Ein Bundestagsabgeordneter scheitert. Eine Woge der Häme schwappt durch die Sozialen Netzwerke. Nachdenklich erinnert Uwe Heimowski daran: „Wer von euch im Glashaus sitzt, der werfe den ersten Stein.“
Berlin, 2. März 2016, Eilmeldung auf Spiegel-On-line: „Vorwurf des Drogenbesitzes: Grünen-Politiker Volker Beck legt Ämter nieder. Bei dem Grünen-Abgeordneten Volker Beck sind bei einer Polizeikontrolle offenbar Drogen gefunden worden.“ Die BILD will zu diesem Zeitpunkt bereits wissen, dass es sich um Crystal Meth handelt, die Staatsanwaltschaft spricht zurückhaltender von 0,6 Gramm einer „betäubungsmittelsuspekten Substanz“. Beck legt sofort alle Ämter nieder.
Kaum ist die Nachricht raus, beginnen die Kommentarspalten in den sozialen Netzwerken zu glühen. Ich will das hier nicht wiedergeben. Zu hasserfüllt, gehässig, schadenfroh und selbstgerecht ist das meiste, was ich da gelesen habe. Sollte sich bestätigen, dass Volker Beck Crystal Meth bei sich hatte, kann das fatale Folgen haben. Man mag ja die Freigabe von Cannabis diskutieren (ich bin übrigens dagegen), aber Crystal Meth ist eine ganz andere Liga. Dieses Gift ist noch brutaler als Heroin und Kokain. Es macht rasant schnell abhängig und hat massive Folgen für Körper und Psyche. Crystal Meth zerstört Menschen. Diese Droge hat in der Tasche eines Abgeordneten nichts, einfach gar nichts verloren. Politiker stehen in der Öffentlichkeit, sie haben auch als Vorbild eine Verantwortung, und nichts darf den Gedanken auslösen: „Wenn der das darf, darf ich das auch“. Darum ist es richtig, dass der Bundestagspräsident Volker Becks Immunität aufgehoben und die Staatsanwaltschaft ein Verfahren eingeleitet hat. Eines muss man Beck dabei zugutehalten: Er hat nicht geleugnet, nicht verschleiert, sondern noch am selben Tag seine Ämter zurückgegeben.
DRUCK, DRUCK, DRUCK
„Jede Gesellschaft hat ihre typischen Drogen“, sagte mir vor kurzem ein Drogenfahnder von der Kripo in Thüringen. „Crystal Meth passt ideal zur Leistungsgesellschaft.“ Auch das bewegt mich in diesem Zusammenhang. Gerade Politiker stehen unter einem enormen Leistungs- und Erwartungsdruck. Da ist die hohe Arbeitsbelastung, mit regelmäßigen 16-Stunden-Tagen. Da sind die vielen Entscheidungen mit ungewissen Auswirkungen (um nur ein Stichwort zu nennen: Militäreinsätze), die sehr häufig auch noch unter enormem Zeitdruck zu treffen sind. Da ist die ständige Beobachtung durch die kritische Öffentlichkeit. Dazu kommen permanente Angriffe auf die Privatsphäre, die durch Twitter und Facebook eine nie dagewesene Schärfe gewonnen haben. Der Begriff „Shitstorm“ ist das Synonym für dieses Phänomen. Was sich da Tag für Tag über Personen des öffentlichen Lebens ergießt, ist schlimmer als ein Kübel Fäkalien. Wir müssen uns fragen: Ist dieser Druck zumutbar? Kann das auf Dauer gut gehen? Und damit verbunden die Frage an die Christen: Können wir hier einen Unterschied in der Gesellschaft machen? Sollten wir nicht in der Form und in der Sache dazu beitragen können, eine „Kultur der Gnade“ zu »etablieren?
In der Form: Indem wir Politiker segnen, wertschätzend von ihnen reden und ein Vergehen ein Vergehen nennen, ohne den Menschen, der es begangen hat, zu verdammen und zu beschimpfen. In der Sache: Der christliche Glaube weiß um die Gnade. Menschen sind fehlerhaft: „Sie sind allzumal Sünder“ (Römerbrief, Kapitel 3). Menschen brauchen die Erlösung. Darum ist Christus für uns gestorben. Ein Christ ist kein besserer Mensch, sondern ein begnadigter Sünder. Eine Kultur der Gnade ist ehrlich. Sie weiß um das Scheitern und ermöglicht daraus den Neuanfang. Und sie erhebt sich nicht über den anderen.
DIFFERENZIEREN STATT VERDAMMEN
Ich sage es geradeheraus: Viele Christen tun das glatte Gegenteil. Sie verurteilen. Sie hetzen. Sie frohlocken, wenn dem Gegner ein Schaden widerfährt. Das darf nicht sein. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, sagt Jesus. Wir sind nicht besser. Machen wir uns nichts vor. Wir sitzen im Glashaus. Stichworte? „Missbrauchsskandal“ reicht schon … Eine Kultur der Gnade verdammt niemals eine ganze Person. Sie differenziert. Ein Drogenfund in der Tasche ist fatal. Aber muss man wegen eines privaten Vergehens das politische Werk einer Person in Frage stellen? War Margot Käßmann eine schlechte Bischöfin, weil sie mit Alkohol am Steuer erwischt wurde? Wird nicht Helmut Kohl immer der Kanzler der Einheit bleiben – und das, obwohl er schwarze Kassen geführt hat (immerhin ohne sich persönlich zu bereichern)? König David war ein Ehebrecher und Mörder, und doch wird er „Mann Gottes“ genannt und war der größte König Israels.
Unrecht ist Unrecht, daran gibt es nichts zu beschönigen. Gnade, die alles durchgehen lässt, ist „billige Gnade“ (Dietrich Bonhoeffer). Wahrheit, Reue und Umkehr sind Bestandteile einer Kultur der Gnade, wenn sie eben keine billige Gnade sein soll. Gnade darf niemals zum Alibi werden, um einen Lebensstil zu rechtfertigen, der Unrecht tut und Menschen Schaden zufügt. Christen haben eine Stimme, um Unrecht auch Unrecht zu nennen. Aber Christen haben über Menschen nicht zu richten. Das ist Gottes Sache. Unsere Aufgabe hingegen ist es, die Kultur der Gnade zu pflegen.
Uwe Heimowski (51) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Frank Heinrich, Stadtrat, Vater von fünf Kindern, Ehemann und Gemeindereferent. Sein neustes Buch trägt den Titel „Ich lebe!“ (neukirchener aussaat). Es ist ein mutiges Plädoyer für die Würde des Menschen.