Er schwamm zur Goldmedaille – ohne Arme und Kniegelenke
Der Para-Schwimmer Josia Topf gewann bei den Paralympics in Paris 2024 Gold, Silber und Bronze. Er möchte Menschen mit körperlichen Einschränkungen eine Stimme geben.
Wasser plätschert und schwappt über den Beckenrand. Es riecht nach Chlor. Frauen und Männer ziehen entspannt ihre Morgenrunden im Erlanger Röthelheimbad. Die Atmosphäre auf und neben Bahn 1 atmet nichts von diesem Gemütlichkeitsfaktor. Gnadenlos springt der rote Zeiger der großen Wettkampfuhr von Sekunde zu Sekunde. Meter um Meter tigert Trainer Christian Thiel am Beckenrand über die Fliesen mit. In seiner Hand: die Stoppuhr. In seinem Blickwinkel: Josia Topf, dreifacher Paralympics-Medaillengewinner von Paris 2024.
Ohne Arme wie ein Delfin
Josia Topf hat das sogenannte TAR-Syndrom. Er kam ohne Arme, ohne Kniegelenke und mit unterschiedlich langen Beinen zur Welt. Der Prognose „Dieses oder jenes wird Josia nie können“ lebt er selbstbewusst und fröhlich ein „Geht nicht, gibt’s nicht!“ im Wasser und an Land entgegen. Die Wende absolviert er flüssig tauchend wie ein Delfin. Anschließend rattert er mechanisch wie die Nähmaschine meiner Großmutter 4 x 100 m durchs Nass. Josia ist schnell, aber für seinen Geschmack nicht schnell genug. Prustend parkt er neben seinem Trainer. „Sieht flüssig aus. Deine Konstanz ist gut“, sagt ihm dieser. Josia spuckt einen Schwall Wasser aus. „Konstanz ist scheiße!“ Christian lacht. „Hey, du bist noch jung, wir müssen dich langsam aufbauen!“ Der 21-Jährige atmet tief durch. Seine Augen blitzen. „Ich habe doch fast keine Jahre mehr!“, entfährt es ihm entrüstet. Die beiden schauen sich an, die Spannung entlädt sich in einem Lachen. Josia zieht sich die Brille zurecht. Der Trainer zählt runter: 5, 4, 3, 2, 1 … Und schon pflügt Josia wieder los. Auf der Jagd nach Bestzeiten, Olympiasiegen und persönlichen Quantensprüngen. Es gilt, die ideale Körperhaltung im Wasser zu finden, die Renneinteilung zu optimieren, Hundertstelsekunden herauszuholen, um auch bei der WM in Singapur im September 2025 ganz oben zu stehen. Ich sehe: Geht nicht, gibt’s nicht!
Auf Bahn 2 lärmen inzwischen Fünftklässler. Die Lehrerin weist sie an, einander mit Schwimmnudeln durchs Wasser zu ziehen. Doch deren Aufmerksamkeit gilt der Bahn nebendran. „Da trainiert Josia Topf. Der hat keine Arme und Beine und schwimmt trotzdem schneller als wir!“ Ein Leben lang braucht Josia helfende Hände. Beim Duschen, Haareföhnen, Hose-Anziehen. Beim Zähneputzen, auf die Toilette gehen, um einen Text aufzuschreiben, die Scherben eines heruntergefallenen Glases aufzukehren. Doch Josia ist ehrgeizig. „Seit einer Woche kann ich selbstständig meinen Pullover anziehen!“ Im Wasser blüht Josia auf. Hier kommt er ohne Hilfe klar. Kraft holt er sich aus dem Rumpf: „Ich kann Purzelbäume und Salti machen, mich frei bewegen. Im Wasser bin ich unabhängig, tanke Optimismus und Selbstbewusstsein.“ Das Element Wasser schenkt ihm Freiheit. Er macht die Erfahrung: Das Wasser trägt ihn.
Er fährt selbst ein Auto?
8:34 Uhr. Josia steigt aus dem Becken. Das erste von acht Schwimmtrainings in dieser Woche ist absolviert. Mutter Wiebke übernimmt. Sie ist Josias Managerin, Mutmacherin und Ermöglicherin. Seine Eltern entscheiden sich in der Schwangerschaft trotz der niederschmetternden Diagnose für seine Geburt. Bewusst wählten sie den Namen Josia. „Das bedeutet im Hebräischen: Gott heilt, Gott unterstützt.“ Sie lieben und unterstützen ihn. Sie nehmen sehr viel auf sich in finanzieller und zeitlicher Hinsicht, um ihren Sohn zu fördern und voranzubringen. Ich ahne die Kraft der Elternliebe hinter „Geht nicht, gibt’s nicht!“.
„Bist du mit dem Auto da?“, fragt mich der frisch geföhnte Schwimmprofi. „Nein, ich bin mit der Bahn gefahren.“ „Dann kannst du gerne bei mir einsteigen“, sagt der 21-Jährige fröhlich. Selbstbewusst steuert er auf einen BMW zu. Von Mutter Wiebke als Fahrerin keine Spur. Im Armstumpf klemmt ein Schlüssel. „Echt jetzt?“, schießt es mir durch den Kopf. Schwups sitzt der junge Mann hinter dem Lenkrad. „Willst du noch ein Bild machen? Von der Beifahrerseite aus ist die Steuerung nicht sichtbar …“ Ich laufe ums Auto herum. Spüre ich da in mir ein Zögern? Kaum habe ich mich angeschnallt, höre ich Josia sagen: „Startknopf betätigen. Blinker setzen, links!“ Wie von Geisterhand bewegt, dreht sich das Lenkrad, ohne dass Josia es berührt. Seine Hände sind dafür viel zu kurz. Das Auto rollt los. Ich bin völlig verwundert. Der Schwimmer lacht mich unbekümmert an. Sekunden später drückt mich die Beschleunigung in den Sitz. Er fährt, wie er schwimmt: Vollgas!
Josia erzählt mir den steinigen Weg zu seinem Führerschein. Mit zwei Joysticks steuert er das Fahrzeug: Links lenkt er, rechts beschleunigt und bremst er. Den Blinker setzt er per Sprachsteuerung. „Blinker rechts!“ Er weiht mich in die technischen Details seines Wunderautos ein. Wir haben uns an der Ampel falsch eingespurt. „Macht nix!“ Es wird grün. „Blinker links!“ Warum gehen meine feuchten Hände plötzlich Richtung Armaturenbrett? Warum tritt mein Fuß auf die nicht vorhandene Bremse? Josia spürt meine Verunsicherung. Er lacht auf. „Beug dich mal nach vorne.“ Ich sehe auf „Restfinger“ an der linken Schulter. Diese bedienen einen Joystick in Mario-Kart-Manier. Die Freiheit feiernd. Und ich erlebe auf dem Beifahrersitz: „Geht nicht, gibt’s nicht!“
Jurastudium und Hantelbank
Wir sitzen im Wohnzimmer. Josia kaut einen Energieriegel. Er wirkt zufrieden. Wir reden über die Mühe und den Schmerz. „Wenn ich nicht bereit bin, an meine Grenzen zu gehen, dann brauche ich auch nicht diese Art von Leistungssport zu betreiben. Der Sport lebt davon, dass man seine Grenzen verschiebt, sie austestet, sie überwindet.“ Das Gefühl „Da geht noch was“ gibt ihm Kraft, treibt ihn an. „Mich befriedigt es, mich abends im Spiegel anzuschauen und mir zuzusprechen: Heute hast du alles gegeben!“, so der Schwimmer. „Man braucht 10.000 Übungsstunden, bis man ein Instrument gut bis sehr gut beherrscht. So ist es auch mit der Technik beim Schwimmen. Ich habe noch keine 10.000 Stunden im Becken verbracht. Ich kann mir daher noch ein bisschen Zeit geben“, erklärt er lachend. Weniger spaßig ist für ihn das Thema Anschlagen im Ziel. Da er keine Arme hat, kracht Josias Kopf mit Vollgas gegen den Beckenrand, um den Sensor in der Anschlagmatte auszulösen und die Uhr zu stoppen. Das zieht massive Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und auch mal Gedächtnislücken nach sich. Er stöhnt: „Manchmal sind da für mich richtige schwarze Löcher.“ Der Antrag, die Badekappe oder die Anschlagswand zu polstern, wurde bisher abgelehnt. Offizielle Begründung: Die Körpergröße würde künstlich erhöht, die Chancengleichheit für die anderen dadurch herabgesetzt. „Wir kämpfen weiter für eine Regeländerung beim Weltverband, auch wenn es ein mühsamer Weg ist“, schiebt Josia nach. Der Ärger ist ihm abzuspüren, aber auch eine anwaltliche Hartnäckigkeit, denn „Geht nicht, gibt’s nicht!“.
Eine Hantelbank im Zimmer nebenan. Hier warten Gewichte auf die nun folgende schweißtreibende Trainingsrunde, bevor er am Nachmittag mit seinen Kommilitonen im Hörsaal der Vorlesung in Jura lauscht. Aus der Kiste holt Josia die Olympiamedaille in Gold über 150 m Lagen. Sie ist ihm Mutmacher in den Niederungen des Trainings- und Lebensalltags, aber „am Ende des Tages möchte ich damit auch nicht angeben. Nicht erst die Medaillen machen mich zu einem wertvollen oder gar wichtigen Menschen.“ Der Student ist dankbar für seinen Glauben. Römer 8,31 gibt ihm Kraft in guten und in schlechten Zeiten. „Wenn Gott für mich ist, wer kann dann gegen mich sein?“ Dieses Wissen verleiht ihm Wert, Stabilität und Ruhe, gibt ihm aber auch Energie in seinem Kampf für gelingende Inklusion. Josia saugt seine gewachsene Popularität nicht nur für sich selbst auf. Er verleiht auch denen eine Stimme, „die nicht das Privileg haben, so eine Aufmerksamkeit zu erlangen“. Er drückt mir seine Medaille in die Hand. „Ich würde mich freuen, wenn Menschen mit körperlichen Einschränkungen von meiner Goldmedaille in Paris profitieren und wir nachhaltig etwas für alle Beteiligten verändern können.“
Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO.