“ ist eigentlich kein Weihnachtslied
Johannes Falk verlor sechs Kinder und beinahe sein eigenes Leben an den Typhus. Dass sein Lied „O du fröhliche“ zu einem Weihnachtsklassiker werden würde, plante er nicht.
Kein Heiligabend ohne „O du fröhliche“. Kennen alle. Rund um die Welt. Der Texter dieses Weihnachtsliedes schrieb es für verwahrloste Kriegswaisen und Straßenkinder. Protestierte gegen die Prügelstrafe, musste sechs seiner eigenen Kinder zu Grabe tragen und blieb trotzdem ein humorvoller Bildungspionier.
Ein Theologiestudent, dem seine Heimatstadt Danzig das Studium finanziert, sollte dankbar dafür sein, oder? Aber der 27-jährige Johannes Daniel Falk an der Uni im sächsischen Halle schmeißt nach vier Jahren alles hin und kehrt 1797 nicht als Pfarrer nach Ostpreußen zurück. Sondern? Schreibt lieber freiberuflich bissige Kommentare zur Tagespolitik! Kann man davon leben? Nein.
In Kontakt mit Goethe und Schiller
Papa Falk daheim an der Ostsee ist Perückenmacher. Er hatte den Jungen mit 10 aus der Schule geholt und in die Werkstatt gesteckt. Die Kundinnen und Kunden sind begüterte Leute, standesbewusste Adlige. Kaum war Johannes mit 16 zurück am Gymnasium, hatte er sich in brillanten Aufsätzen über das vornehme Getue dieser Leute lustig gemacht. Mama Constantia geht in eine fromme „Brüder“-Gemeinde, das religiöse Klima im Lande Immanuel Kants ist aber streng vernunftorientiert und „aufklärerisch“ – Johannes nimmt diese Widersprüche scharfsinnig aufs Korn.
1797 heiratet er Caroline Rosenfeld, zieht mit ihr nach Weimar um und kommt dort durch seinen väterlichen Freund Christoph Martin Wieland, den gebürtigen pietistischen Schwaben, in Kontakt zum berühmten „Dichter-Dreigestirn“ Goethe, Schiller, Herder. „Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satyre“ wird 1803 Falks erstes erfolgreiches Buch in Serie, 1806 ernennt ihn Herzog Carl August zum Legationsrat. Mit 38 Jahren erhält er das erste feste Gehalt! Aber: Vier seiner Kinder sterben an Typhus, er selbst entgeht nur knapp der tödlichen Epidemie.
Vorreiter der Jugendsozialarbeit
Im Oktober 1813 besiegen Preußen und drei alliierte Staaten die französischen Truppen Napoleons bei Leipzig. Diese sogenannte „Völkerschlacht“ hinterlässt rund 100.000 getötete Soldaten, noch mehr schwerstverwundete Arbeitslose und: jede Menge Waisenkinder, Streuner, verwahrloste minderjährige Überlebenskünstler. Johannes Falk gründet mit Weimarer Bürgern die „Gesellschaft der Freunde in der Noth“ (wir würden heute sagen: einen Förderverein) und nimmt 30 Kinder in der eigenen Wohnung auf (!). Ehepaar Falk unterrichtet alle in der „Sonntagsschule“, die Jungen in der „Berufsschule“, die Mädchen in der „Nähschule“. Das wird dem Vermieter der Wohnung zu laut, kein Wunder.
Als zwei weitere Falk-Kinder im Teenageralter sterben, kaufen Johannes und Caroline den (heruntergekommenen) „Lutherhof“. Johannes kontert mit einer Schrift, deren langatmigen Titel heute keine Suchmaschine fressen würde: „Das Vaterunser in Begleitung von Evangelien und alten Chorälen wie solches in der Weimarschen Sonntagsschule mit den Kindern gesungen, durchgesprochen und gelebt wird. Zum Besten eines von den Kindern selbst zu erbauenden Beth- und Schulhauses.“ Was er 1823 nicht ahnen kann: Seine Ideen inspirieren berühmte Sozialreformer und -politiker, sein Weimarer „Rettungshaus“ wird zum Vorreiter evangelisch-diakonischer Jugendsozialarbeit bis heute.
Wie „O du fröhliche“ ein Weihnachtslied wurde
„O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Osterzeit! / Welt liegt in Banden, Christ ist erstanden / Freue, freue dich, o Christenheit. O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Pfingstenzeit! / Christ, unser Meister, heiligt die Geister / Freue, freue dich, o Christenheit.“ Kennt keiner. Nur die erste Strophe – die zu Weihnachten – ist hängen geblieben.
Johannes Falk schreibt 1816 ein „Allerdreifeiertagslied“ für „seine“ Heimkinder. Die Melodie hat er von einem fieberkranken Jungen aus Italien gehört (später wird man herausfinden, dass es „O sanctissima, o pi-issima, dulcis virgo Maria“ hieß). Ein bayerischer Mitarbeiter Falks, Heinrich Holzschuher, dichtet 1826 noch zwei weitere „Weihnachts“-Strophen dazu und macht es damit – unwillentlich – zu einem reinen Weihnachtslied. Aber da ist der „Waisenvater von Weimar“ bereits seit dem 14. Februar 1826 tot. Mit 58 an einer Blutvergiftung gestorben. Caroline und der ehemalige „Zögling“ Georg Renner überführen das private Waisenheim als „Falk’sches Institut“ in kommunalen Besitz. Die Schriften des „Freundes von Scherz und Satyre“ aber zeigen bis heute, dass kindliche Herzensfrömmigkeit, empathisches Sozialengagement und scharfsinnig intellektuelle Zeitkritik kein schlechter Dreiklang sind.
Andreas Malessa ist Hörfunkjournalist in der ARD, Theologe, Buchautor satirischer Kurzgeschichten, Referent und Moderator auf Veranstaltungen mit religiös-kulturellen, kirchlichen und sozialethischen Themen. Im Frühsommer sind von ihm die Titel „111 Bibeltexte, die man kennen muss“ (emons) und „Mann! Bin ich jetzt alt?!“ (adeo) erschienen.