Mehrheitlich Männer protestierten montags in der Stadt Dresden gegen eine vermeintliche Islamisierung des christlichen Abendlandes. Im Stadtrat und in der Sauna tritt Uwe Heimowski mutig der einfachen Schwarz- Weiß-Weltsicht entgegen.
Gänsehaut. Anders kann ich es nicht beschreiben. Bis heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich die Fernsehbilder von 1989 sehe. Die friedlichen Montagsdemonstranten auf den Straßen von Leipzig, Berlin oder Dresden, die mutig „Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!“ skandieren. Sie machen klar: Wir lassen uns nicht länger überwachen, wir nehmen Medienpropaganda, Wahlfälschungen, Mauertote und eine ideologisch bornierte Politikerkaste nicht länger hin. Die Bürger der DDR forderten ihre demokratische Rechte ein.
Ein charismatischer Agitator mobilisiert die Massen
25 Jahre später. Ein anderer, ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich sehe Bildern aus Dresden. Zehntausende sind dem Aufruf der „Pegida“ gefolgt und machen ihrem Unmut gegen eine (vermeintliche) Islamisierung des christlichen Abendlandes Luft. Auch sie demonstrieren friedlich, auch sie rufen: „Wir sind das Volk!“. Nein, ich will nicht in eine pauschale Schelte abgleiten. Da sind nicht nur NPD-Kader und Anhänger der „Neuen Rechten“ auf den Straßen. Menschen haben Sorgen, und diese Sorgen müssen ernst genommen werden. Die Politik darf sich einer Debatte über geregelte Zuwanderung nicht verschließen. Und doch läuft es mir kalt über den Rücken. Ich frage mich: Wem folgen die Menschen? Der zurückgetretene Initiator der Pegida-Demos ist Lutz Bachmann: vorbestraft; einschlägig bekannt in der braunen Szene. Ein charismatischer Agitator, dem es gelingt, Massen zu mobilisieren. Darunter Christen, Mütter und Väter, unbescholtene Bürger. Was geschieht da gerade? Ist es „dem Volk“ egal, wer es auf die Straßen führt?
Neulich in Gera: Die Stadt ist quasi pleite. Ein Haushaltssicherungskonzept musste beschlossen werden. Die Einschnitte sind sehr schmerzhaft. Auch an den KiTa-Gebühren muss die Stadt sparen. Eine Erhöhung der Gebühren um 20 bis 40 Euro auf den Thüringer Durchschnitt steht im Raum. Der Stadtelternbeirat macht dagegen mobil. Die Partei Die Linke beantragt eine aktuelle Stunde im Stadtrat. Weit über tausend Menschen, Eltern und Kinder, demonstrieren mit einem Laternenumzug auf dem Marktplatz. Das ist ihr gutes Recht. Und für die Kinder obendrein ein willkommenes zweites St. Martinsfest. Doch dann: Der Rathausaal platzt aus allen Nähten. Die Debatte ist emotional. Buhrufe für die Stadtverwaltung. Ein NPD-Stadtrat wettert gegen eine Erhöhung der Gebühren. Donnernder Applaus von den Rängen. Ich bin irritiert. Ist es egal, wer hier spricht, solange er sagt, wonach den Leuten „die Ohren jucken“? Ist das „das Volk“?
Noch ein Beispiel: Ein Abend in der Sauna. Wir warten auf den Aufguss, jemand erzählt einen Witz und erntet Gelächter. Gleich setzt er noch einen drauf: „Ein Neger geht mit seinem Affen zur Kaufhalle (Supermarkt). Weil er das Tier nicht mit hineinnehmen darf, bittet er eine junge Frau, einen Moment aufzupassen. Sie wartet vor der Tür, als ein Bekannter vorbeikommt. Er fragt verwundert: ‚Wo hast du denn den Affen her?‘ – ‚Der ist von dem Neger da.‘ Der Bekannte schüttelt den Kopf. ‚Hättest du dir den nicht wegmachen lassen können?‘“
Dem Schweigen folgt ein mutiges Wort
Brüllendes Lachen. Ich bin schockiert, aber schweige. Ist das „das Volk“? Aufguss, Pause zum Einreiben mit Salz, zurück in die Sauna. Ein Moment Stille, ich melde mich zu Wort: „Entschuldigung, aber ich möchte noch etwas zu dem Witz von vorhin sagen. Der war rassistisch und menschenverachtend. Ich möchte mich hier entspannen, bitte lassen Sie das.“ Ein Ruck geht durch die Leute. Ein paar beginnen mich zu rüffeln, einer sagt laut: „Bitte lasst ihm seine Meinung“. Jemand flüstert von hinten: „Danke!“ Auch der Bademeister springt mir bei, erklärt, dass Rassismus an diesem Ort keinen Platz habe. Die Atmosphäre verändert sich. Es hat jemanden gebraucht, der den Mund aufmacht, der Zivilcourage zeigt. Ich tue das zu selten, immerhin diesmal. Und Teile der Menschen sind mir gefolgt. Zwar sah es für einen Moment so aus, als sei „das Volk“ komplett auf Seiten des Witzeerzählers. Aber das war nicht so. Die lautstarke Masse muss nicht unbedingt die tatsächliche Mehrheit sein.
1989 war wirklich das Volk auf der Straße. In Dresden ist es „nur“ eine Gruppe. Gewiss: Eine große und laute Gruppe, aber es ist eben nicht die Mehrheit der Bürger. Sie reklamieren den Slogan der Montagsdemonstranten „Wir sind das Volk!“ für sich. Zu Unrecht. Pegida ist nicht das Volk. Und schon gar nicht das Volk, das auf Leipzigs Straßen für Freiheit demonstrierte: In Dresden nämlich geht es um die Einschränkung von Freiheit.
Schnelle und einfache Antworten waren gestern
Eine Frage aber bleibt, eine grundsätzliche Anfrage an die Politik: Warum gehen immer weniger Bürger zur Wahl, dafür aber immer mehr auf die Straßen? Wie kommt es zu dieser neuen APO (Außerparlamentarischen Opposition)? Sei es in Dresden gegen die Islamisierung des Abendlandes, sei es in Stuttgart gegen den Neubau des Bahnhofs, sei es in Gera gegen eine Erhöhung der KiTa-Gebühren. Was geschieht da gerade? Schnelle Antworten habe ich nicht. Aber einen Anspruch: Keine Gruppe darf sich über andere hinweg „das Volk“ nennen. Und: Zwischen „denen da unten“ und „denen da oben“ darf es keine Spaltung geben. Wir sind nicht nur das Volk, sondern eben auch ein Volk.
Uwe Heimowski (50) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Frank Heinrich, Stadtrat, Vater von fünf Kindern, Ehemann und Gemeindereferent in der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde Gera.