Schlagwortarchiv für: Krieg

Oberstaatsanwalt Hoffmann

Politiker aus Moskau bald auf der Anklagebank?

Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann dokumentiert Kriegsverbrechen im Ukrainekrieg. Im Interview berichtet er, wie er den Opfern eine Stimme gibt. Er ist überzeugt: Die Verantwortlichen werden irgendwann vor Gericht stehen.

Herr Hoffmann, wie sind Sie aus dem beschaulichen Freiburg zu dieser Aufgabe in Kiew gekommen?
Ich habe einige Jahre als Staatsanwalt beim Jugoslawien-Tribunal in Den Haag mitgearbeitet. Direkt nach dem Beginn der Invasion der russischen Streitkräfte in die Ukraine kam ein ehemaliger Kollege auf mich zu und fragte mich, ob ich bereit wäre, die Erfahrungen und Erkenntnisse von damals in die Beratung der ukrainischen Kolleginnen und Kollegen einzubringen.

Sie arbeiten als Generalstaatsanwalt in der Ukraine und dröseln die Schrecken des Krieges auf. Wie muss man sich Ihren Arbeitsalltag vorstellen?
Wir sind ein Team von internationalen Ermittlern, Militärexperten und Staatsanwälten. Wir stehen der dortigen Generalstaatsanwaltschaft beratend zur Seite. Zu unseren Aufgaben gehört die juristische Beratung. Wir trainieren die Kolleginnen und Kollegen in den Grundlagen von Völkerstraftaten. Wir klären mit ihnen Fragen wie: Was sind Kriegsverbrechen? Was ist ein Völkermord? Was sind Tatbestandsnachweise? Wir zeigen den Frauen und Männern, wie man Ermittlungen korrekt durchführt, wie man Zeugen von Verbrechen, aber auch Opfer von sexueller Gewalt vernimmt, ohne sie zu retraumatisieren.

Mit welchem Ziel?
Um später einmal vor Gericht Täter, aber eben auch die Kommando-Ebene sauber anklagen und rechtsstaatlich verurteilen zu können.

Von wie vielen russischen Kriegsverbrechen gehen Sie derzeit aus?
Stand Juni 2024 sind rund 130.000 einzelne Ermittlungsverfahren registriert worden.

Das ist eine wirklich große Anzahl.
Die ukrainischen Kollegen werden im Augenblick von der Masse der Fälle förmlich erschlagen. Da ist ein systematisches Herangehen gefragt. Da müssen Schwerpunkte gesetzt und Fälle zusammengeführt werden.

Was ist Ihre Motivation für diese Sisyphusarbeit?
Es ist eine Antwort auf meine gefühlte Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ich war am 22. Februar 2024 geschockt von diesem Angriff mitten in Europa. Es wollte nicht in meinen Kopf, dass so etwas fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einem Land verbrochen wird, welches selbst 24 Millionen Menschen in den Schrecken des Krieges verloren hat. Dass ich jetzt der ukrainischen Staatsanwaltschaft mit meinem Knowhow zur Seite stehe, gibt den Kollegen dort moralischen Beistand. Sie spüren und erleben: Wir stehen mit dieser Herausforderung nicht alleine da.

Den Opfern ihre Würde zurückgeben

Wem wollen Sie eine Stimme verleihen?
Ganz klar den Opfern dieser völkerrechtswidrigen Annexion. Wir wollen die Geschichten der Opfer erzählen, ihnen ihre Würde und Rechte zurückgeben.

Bestehen da Aussichten auf Erfolg?
Derzeit ist nicht absehbar, welche Täter irgendwann mal vor Gericht stehen werden. Umso wichtiger ist es jetzt, die Taten akribisch festzuhalten, stichfest zu ermitteln, damit die Beweise möglicherweise in späteren Gerichtsverfahren verwendet werden können.

Was sind Ihrer Einschätzung nach die schlimmsten Kriegsverbrechen bislang?
Jedes einzelne Kriegsverbrechen ist schlimm und eines zu viel. Auch wenn man solche Verbrechen nicht miteinander vergleichen kann, so stechen doch vor allem die Verbrechen gegen Kinder (Deportation und planmäßige, langjährige Indoktrination), die systematische sexuelle Gewalt und Folter gegen Zivilisten sowie seit Oktober 2022 die massive und landesweite Zerstörung der zivilen Infrastruktur mit massiven Folgen für die gesamte Zivilbevölkerung heraus.

In Deutschland hat die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht eine Kontroverse ausgelöst, indem sie behauptete, die UN-Menschenrechtskommissarin hätte „immer wieder darauf hingewiesen, auch in diesem Krieg: Kriegsverbrechen werden von beiden Seiten begangen.“ Wie beurteilen Sie das?
Es kommt dabei immer auf den Kontext und die Perspektive an. Auch wenn es in der Ukraine sehr vereinzelt Vorwürfe gegen ukrainische Soldaten gibt, ist doch zu betonen, dass diese Tatvorwürfe in keiner Relation zu den massiven und planmäßigen Kriegsverbrechen der russischen Föderation stehen. Das genannte Zitat kann nur als Relativierung, ja schon fast als Entschuldigung für die russischen Kriegsverbrechen verstanden werden. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel und negiert vollkommen die Geltung des Internationalen Humanitären Völkerrechts.

Beschränkt sich Ihre Arbeit nur auf den Schreibtisch, das Anlegen von Akten – oder begeben Sie sich auch an die Tatorte?
Tatsächlich beschränkt sich meine primäre Arbeit auf die am Schreibtisch, auf das Gespräch mit den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen, das Veranstalten von Trainingskursen, Schulungsreisen und den Erfahrungsaustausch. Persönlich war ich aber auch schon an den Tatorten in Irpin und Butscha. Im Letzteren wurden nach der Rückeroberung durch die ukrainische Armee 458 Leichen gefunden. 419 der Toten trugen Anzeichen, dass sie erschossen, gefoltert oder erschlagen worden waren.

Putin vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal?

Wie bewerten Sie es, dass der Internationale Strafgerichtshof (englische Abkürzung: ICC) Haftbefehl gegen Putin wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine erlassen hat?
Das ist ein echter Meilenstein. Erstmals ist nun ein Haftbefehl gegen einen amtierenden Präsidenten einer der fünf UN-Vetomächte ergangen. Dieser Haftbefehl ist nicht nur ein Appell an die Mitgliedsstaaten des ICC, sondern an die gesamte Welt, weitere Kriegsverbrechen effektiv zu unterbinden und die Täter der strafrechtlichen Verantwortung zuzuführen.

Russland ist jedoch kein Mitglied des Strafgerichtshofes, muss daher dessen Urteile nicht fürchten …
Das ist richtig, aber man darf das politische Zeichen dieser Anklage nicht unterschätzen. 124 Länder dieser Erde signalisieren damit: So nicht, Putin! Und wie wir sehen, schränkt es ja Putin in seiner Reisefreiheit gewaltig ein. Er hätte sicher gerne am BRICS-Gipfel 2023 in Südafrika teilgenommen. Doch da ihm dort die Verhaftung drohte, reiste er nicht an.

Werden wir Putin jemals auf der Anklagebank in Den Haag sehen?
Im Moment ist das nicht absehbar, doch ich sage den Ukrainern mit meiner Erfahrung durch die Aufarbeitung des Jugoslawienkrieges: 1993 hätte auch niemand gedacht, dass einmal der serbische General Ratko Mladić angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt wird, Politiker wie Radovan Karadžić oder Slobodan Milošević sich für ihre Taten vor Gericht verantworten müssen. In zehn, fünfzehn Jahren kann sich der politische Wind auch drehen.

Sie hoffen auf einen „Wind of change“?
(leidenschaftlich) Ja! Das wäre ja nicht das erste Mal in der Weltgeschichte.

Sie wühlen in den Abgründen des Menschseins. Was macht das Elend mit Ihnen als Mann?
(Schweigen) Dieser Frage darf ich mich nicht jeden Tag stellen. Da würde ich verzweifeln. Es ist manchmal schon schwer zu verkraften, wozu Menschen in der Lage sind. Ja, es gibt Verbrechen, die mich als Staatsanwalt an der Menschheit verzweifeln lassen, doch die entscheidende Frage ist: Lasse ich mich von dem Bösen besiegen oder setze ich dieser Entmenschlichung Gutes entgegen? Ich will mich nicht davon abbringen lassen, mich für Gerechtigkeit, Wahrheit, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Frieden einzusetzen.

Wie gehen Sie mit Emotionen um? Müssen Wut und Trauer außen vor bleiben, hinter den trockenen Paragrafen verschwinden? Schießen Ihnen auch mal Tränen in die Augen?
Ich bin Ehemann, Vater, Mensch. Auch mich packt manchmal das Entsetzen, der Schmerz, die Trauer. Vor Kurzem sah ich mir den mit einem Oscar ausgezeichneten Dokumentarfilm „20 Tage in Mariupol“ an. Dieser Film lässt mich nicht kalt, da musste ich schlucken, mir standen Tränen in den Augen. Das Entscheidende für uns Juristen ist jedoch: Es gilt, sich im Blick auf die Verbrechen den eigenen Emotionen zu stellen, aber dann doch professionell zu handeln. Dazu gehört es dann auch, einen russischen Soldaten als Jurist freizusprechen, wenn diesem die Taten nicht nachgewiesen werden können.

Wo der Glaube an Grenzen stößt

Die Gewalttaten, in denen Sie ermitteln, sind zu wie viel Prozent männlich?Nahezu 100 Prozent. Es wäre in der Tat spannend zu sehen, was passieren würde, wenn mehr Frauen unter den Streitkräften oder auch in den politischen Führungspositionen wären. Ich könnte mir vorstellen, dass Auseinandersetzungen da nochmals einen anderen Weg nähmen.

Was gibt Ihnen Kraft und was hilft Ihnen, im ständigen Umgang mit dem Grausamen positiv zu bleiben, die Lebensfreude zu behalten?
Ganz klar der Kontakt mit den ukrainischen Kollegen. Sie melden mir zurück: Deine Präsenz, deine Unterstützung hilft uns, nicht aufzugeben, zeigt uns, dass wir diesen Kampf nicht alleine führen müssen. Helfen tut mir aber auch das gelegentliche Zusammentreffen mit den Opfern. Da erlebe ich eine große Dankbarkeit, weil wir ihnen eine Stimme geben. Natürlich kann ich das erfahrene Leid nicht wiedergutmachen oder die toten Angehörigen zurückbringen. Doch ich kann sie ihre Geschichte erzählen lassen, die dann hoffentlich einmal vor Gericht die Täter auf die Anklagebank bringt. Gerade in der Aufarbeitung des Jugoslawienkrieges habe ich unheimlich starke Frauen erlebt, die es als unendlich befreiend erlebt haben, als die Täter auf der Anklagebank Platz nehmen mussten und sie der Weltöffentlichkeit ihre leidvollen, dokumentierten Geschichten erzählen konnten. Ansonsten wende ich mich auch schönen Dingen wie Sport und Kultur zu, genieße Zeiten mit der Familie, gehe in die Kirche.

Sie sind Christ, Prädikant in der Evangelischen Kirche. Bohrt in Ihnen nicht manchmal trotzdem auch die Frage nach dem Leid?
Auch mein Glaube stößt hier und dort an Grenzen. Es gibt viele Antworten auf die alte Frage: „Wie kann Gott das alles zulassen?“ Doch allesamt lassen sie mich unbefriedigt zurück. Ja, ich kenne das Bohren im Blick auf das Leid. Mir tut es gut, diese Not, die aufsteigende Wut an Gott abzugeben, ihm im Gebet zu sagen: Herr, erbarme dich!

Sie wollen nicht aufgeben. Wann hat sich die Arbeit von Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann gelohnt?
Ich freue mich über jeden kleinen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit. Bei der Arbeit, die ich jetzt tue, sind die Ergebnisse leider nicht so schnell sichtbar. Was ich jedoch bereits sehe, ist eine positive Veränderung der Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine. Ich sehe, dass die Gespräche, Fortbildungen und Schulungen Früchte tragen. Und klar: Die Ermittlungsarbeiten basieren (noch) auf Hoffnung. Doch ich bin der festen Überzeugung: In einigen Jahren werden wir Generäle und vielleicht auch Politiker aus Moskau auf der Anklagebank sitzen haben.

Herzlichen Dank für das eindrückliche Gespräch!
Rüdiger Jope ist Chef-Redakteur des Männermagazins MOVO.