SERIE: POLITIKBETRIEB VON INNEN
Frank-Walter Steinmeier und die Nächstenliebe
Es wird November. Der Winter steht vor der Tür, die Nächte werden empfindlich kalt. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, schreibt Rainer Maria Rilke in seinem bekannten Gedicht „Herbsttag“. Wie Recht er hat. Wer in der kalten Jahreszeit kein Haus hat, keine Wohnung, kein Obdach – wo kommt der unter? Im Behelfsquartier oder in einer Notunterkunft. Oder nirgends: Viele Obdachlose bleiben auf der Straße.
Und das kann lebensgefährlich sein. Als 1984 in Berlin ein Mann auf der Straße erfriert, wird die Stadtmission aktiv: Sie setzt einen Kältebus ein, der direkt zu den Obdachlosen fährt. Mitarbeiter fahren zu den bekannten Plätzen, an denen Obdachlose leben, oder nehmen Hinweise aus der Bevölkerung auf, die einen Menschen auf der Straße gesehen haben. Zwei Busse der Stadtmission sind Nacht für Nacht in Berlin unterwegs. Von November bis März, von neun Uhr abends bis drei Uhr morgens. Sozialarbeiter und ehrenamtliche Helfer bieten heißen Tee an, versorgen die Menschen mit warmer Kleidung und Decken oder bringen sie, wenn gewünscht, zu einer Notschlafstelle.
Obdachlosigkeit ist bis heute ein gravierendes Problem in Deutschland. Das wäre einen eigenen Artikel wert. Hier und heute soll es aber um einen prominenten Unterstützer der Stadtmission gehen: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
2015 begleitete der damalige Außenminister die Streetworker im Kältebus für eine Nacht. Er schenkte Tee aus, sprach mit Obdachlosen. Sein Besuch kam nicht von ungefähr und war viel mehr als ein PR-Gag. Schon einige Jahre davor hatte er die Bahnhofsmission besucht und kräftig beim Broteschmieren geholfen. Auch in seinem Brandenburger Wahlkreis engagiert sich Steinmeier für die Arbeit der Notunterkunft.
Obdachlosigkeit beschäftigt den SPD-Mann seit Langem. Seine 1991 abgeschlossene Promotion widmete der Jurist dem Thema: „Bürger ohne Obdach – Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum: Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit.“
KEIN THEORETIKER
Steinmeier beließ es nicht bei der Theorie. Bei seinen Besuchen macht er sich ein eigenes Bild und packt tatkräftig mit an. Oder er greift in die Tasche: Im vergangenen Jahr wurde dem Außenminister in der Schweiz der „Europapreis für politische Kultur“ der Hans-Ringier Stiftung verliehen. Dotiert ist diese renommierte Auszeichnung mit 50.000 Euro. Steinmeier stiftete das Geld komplett an die Berliner Bahnhofsmission (übrigens ohne das ganz große Presse-Bohei). Ein wichtiger Baustein für den Bau eines neuen Beratungs- und Veranstaltungszentrums, das Anfang 2018 eröffnet werden soll. Benötigt wird es wegen der gestiegenen Zahl obdachloser Menschen.
Eher ins Private gehört Steinmeiers Nierenspende. Dennoch möchte ich es erwähnen, denn hier zeigt sich eine Haltung: Als seine Ehefrau Elke Büdenbender 2010 schwer erkrankte und eine Transplantation benötigte, zog sich der Politiker für einige Wochen von den Amtsgeschäften zurück und spendete ihr eine seiner Nieren. 2015 kommentierte er den Jahrestag der Transplantation: „Wir feiern jetzt beide gemeinsam den fünften Geburtstag.“
Warum schreibe ich das alles? Steinmeier ist kein Heiliger. Auch kein perfekter Politiker. Und für das Amt des Bundespräsidenten war er der politische Kompromisskandidat. Aber mit seiner persönlichen Integrität und Glaubwürdigkeit hat er die Möglichkeit, diesem Amt die nötige Würde zu verleihen.
Der Bundespräsident ist der erste Mann im Staat, seine Frau ist die „First Lady“. An ihnen richten sich viele Bürger aus. Die Macht des Präsidenten in Deutschland ist nach den Erfahrungen des Dritten Reiches bewusst beschränkt worden. Anders als etwa in den USA, in Russland oder der Türkei, wo die Präsidenten die Regierungsgeschäfte führen.
DIE MACHT DES WORTES
Einem deutschen Staatsoberhaupt bleibt vor allem die Macht des Wortes. Dessen Bedeutung aber ist nicht zu unterschätzen. Das haben viele von Steinmeiers Vorgängern eindrucksvoll gezeigt. Denken wir an Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai, in der er das Ende des Zweiten Weltkriegs einen „Tag der Befreiung“ nannte und damit einen neuen Umgang mit der deutschen Geschichte initiierte. Oder nehmen wir Roman Herzogs bekannte Rede vom „Ruck“, der durch Deutschland gehen müsse, und mit der er eben diesen Ruck auch auslöste.
Christen wissen: Das Wort ist mächtig. Worte schaffen Wirklichkeit. Worte prägen Kultur. Luthers Wortgewalt ist das eindrücklichste Beispiel. Vor allem aber wirkt das Wort, wenn es Fleisch wird. Wenn es Gestalt annimmt. Wenn Worte nicht Gerede sind, sondern aus Worten auch Taten werden.
Ein Bundespräsident ist ein Vorbild. Er hat die Macht, Worte zu wählen, Themen zu setzen – und er hat die Pflicht, sie zu verkörpern. In Tat und Wahrheit. Steinmeier tut das. Ihm gebührt dafür Anerkennung. Respekt. Solche Vorbilder brauchen wir. Heute mehr denn je.
Uwe Heimowski (52) ist ehrenamtlicher Stadtrat in Gera. Er ist verheiratet mit Christine und Vater von fünf Kindern. Seit dem 1. Oktober 2016 arbeitet er als Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz beim Deutschen Bundestag in Berlin.